Deutscher Gewerkschaftsbund

02.08.2016

Automatisierung versus Aufwertung

Die Folgen der Digitalisierung für einfache Industriearbeit

Die Digitalisierung macht einfache Arbeit in der Industrie überflüssig – das ist eine weit verbreitete Annahme. Widerspruch kommt vom Industriesoziologen Hartmut Hirsch-Kreinsen. Einfacharbeit verschwindet nicht, aber sie wird sich grundlegend ändern, sagt er und gibt einen Überblick über mögliche Entwicklungstendenzen.

Digitalisierung und einfache Industriearbeit

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Über kurz oder lang werde Industrie 4.0 dazu führen, dass es kaum noch Nachfrage für einfache Tätigkeiten geben wird – von diesem Szenario gehen verschiedene Studien aus. Demnach würde es in wenigen Jahrzehnten keine Jobs mehr für gering qualifizierte Arbeiterinnen und Arbeiter in der industriellen Produktion geben. Denn diese Tätigkeiten – so die Prognosen – könnten auf Grund ihres strukturierten und routinehaften Charakters relativ problemlos in Computerprogramme übersetzt und automatisiert werden. Dazu gehören etwa die manuelle Bedienung spezialisierter Werkzeugmaschinen, die kurzzyklische Maschinenbeschickung, repetitive Verpackungsarbeiten oder monotone Überwachungstätigkeiten sowie sehr viele Lager- und Kommissionieraufgaben im Logistikbereich.

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Gesellschaftliche Integration und Stabilität in Gefahr

Die Folgen dieser Entwicklung wären – so die gesellschaftspolitische Befürchtung – nicht nur hohe Arbeitsplatzverluste für Beschäftigte, die einfache Arbeit leisten, sondern auch eine insgesamt steigende Arbeitslosigkeit von niedrig qualifizierten Erwerbstätigen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen würde weiter wachsen. Langfristig würden dadurch gesellschaftliche Integration und Stabilität bedroht. Sollte dieses Szenario Realität werden, müsste sich die staatliche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zudem mit schwer zu bewältigenden Herausforderungen auseinandersetzen. Doch deckt sich dieser Blick in die Zukunft mit den Fakten?

Keine bruchlose und widerspruchsfreie Entwicklung

Zweifel sind angebracht. In der Regel fußen die Prognosen über die Folgen für Arbeit auf Schätzungen der denkbaren Potenziale digitaler Technologien. In welchem Umfang aber etwa der Einsatz neuer Robotersysteme tatsächlich erfolgen wird, spielt kaum eine Rolle. So betont auch die sozialwissenschaftliche Technik- und Arbeitsforschung, dass die Entwicklung und die Diffusion neuer Technologien alles andere als bruchlos und widerspruchsfrei verlaufen wird. Soziale Folgen sind daher kaum allein aus den Potenzialen der neuen Technologien abzuleiten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass zwischen der Implementation technischer Systeme und den Konsequenzen für Arbeit ein komplexer, von vielen ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren beeinflusster Zusammenhang besteht.

Begrenzte Substitution – struktureller Wandel von Einfacharbeit

Daher kann keinesfalls ein genereller Wegfall von industrieller Einfacharbeit angenommen werden. Vielmehr werden die absehbaren Arbeitsplatzverluste in diesem Beschäftigungssegment wohl recht moderat verlaufen. Zu diesem Schluss kommt auch eine aktuelle Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zum einen ist mit positiven Wachstums- und Beschäftigungseffekten durch die Digitalisierung zu rechnen, die das gesamte Beschäftigungsniveau anheben. Zum anderen bleibt einfache Arbeit ganz generell in einem komplexen arbeitsteiligen Wirtschaftssystem strukturbedingt erhalten. Fest steht, dass sich die Formen einfacher Industriearbeit unter dem Einfluss der Digitalisierung teilweise deutlich verändern werden. Aus der Sicht der Arbeitsforschung lassen sich verschiedene Entwicklungspfade von Einfacharbeit prognostizieren:

Automatisierung von Einfacharbeit

Der Technologieeinsatz führt zur Automatisierung von Einfacharbeit – so lässt sich der erste Entwicklungspfad skizzieren. Die Folgen für die Arbeitswelt sind zwiespältig: Einerseits wird danach einfache Arbeit in vielen Bereichen von Produktion und Logistik substituiert, wie dies vielfach im Kontext der Industrie 4.0-Debatte prognostiziert wird. Betroffen sind einfache Tätigkeiten, die sich durch einen hohen Routinecharakter, begrenzte Handlungskomplexität, geringe Anforderungen an Erfahrungswissen auszeichnen – das gilt etwa für Teileeinleger, Schweißer oder Karosseriewerker. Andererseits aber verbindet sich mit diesem Entwicklungspfad die Chance, teilweise extrem belastende und inhumane Arbeitsplätze technologisch zu ersetzen. Dies trifft beispielsweise für Arbeitsplätze in der Automobilmontage oder der Schmiedeindustrie zu.

Aufwertung einfacher Industriearbeit

Ein zweiter Entwicklungspfad ist die Aufwertung einfacher Industriearbeit. So erhöht sich durch den Einsatz intelligenter Robotersysteme das Niveau der Prozessautomatisierung. Es findet eine funktionale und zeitliche Entkopplung der Arbeit vom technologischen Prozess statt. Diese Entkopplung kann für Maßnahmen genutzt werden, um Arbeit aufzuwerten oder anzureichern, etwa indem die Beschäftigten selbstständig Anlagen warten und reparieren. Zum zweiten steigen Umfang und Reichweite der verfügbaren Daten über den Prozessablauf. Die Beschäftigten können dadurch valide und stabile Informationen sowie einen größeren Überblick über den Prozess insgesamt gewinnen. Außerdem können lernunterstützende, sogenannte adaptive, lernende Assistenzsysteme für eine gezielte Qualifizierung der Beschäftigten „on the job“ genutzt werden. Die meisten Arbeitsplätze bleiben in diesem Szenario erhalten, jedoch verschwindet Einfacharbeit zugunsten flexibler und höher qualifizierter Arbeitsformen.

Digitalisierte Einfacharbeit

Es entstehen aber auch neue Formen von Einfacharbeit: Die neue digitalisierte Einfacharbeit beschreibt der dritte Entwicklungspfad. Tätigkeiten auf niedrigem Qualifikationsniveau werden neu strukturiert. Dies wird beispielsweise durch den Einsatz von Assistenzsystemen erreicht, die zu einer Optimierung dieser Tätigkeiten führen. Qualifizierte Tätigkeiten werden dagegen durch ihre computergestützte Modellierung und Formalisierung vereinfacht. Es entstehen neue Einfacharbeiten, die eine „Automatisierungslücke“ schließen, zum Beispiel Tätigkeiten der Überwachung, der Beschickung oder des Datenhandlings.

Strukturkonservative Einfacharbeit

Ein vierter Entwicklungspfad kann als strukturkonservative Einfacharbeit bezeichnet werden. Hier bleiben die tradierten Arbeitsformen erhalten. Es handelt sich dabei zumeist um Arbeitsprozesse in mittleren und kleinen Unternehmen mit begrenzten Ressourcen und Know-how, die etwa in der Metall- und der Kunststoffindustrie oder dem Ernährungsgewerbe standardisierte Produkte herstellen. Diesen Betrieben gelingt es auch, mit einem niedrigen Grad an Digitalisierung weiterhin effizient zu arbeiten. Dort herrscht ein arbeitsorganisatorisches Muster, das als klassischer Taylorismus bezeichnet werden kann. Dieser technisch-organisatorische Konservativismus ist oftmals begleitet von einem großen Maß an Skepsis maßgeblicher Betriebsvertreter gegenüber den Versprechungen von Industrie 4.0.

Arbeitspolitischer Zielkonflikt

Diese verschiedenen Entwicklungspfade implizieren für die Arbeitspolitik einen grundlegenden Zielkonflikt:
•    Einerseits liegt es nahe, auch im Segment von Einfacharbeit „gute Arbeit“ zu fördern. Erreicht werden kann dies durch die Automatisierung inhumaner Arbeit und die Aufwertung einfacher Arbeit durch gezielte Qualifizierung und Kompetenzentwicklung.
•    Andererseits besteht aber die sozial- und arbeitsmarktpolitische Notwendigkeit, industrielle Einfacharbeit – in normativer Hinsicht „schlechte“ Arbeit – zu stabilisieren und damit Beschäftigungsmöglichkeiten für eine wachsende Zahl geringqualifizierter Arbeitskräfte zu erhalten und möglicherweise auch zu schaffen.

Generell ist daher eine Arbeitspolitik notwendig, die durch differenzierte Maßnahmen diesem Zielkonflikt Rechnung trägt. Vor allem muss die dominierende Perspektive auf „Hightech-Arbeit“ unbedingt erweitert werden. Hier gilt es, verstärkt traditionelle, wenig technologieintensive Arbeitsprozesse der Einfacharbeit mit in den Blick zu nehmen.


Der vorliegende Beitrag von Hartmut Hirsch-Kreinsen basiert auf einer Expertise für die Friedrich-Ebert-Stiftung über die Entwicklung industrieller und digitalisierter Einfacharbeit.


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Kurzprofil

Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen
Hartmut Hirsch-Kreinsen lehrte bis 2015 Wirtschafts- und Industriesoziologie. Er ist Mitglied in verschiedenen innovations- und arbeitspolitischen Gremien.
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