Deutscher Gewerkschaftsbund

11.08.2016

Für eine unabhängige türkische Justiz

Hans-Ernst Böttcher, ehemaliger Präsident des Landgerichts Lübeck, warnt: Der türkische Präsident Erdogan will die unabhängige Justiz endgültig loswerden. Europäische RichterInnen rufen zur Solidarität mit ihren türkischen Kolleginnen und Kollegen auf.

Justiz

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Unter all den Schreckensnachrichten aus der Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli 2016 geht in den Medien eines fast unter: Präsident Erdogan setzt in verschärfter Form seine Versuche fort, sich einer unabhängigen Justiz zu entledigen.

Unabhängige Richterinnen und Richter sind nicht erwünscht

Rund 3000 Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte (von insgesamt etwa 15 000) sind suspendiert, viele hundert wurden festgenommen und sitzen in Untersuchungshaft. Oft wird ihnen unterstellt, die Gülen-Bewegung zu unterstützen. Es trifft vor allem Kolleginnen und Kollegen, die der unabhängigen Richterorganisation YARSAVangehören. YARSAV ist den türkischen Behörden auch deshalb ein Dorn im Auge, weil sie zur europäischen Richtervereinigung MEDEL (Europäische Richter für Demokratie und Grundrechte) gehört. MEDEL wurde 1985 gegründet – unter Beteiligung der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, organisiert in der Gewerkschaft ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, heute: ver.di). MEDEL hat heute überall in Europa Mitglieder – von Portugal bis Georgien.

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Die türkische Regierung sähe es wohl lieber, wenn alle Richterinnen und Richter in einem einheitlichen, staatsfrommen Verband wären. Sie fürchtet die unabhängigen Richter aus vielen Gründen: wegen ihres freien Wortes und ihrer freien Organisation; wegen der Entscheidungsmacht, die ihnen durch die Gewaltenteilung und die Verfassung anvertraut wurde, und wegen ihrer europäischen Vernetzung. In Zeiten von Internet und E-Mails verbreitet sich jede widerrechtliche Handlung des Regimes Erdogan unter den Kollegen in ganz Europa in Echtzeit.

Widerstand aller Demokraten gefordert

Wenn Erdogan die Unabhängigkeit der Justiz antastet, muss das den Widerstand aller Demokraten herausfordern: Wir haben aus der Geschichte gelernt, dass eine unabhängige dritte Gewalt im Staate erforderlich ist, um die Bürgerrechte zu schützen und gegebenenfalls überbordende Macht der Regierung einzuschränken. Es ist ein enormer zivilisatorischer Fortschritt, wenn die staatliche Macht diese Gewaltenteilung anerkennt und sich an die Regeln hält. Nach wie vor bleibt es aber eine Versuchung für die Mächtigen, die Prinzipien der demokratischen Gewaltenteilung zu umgehen.

Besonders perfide sind die Maßnahmen der türkischen Regierung und vor allem des Präsidenten Erdogan gegen die Richterschaft. Sie zielen darauf, die einzelnen Träger der Dritten Gewalt in ihrer individuellen Existenz persönlich zu treffen. Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte werden suspendiert und inhaftiert, ihr Eigentum konfisziert. Das trifft nicht nur die Individuen allein, sondern auch ihre Familien. Aus den erschütternden E-Mails unserer türkischen Kolleginnen und Kollegen und ihrer Angehörigen wissen wir, dass sie absichtsvoll höchster Angst und Existenznot ausgesetzt werden.

Wir brauchen Öffentlichkeit und Solidarität

Unmittelbar nach dem Putsch vom 15. Juli haben die Richterkolleginnen und -kollegen in ganz Europa begonnen, die Welt über die Angriffe auf die unabhängige und freie Justiz aufzuklären und Solidarität mit den türkischen Kolleginnen und Kollegen zu fordern. Zu den ersten öffentlichen Verlautbarungen gehört die Erklärung der in ver.di organisierten RichterInnen vom 19. Juli. Sie wird von der ver.di-Gesamtorganisation getragen und enthält auch eine Erklärung von Wolfgang Pieper. Mittlerweile haben fast alle deutschen Richter- und Anwaltsorganisationen Erklärungen zur Situation in der Türkei abgegeben. Anfang August demonstrierten vor dem Bundeskanzleramt in Berlin Juristen- und Menschenrechtsorganisationen, darunter die deutschen MEDEL-Gruppen.

Europäische Richter solidarisch mit den türkischen Kollegen

Auch in anderen europäischen Staaten und vor allem auf europäischer Ebene machen sich die RichterInnen gemeinsam stark für ihre türkischen KollegInnen. Der europäische Dachverband der eher traditionellen Richterorganisationen AEM (darunter der Deutsche Richterbund, DRiB) und MEDEL haben sich zu einer Aktionseinheit, einer Plattform, zusammengeschlossen. Gemeinsam mit dem europäischen Verband der Verwaltungsrichter und der niederländischen Stiftung „Richter für Richter“ treten sie für die türkischen KollegInnen und für eine unabhängige türkische Justiz ein. Dazu stellen sie europaweit Öffentlichkeit her und nehmen die europäischen Institutionen in die Pflicht – ebenso wie den Europarat, dessen Mitglied die Türkei ist, und der über die EU-Mitgliedstaaten hinaus wirkt..

Andauernde Einschüchterungskampagne

Für die europäischen Richterinnen und Richter sind die Ereignisse nach dem 15. Juli Teil einer seit langem andauernden Einschüchterungs- und Repressionskampagne gegen die Repräsentanten der unabhängigen Justiz in der Türkei. Die Plattform mahnt die Türkei, „europäische Werte und Standards im Blick“ zu behalten.

Ihre Forderungen lauten:

  • Freiheit für die inhaftierten Richter
  • Zugangsrecht für internationale kollegiale Besuchskommissionen in Haftanstalten und bei Gerichtsterminen
  • Aufhebung der Suspendierungen und der Konfiszierungen
  • Untersuchung der Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz der Türkei vor und nach dem 15. Juli 2016 durch eine vom Parlament eingesetzte Kommission, der Menschenrechtsexperten angehören.

Weitere Informationen:

  • Website von MEDEL: Unter dem Menüpunkt „Situation in Turkey“ finden sich Infos und Stellungnahmen aus ganz Europa; unter anderem eine Erklärung des Netzwerks der Präsidenten der Obersten Gerichtshöfe in Europa
  • Website von „verdikt“, der Zeitschrift der in ver.di organisierten Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. In der Ausgabe 1/2016 vom Mai diesen Jahres beschreibt Dragana Boljevic in ihrem Bericht „Nicht nur JournalistInnen werden in der Türkei verfolgt“ die politische Situation in der Türkei.

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Leser-Kommentare

KOMMENTARE

Markus schrieb am 8. September 2016 um 11:36 Uhr:

Bevor man eine unabhängige Justiz bei anderen fordert sollte man sich erst mal an die eigene Nase fassen. Das heißt das es in Deutschland auch keine unabhängige Justiz gibt. Denn die Staatsanwälte sind dem Justizminister weisungsgebunden. Solange das nicht geändert wird kann man in Deutschland nicht von Rechtstaatlichkeit sprechen. Und das Bundesverfassungsgericht wird auch noch von der Politik besetzt.
Man man sind rechtstaatlich, ha ha

GraefinzuWolffenstein schrieb am 5. September 2016 um 15:01 Uhr:

Böttcher verlangt zu Recht Solidarität mit den Opfern der durch den Despoten Erdogan herbeigeführten "Säuberung" in der türkischen Justiz. Ein Staat, der keine unabhängige Justiz mehr kennt, kann weder als Rechtsstaat bezeichnet werden noch ist ein solcher Staat jemals in der Lage, Mitglied einer diese Werte propagierenden Gemeinschaft wie der Europäischen Union zu werden. So weit, so gut. Das Plädoyer von Böttcher wäre aber überzeugender, wenn er auch die hierzulande praktizierte Vorstellung von einer unabhängingen Justiz deutlicher und bestimmter in den Blick nähme. Sind Böttcher etwa die vielfältigen Gängelungsversuche der Justizverwaltungen in der Bundesrepublik Deutschland auf Richter völlig unbekannt ? Weiß er nichts davon, wie durch Vergabe oder auch Nichtvergabe von sächlichen Mitteln, durch Beförderungen, durch massive und gezielte Eingriffe in die Rechtsprechung einzelner gerichtlicher Abteilungen, durch die Disziplinierung "unbotmäßiger" Richter durch das Disziplinar- und Strafrecht zunehmend in die richterliche Unabhängigkeit eingegrifen wird ? Weiß er von allen diesen Dingen tatsächlich gar nichts ? Das wäre bei einem ehemaligen Präsidenten eines Landgerichts doch recht unwahrscheinlich. So richtig es ist, gegen die skandalösen Vorgänge in der Türkei Front zu machen, darf doch keineswegs vergessen werden, daß auch und gerade die gegenwärtige Verfaßtheit der Justiz hierzulande es keineswegs gestattet, von einer ubiquitären "richterlichen Unabhängigkeit" zu sprechen oder sollte Böttcher vielleicht nur die Unabhängigkeit von Obergerichten meinen ?

Und Ihre Meinung? Diskutieren Sie mit.


Kurzprofil

Hans-Ernst Böttcher
Hans-Ernst Böttcher war Präsident des Landgerichts Lübeck und ist Mitbegründer der Europäischen Vereinigung MEDEL (Europäische Richter für Demokratie und Grundrechte).
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