Deutscher Gewerkschaftsbund

22.01.2013

Wie Europa aus der Krise kommt

Geschäft im Süden

revanche / photocase.com

Angela Merkel wählte für ihre diesjährige Neujahrsansprache eine besondere Kunstform: die heldenhafte Einstimmung auf schwere Zeiten. Das wirtschaftliche Umfeld werde "nächstes Jahr nicht einfacher, sondern schwieriger. ... Die Krise ist noch längst nicht überwunden." Davor schon hatte sie nach dem EU-Gipfel Mitte September gesagt: "Wir müssen auch im nächsten Jahr...eher mit sehr kleinen Wachstumsraten, in einigen Ländern sogar mit negativem Wachstum rechnen. Wir müssen weiter mit sehr, sehr hoher Arbeitslosigkeit rechnen."

Die pathetische Ankündigung schwerer Zeiten ist eine altgediente rhetorische Figur, deren klassische Version die legendäre "Blood, Sweat & Tears"-Rede von Winston Churchill bildet ("Ich habe Euch nichts zu versprechen außer Blut, Schweiß und Tränen"). Churchill stand in einem Krieg, der seinem Land aufgezwungen wurde, der ihm und den britischen Bürgern als gerechte Sache erschien, die Opfer rechtfertigte. Frau Merkel dagegen spricht von einem "wirtschaftlichen Umfeld", das auch "nächstes Jahr nicht einfacher, sondern schwieriger" wird - als wäre das eine objektive, irgendwie unabwendbare Sache, und als hätte sie damit überhaupt nichts zu tun.

Dabei ist natürlich der verallgemeinerte Austeritätskurs im Zusammenspiel mit Bail-Out-Programmen, die Banken und vermögende Eliten schonen und den einfachen Bürgern die Zeche zahlen lassen, die entscheidende Ursache dafür, dass es 2013 in Europa weiter bergab gehen wird. Die schweren Zeiten, vor denen Merkel warnt, sind vor allem deshalb schwere Zeiten, weil Europa unter dem Diktat deutscher Konservativer die falsche Politik macht. Kurzum: Merkel warnt vor den schweren Zeiten, die sie selbst herbeiführt.

Mehr als 6 Jahre Rezession

Die Eurozone als ganzes befindet sich längst schon wieder in einer Rezession. Die Wirtschaftsleistung von Euro-Europa schrumpft. Die angeschlagenen Euro-Länder, vor allem im Süden, befinden sich teilweise im sechsten Jahr ununterbrochener Rezession (mit allem menschlichen Leid und Elend, das damit verbunden ist), und auch die starken Euro-Länder können im kommenden Jahr froh sein, wenn sie mit Wachstumsraten von +/- 0 Prozent davon kommen. Europa schlittert in eine Rezession, die man mit gutem Recht die "Merkel-Rezession" nennen kann.

Paradoxerweise ist diese „Austeritäts“- Politik, insbesondere in den nördlichen EU-Staaten nicht einmal sonderlich unpopulär, was damit zusammen hängt, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht recht sehen, was anders gemacht werden könnte. Sie haben ohnehin den Eindruck, dass hunderte Milliarden in die Hand genommen werden, um den Ländern des Südens zu helfen (das, was der amerikanische Nationalökonom James K. Galbraith unlängst "strafende Hilfe" genannt hat), und dass weitere finanzielle Ressourcen für konjunkturstabilisierende Stimulusprogramme einfach nicht vorhanden sind - es sei denn, man wolle weiter am Rad der schuldenfinanzierten Staatsausgaben drehen. Aber dafür gibt es erstens keine Mehrheiten. Und in vielen europäischen Ländern auch keinen realistischen Spielraum.

Alternativen

Wer also den Austeritätsgläubigen den Wind aus den Segeln nehmen will, braucht realistische Pläne. Der griechische Ökonom Yanis Varoufakis und der britische Volkswirt (und ehemalige Labour-Politiker) Stuart Holland haben schon vor etwas mehr als eineinhalb Jahren einen "Bescheidenen Vorschlag zur Lösung der Euro-Krise" vorgelegt ("A Modest Proposal for Overcoming the Euro Crisis"), den sie seither mehrmals aktualisiert und verbessert haben. "Bescheiden" ist dieser Vorschlag, weil er im Kontext der vorhandenen EU-Institutionen und Regularien denkt, und keine weitreichenden EU-Vertragsänderungen voraussetzt, die zwar möglicherweise wünschenswert sind, aber realistischerweise auf kurze und mittlere Sicht nicht kommen werden. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der Umstand, dass die gegenwärtigen Bail-Out-Politiken von ESM und EZB die Krise kaum entspannen (weder reduziert sich die Staatsschuld signifikant, noch kommt die Wirtschaft in Schwung), dafür aber im alleinigen Interesse der Banken-Shareholder und Investoren sind. Nicht die "fleißigen Deutschen" zahlen für "faule Südländer", sondern gierige und korrupte Finanzeliten halten sich da wie dort, in Deutschland wie in Griechenland, schadlos, während die normalen Bürger die Zeche zahlen dürfen.

Wie sieht nun der Alternativplan der beiden Ökonomen aus? Shareholder der Banken sollen an den Krisenkosten beteiligt werden. Ein Teil der nationalen Staatsschulden sollen in EZB-Bonds umgewandelt werden, also de facto von der Zentralbank übernommen werden, aber auf Basis eines komplexen Mechanismus, sodass fiskalische Unverantwortlichkeit nicht belohnt wird. Mit diesen EZB-Bonds sollen überschüssige Spareinlagen angezogen werden, was zu einem liquiden Markt und niedrigen Zinsen führt. Über den Schuldentransfer hinaus könnten mit solchen EZB-Bonds wichtige Infrastrukturmaßnahmen finanziert werden. Eine starke Rolle in diesem Plan kommt der Europäischen Investmentbank (EIB) zu, die schon seit fünfzig Jahren solche Bonds herausgibt und deren Bilanzsumme heute bereits beim doppelten der Weltbank liegt. Die EIB könnte, gerade in Zeiten des beklagten "Anlagenotstands" (Investoren finden kaum eine Möglichkeit, ihr Geld sicher und zu vernünftigen Zinsen anzulegen), überschüssige Spareinlagen in Investitionen umwandeln, und damit ein "European Economic Revovery Programme" im Stile des Rooseveltschen New Deal etablieren: Nützliche Investitionen, von Solarstrom bis effiziente Energiesysteme könnten ebenso finanziert werden wie eine Hochgeschwindigkeits-Zugtrasse, die Griechenland und den Balkan mit Nordeuropa verbindet.

Solche Investitionen würden sich langfristig sogar von selbst finanzieren (über die künftigen Erlöse), sie würden allen nützen, und gerade in den Krisenstaaten der Peripherie die dringend benötigten Arbeitsplätze schaffen. All das wäre eigentlich leicht möglich, so müsste die EIB nur ein paar Halbsätze in ihren Richtlinien ändern. Beispielsweise müsste die heute noch zwingend vorgeschriebene Co-Finanzierung durch die nationalen Regierungen gestrichen werden (dasselbe gilt übrigens für viele Förderprogramme der EU-Kommission), da den klammen Nationalstaaten einfach das Geld für ihren Anteil fehlt. Schon heute kann Griechenland einen Großteil seiner Gelder aus dem EU-Strukturfonds nicht abrufen, sie verfallen also nutzlos, da das Geld für die Co-Finanzierung nicht da ist. Das dritte Standbein im Plan der beiden Ökonomen ist eine direkte Bankenkonsolidierung durch EZB und ESM, also nicht mehr über den Umweg durch die Nationalstaaten, wozu auch eine gesamteuropäische Bankenaufsicht gehört, die über die im Herbst beschlossenen Pläne hinaus gehen muss.

Der Charme dieses Plans liegt darin, dass er alle drei miteinander verbundenen Krisen im Auge hat, unter denen die Mitgliedsstaaten gerade leiden: die Schuldenkrise der öffentlichen Haushalte, die Bankenkrise und die Krise mangelnder Investitionstätigkeit, und dass brachliegende Spareinlagen für Investitionen mobilisiert werden, ohne dass damit weitere Haushaltsdefizite in Kauf genommen werden müssten.

Der „Marshall“-Plan für Europa

In eine ganz ähnliche Richtung geht der Vorschlag für einen "Marshallplan für Europa", den der Deutsche Gewerkschaftsbund Anfang September vorgelegt hat - ein penibel durchkalkulierter Plan, der sich "als ein auf 10 Jahre (von 2013 bis 2022) angelegtes Investitions- und Aufbauprogramm für alle 27 EU-Länder" versteht. Jährlich soll der Plan 260 Milliarden Euro mobilisieren, was knapp 2 Prozent des europäischen BIP entspricht. Anders als im Plan der beiden oben genannten Ökonomen sollen die Investitionen nicht über eine bestehende Institution wie die EIB aufgebracht werden, sondern über einen "Europäischen Zukunftsfonds". Die Idee ist aber eine sehr ähnliche: "In Westeuropa stehen 27.000 Milliarden Euro an Geldvermögen einer schrumpfenden Zahl von sicheren und rentablen Anlagemöglichkeiten gegenüber: Diese Situation birgt die große Chance, das vorhandene Kapital Europa für die Investitionen in seine Zukunft umzulenken."

Der Fonds soll 10jährige "New Deal Anleihen" ausgeben, deren Zinsverpflichtungen aus den Einnahmen durch eine Finanztransaktionsteuer finanziert werden sollen. Die notwendige Eigenkapitalausstattung des Fonds soll durch eine einmalige Vermögensabgabe gestemmt werden. Der Fonds würde als solventer Schuldner gelten, was die Zinsen für die Anleihen niedrig hält. Auf diese Weise würden innerhalb von 10 Jahren rund 2.500 Milliarden Euro in den ökosozialen Umbau unserer Industrie, in nachhaltige Stromerzeugung, effiziente Energiesysteme, neue Verkehrsinfrastruktur etc. gelenkt, was sowohl in den krisengebeutelten Ländern wie auch den starken Euro-Volkswirtschaften neue Arbeitsplätze schafft und unsere Gesellschaften moderner und lebenswerter macht.

Im Unterschied zum 3-Punkte-Plan von Varoufakis und Holland ist der Marshallplan des DGB freilich "nur" ein Programm zur Lösung der Unter-Investitions-Krise und hat die Banken- und Staatsschuldenkrise nicht speziell im Auge - wobei diese drei Krisen natürlich miteinander verbunden sind, weshalb eine prosperierende Realwirtschaft auch die Schuldenkrisen der Finanzinstitutionen und der öffentlichen Haushalte entspannen würde.

Franklin D. Roosevelt, der legendäre progressive Anführer des amerikanischen New Deal, hat einmal gesagt: "Es steht für mich außer Frage, dass das Land für mindestens eine Generation ziemlich radikal werden muss. Die Geschichte lehrt, dass Nationen, in denen das gelegentlich passiert, Revolutionen erspart bleiben." Nun hat das Wort "radikal" heute keinen so guten Klang. Aber in unsere zeitgenössische Sprache übersetzt: Es gibt Situationen, da hilft das tägliche Klein-Klein nicht mehr weiter. Es verschärft die Krise oft noch, oder kauft nur Zeit. In solchen Situationen braucht es ambitionierte Pläne, die den gordischen Knoten durchschlagen. Pläne wie die, die hier gerade vorgesellt wurden, gehen jedenfalls in die richtige Richtung.


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Kurzprofil

Robert Misik
ist ein österreichischer Publizist und Journalist, der sich seit Jahrzehnten mit der Sozialdemokratie in Europa beschäftigt. 1992 bis 1997 war er Korrespondent des Nachrichtenmagazins Profil in Berlin.

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