Frieder Otto Wolf wird 70 Jahre alt, kein Grund, aber ein willkommener Anlass, ihn den LeserInnen der Gegenblende näher vorzustellen. Das meint keine Wiederholung der wichtigsten Stationen seines Lebenslaufs oder eine Zusammenfassung der Vielzahl seiner Publikationen. Komprimiert heißt es bei Wikipedia:
„Frieder Otto Wolf (* 1.Februar 1943 in Kiel) ist ein deutscher Philosoph, Politikwissenschaftler, Politiker, Humanist. Er arbeitet seit 2007 als Honorarprofessor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.“ (abgerufen am 30.01.2013)
Wie aber kommt es dazu, dass so jemand in einem gewerkschaftlichen Organ gewürdigt werden soll, ein „Philosoph“, ein Mann des Geistes also, in einem Organ, mit dem letztendlich die Belange von ArbeiterInnen voran gebracht werden sollen? Gemeinhin stehen sich die VertreterInnen der beiden Sphären eher fremd, wenn nicht gar feindlich gegenüber, scheinen die einen doch auf dem Weg, den Sinn des Lebens zu suchen oder schließlich gar gefunden zu haben, während die anderen auf profanere Dinge abonniert zu sein scheinen.
Es muss sich also um einen besonderen Philosophen handeln, nicht zufällig werden oben ja auch die Bezeichnungen Politikwissenschaftler und Politiker genannt. Und in der Tat: Frieder Wolf ist Vertreter einer Radikalen Philosophie, einer Philosophie in der Perspektive von „Aufklärung und Befreiung“[i], wie es schon im Titel des Buches heißt, mit dem er 2002 hierzulande das Forum Radikalen Philosophierens eröffnete. Ja schon, aber ist dieser positive Bezug auf die Aufklärung nicht vielen heutigen PhilosophInnen gemeinsam, heißen sie nun Jürgen Habermas oder Charles Taylor? Und ist nicht evident, dass sie alle ihr Tun nur auf den Schultern von Riesen wie Kant, Hegel oder Marx tun können, um nur die Wichtigsten zu nennen? Es muss also an der Art des Bezuges auf die Aufklärung liegen, was sie unterscheidet, auf die Perspektive der Befreiung, was einen zum Radikalen Philosophen macht.
Was meint das? – Radikale Philosophie knüpft als solche zwar an die Philosophiegeschichte an, unterzieht diese aber gleichzeitig einer umfassenden Herrschaftskritik; denn zwar wurde von Philosophen häufig das Selberdenken propagiert, aber gleichzeitig wurde es zum Instrument der Selbstunterwerfung insbesondere des gemeinen Volkes gemacht, heute häufig als Subalterne bezeichnet. Hierfür steht beispielsweise der Habitus des Philosophen in seiner Einsamkeit als Denker. Kaum ein größerer Gegensatz ist denkbar zu dem von Wolf demgegenüber gewählten Begriff des Palavers, als Medium Radikaler Philosophie. Mag dieser Begriff erst einmal irritieren, ist er doch nicht zufällig pejorativ belegt, so macht er doch auf einen Grundzug Radikalen Philosophierens aufmerksam, der im Formulieren von Fragen besteht, und zwar nicht von solchen „nach dem Grund des Bestehenden, sondern nach dessen Alternativen.“[ii] Aber ist damit nicht dem Relativismus oder gar der Beliebigkeit das Wort geredet, was ist mit Erkenntnis und Wahrheit? – Ein gewiss wichtiger Einwand, dem in immer wieder aufflackernden Diskussionen um Materialismus oder Empirismus nachgegangen wird, bei denen auch Wolf mitmischt. Letztendlich kontert er ihn mit der „Umkehrung der liberalen Toleranz-Perspektive.“[iii]: Nicht um beliebige Urteile einzelner Individuen gehe es, sondern „…um die Ermöglichung und Förderung eines maximal qualifizierten individuellen Urteils und um gemeinsam gezogene praktische Konsequenzen.“[iv]
Damit geht Wolf auch über den Großteil der marxistischen Debatte, mit der ihn zweifellos vieles verbindet, hinaus; denn zwar gerät ihm der gesellschaftliche Reproduktionsprozess der kapitalistischen Gesellschaft keineswegs aus dem Blick[v], aber er sieht ihn nicht als Sache oder Fatum, der/dem man nur noch folgen könne und müsse. Vielmehr macht er demgegenüber subjektive Möglichkeiten geltend: „Eine materialistische Perspektive…kann… dieses Offenhalten…für subjektive Spontaneität und damit den Ausschluss von ‚wahren Besetzungen‘ für das Subjekt der Wünsche […] durchaus akzeptieren – und als Chance begreifen, Zugang zu einer angemessenen Perspektive auf subjektives Handeln zu gewinnen.“[vi]
Wen wundert es da noch, dass dieser Radikale Philosoph für Bündnis 90/Die Grünen Mitglied des Europäischen Parlaments war, durchaus aber auch in der Lage war, sich aus gegebenem Anlass von den Grünen zu verabschieden? Dass er das Forum Neue Politik der Arbeit mitbegründete, das gerade in diesen Tagen seine jährliche Versammlung durchführt, auf der wieder zentrale Themen der aktuellen Veränderungen dessen, was man gemeinhin „Arbeitswelt“ nennt, behandelt werden ebenso wie Möglichkeiten, in diese scheinbar sachgesetzlichen Entwicklungen handelnd einzugreifen.[vii] Dass er als Präsident des Humanistischen Verbandes und der Humanistischen Akademie Deutschlands tätig ist. Kein Anhänger eines Theorie-Praxis-Kurzschlusses, aber gleichwohl dem praktischen politischen Handeln grundlegend verbunden. Kaum irgendwo wird das so deutlich wie in seiner neuesten Buchpublikation „Rückkehr in die Zukunft – Krisen und Alternativen“[viii], in der in einem geradezu skrupulösen Vorgehen die eigenen politischen Ansichten und theoretischen Positionen der vergangenen 20 Jahre angesichts der jüngsten gesellschaftlichen und politischen Veränderungen überprüft und weitergedacht werden; das ist nicht einfach zu lesen, ja es ist anstrengend, aber wie sollte das anders sein, und das Ergebnis lohnt – in diesem Fall – die Mühe. Sichtend, überlegend, wägend, schreibend und palavernd. - Welch ein Unterschied zu jenen TUIS, den selbsternannten Verkündern einer erleuchteten Botschaft, eingebildeter Wahrheiten, die tatsächlich Projektionen sind, wie sie uns etwa bei Martin Heidegger begegnen oder wie sie heute mit großer Geste von Peter Sloterdijk öffentlichkeitsheischend demonstriert werden.
Schließlich: Ich bin zuversichtlich, dass es in diesem Sinne weitergehen wird und hoffe – nicht nur als Verleger – auf weitere radikale Wortmeldungen.
Wenn wir hierzulande doch mehr Radikale PhilosophInnen hätten!
[i] Wolf, Frieder O., Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit, 2. Auflage Münster 2009: Westfälisches Dampfboot.
Die inhaltliche Bandbreite des behandelten Feldes wird deutlich bei der Lektüre der Beiträge der Festschrift zum 65. Geburtstag: Urs Lindner/Jörg Nowak/Pia Paust-Lassen (Hrsg.), Philosophieren unter anderen. Beiträge zum Palaver der Menschheit, Münster: Westfälisches Dampfboot 2008. Vgl. insbesondere die vorzügliche Einleitung der Herausgeber_innen; hier findet sich auch eine umfassende Bibliographie der ausgesprochen vielfältigen Publikationstätigkeit von Frieder Wolf.
[ii] Lindner, Urs/Nowak, Jörg/Paust-Lassen, Pia, Philosophieren in der Perspektive von Aufklärung und Befreiung. Frieder Wolf zum Fünfundsechzigsten, In: Dies. (Hrsg.), Philosophieren unter anderen. Beiträge zum Palaver der Menschheit, S. 19
[iii] Wolf, Frieder O., Radikale Philosophie, S. 110
[iv] Ebd.
[v] Vgl. Hoff, Jan/Petrioli, Alexis/Stützle, Ingo/Wolf, Frieder Otto (Hrsg.), Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Münster 2006: Westfälisches Dampfboot.
[vi] Wolf, Frieder O., Neoliberaler Anti-Ödipus, in: Kaindl, Christina (Hrsg.), Subjekte im Neoliberalismus, Marburg 2007, S. 239.
[vii] Siehe www.forum-neue-politik-der-arbeit.de
[viii] Wolf, Frieder Otto, Rückkehr in die Zukunft – Krisen und Alternativen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Münster 2012: Westfälisches Dampfboot.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.