Deutscher Gewerkschaftsbund

28.01.2013

Wissensarbeit zwischen Autonomie und Burnout

Mann auf Kartons

kallejipp / Photocase.com

In den Debatten über neue gesellschaftliche Entwicklungen wird das Etikett „Wissensgesellschaft“ häufig als ideologischer Kampfbegriff genutzt. Mit ihm soll die Individualisierung und die Vermarktlichung von Bildung und Wissen anmutig verpackt werden, um negative externe Effekte auszublenden. So werden hohe Lieder vom Reiz individueller Humankapitalbildung („jeder ist seines Glückes Schmied“), vom Wert der Verknappung von Wissen durch verschärften Schutz „geistigen Eigentums“ oder vom Charme individueller Zurichtung auf Beschäftigungsfähigkeit („Employability“) gesungen.

Die notwendige Kritik an diesen neoliberalen Gesängen darf aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und dahinter verborgene grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen Produktionsweise übersehen oder verharmlosen. Tatsächlich ist die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungsdynamik durch einen tief greifenden „Epochenbruch“ gekennzeichnet.

Zum Wesen des Umbruchs

Einem Phasenübergang vergleichbar ist der Übergang von der industriellen zur wissensbasierten Gesellschaft mit durchgreifenden Veränderungen gesellschaftlicher (Re-)Produktion insgesamt verbunden. Wie schon im Übergang zur Industriegesellschaft sämtliche vorgefundene agrarisch-handwerklich geprägte Arbeit mittels betrieblicher Arbeitsteilung und Maschineneinsatz industrialisiert wurde, so werden auch im Übergang zur Wissensgesellschaft alle Sektoren der Produktion von Waren und Dienstleistungen durch wachsenden Umgang mit Wissen grundlegend verändert.

Der Wissensarbeit ist das Verhältnis von Können und Wissen bzw. von Praxis und Theorie immanent: Wesentlich ist deren dynamische Beziehung, die Art und Weise, wie sie einander wechselseitig hervorbringen. Vorgängig ist stets die natürliche Handlungskompetenz, das individuell gebundene Können oder Arbeitsvermögen, das sich in Tätigkeiten gelingender Praxis äußert. Bei einer gestörten Praxis lässt sich durch besondere Selbst- oder Fremdbeobachtung explizites, theoretisches Wissen über bestimmte Aspekte praktischen Tätigseins gewinnen. Dieses theoretische Wissen bleibt aber ohne Wirkung, solange es nicht zur Anleitung praktischer Tätigkeit genutzt wird. Dieser Dialektik der – stets partiellen – Explikation von Können und Erfahrung als Wissen und der Aneignung von Wissen als erweitertes Können zufolge entstehen fortlaufende Entwicklungsspiralen kultureller Erneuerung: das in Zeichen oder technischen Artefakten vergegenständlichte, dekontextualisierte Wissen („geronnene Erfahrung“) lässt sich als solches kommunizieren und wird durch Aneignung wiederum Teil einer dadurch veränderten Praxis (vgl. auch Brödner 2008, 2010).

Die Prozesse der „Verwissenschaftlichung von Arbeit“ (vgl. auch Langemeyer & Ohm 2009) zeitigen gravierende Folgen. Als öffentliches Gut ist Wissen eine ‚generative Ressource’, die ihrer Natur nach nicht getauscht, sondern nur geteilt werden kann, und die sich im Gebrauch nicht verzehrt, sondern vermehrt. Eben darin wurzelt u. a. der heftiger werdende Kampf um geistige Eigentumsrechte, welche die für die Entwicklung immer wichtigere Wissensteilung behindern.

Produktives Arbeiten und Problemlösen erfordern meist die Zusammenführung diverser Wissenszweige und die Integration unterschiedlichen Arbeitsvermögens in Form autonomer, selbstorganisierter Kooperation kompetenter Experten, die aber nur freiwillig funktioniert und sich jeder Anweisung entzieht. Je differenzierter, komplexer und dynamischer das kodifizierte Produktionswissen und dessen technische Vergegenständlichung, desto anspruchsvolleres Arbeitsvermögen ist gefordert, sich diese gesellschaftlichen Produktivkräfte zu produktiver Verwendung anzueignen und weiter zu entwickeln. Damit schlägt die ursprünglich in der Industrialisierung angelegte Objektivierung von Arbeit um in deren Subjektivierung.

Um nun die Kapitalverwertung als Herrschaftsverhältnis auch im Umgang mit Wissen in weitgehend autonomen, sich selbst organisierenden Arbeitsgruppen aufrechtzuerhalten, sind neue Formen der Kontrolle erforderlich: indirekte Steuerung durch Marktanforderungen anstelle hierarchischer Anweisung und Kontrolle. Dem permanenten Erfolgsdruck ausgesetzt, treiben sich die Träger des Arbeitsvermögens selbst zu Höchstleistungen an, allerdings auf Kosten ihrer Gesundheit und sozialen Beziehungen. Das immer wichtiger werdende Arbeitsvermögen kann sich unter diesen Bedingungen seiner Verausgabung in den Arbeitsprozessen selbst nicht hinreichend entwickeln (vgl. auch Peters & Sauer 2006). Zudem werden als dessen allgemeine Voraussetzung auch wachsende, den Wert der Arbeitskraft erhöhende Bildungsleistungen erforderlich, die aber minimal bleiben. Das führt insgesamt zu einem unterentwickelten Arbeitsvermögen.

Zusammengefasst ergibt sich: In der Bewegung des Übergangs von der Industrie- zur Wissensgesellschaft wird das Arbeitsvermögen zum weitaus wichtigsten Treiber der Entwicklung gesellschaftlicher Produktivkräfte. Jedoch legen die aus den Verhältnissen der Kapitalverwertung erwachsenden Widersprüche der Entfaltung des Arbeitsvermögens und der Produktivkräfte Fesseln an; aus Formen gesellschaftlicher Produktivkraftentwicklung werden eben diese Verhältnisse zu deren Hemmnissen. Namentlich die Sicherung der Kapitalverwertung durch indirekte Steuerung mit ihren zerstörerischen Folgen und die Beschränkung des Werts der Arbeitskraft durch unzureichende Reproduktion des Arbeitsvermögens werden zu Fesseln künftiger Produktivkraftentwicklung.

Empirische Befunde

Aktuelle empirische Befunde verweisen auf die hohen produktiven Potentiale, die agile Entwicklungsmethoden im selbstorganisierten und selbstgesteuerten Umgang mit Komplexität und Unsicherheit in Prozessen der Produktentwicklung zu erschließen vermögen. Diese Potentiale werden aber in der betrieblichen Praxis, angesichts des Einsatzes eines mitunter rigiden Controllings häufig nur unvollkommen genutzt. Als Hauptproblem zeigt sich, den veränderten Anforderungen an die Entfaltung des Arbeitsvermögens gerecht zu werden. Im Interesse der lebendigen Arbeit – und zumindest kurzfristig auch dem der Erhöhung der Produktivität – läge es daher, diese Potentiale zu entfalten. Mittel- und langfristig bedeutet das aber, dass sich Gruppen dann unter dem Druck von Anforderungen der Gesamtorganisation und ihrer Märkte überfordern (vgl. auch Pfeiffer et al. 2011).

Auch bei selbstbestimmter Wissensarbeit kann die Bildung von Standards der Erschließung und Realisierung von Rationalisierungspotenzialen dienen. Ihre produktive Wirkung können Standards aber nur bei der Bildung „von unten“, durch die Wissensarbeiter selbst, entfalten. Leider werden sie dagegen zumeist „von oben“ durch das Management vorgegeben und passen oft nicht in die Projektarbeit, sind eher hinderlich und dienen vornehmlich als Controlling-Instrument.

Empirische Erhebungen belegen dementsprechend eine verbreitete Kritik an den Führungskräften. Einerseits müssen sie wissensbasierte Kooperation anleiten, die Aneignung aufgabenbezogener Handlungskompetenz ermöglichen und dazu motivieren. Andererseits bricht sich Wissensarbeit als dezentraler, selbstbestimmter Umgang mit Komplexität nicht nur am fordistischen Führungsparadigma, sondern leidet zudem unter verschärften Widersprüchen zwischen neuen mitarbeiterzentrierten Führungskonzepten und finanzmarktgetriebener Shareholder-Value-Orientierung.

Die derart in Erscheinung tretenden Widersprüche zwischen Erfordernissen der Kapitalverwertung einerseits und der Notwendigkeit der Gewährung von Autonomie und Selbstorganisation bei Wissensarbeit andererseits führen allgemein zu widersprüchlichen Anforderungen an und Erscheinungen von oftmals projektförmiger Wissensarbeit. Gleichwohl eröffnen sie Spielräume und Experimentierfelder bei deren Gestaltung; diese offenbaren sich etwa in

  • ganz unterschiedlich ausgeprägten Spielräumen der Selbstbestimmung von Wissensarbeit bei agilen Methoden der Projektorganisation,

  • den Anstrengungen von Wissensarbeitern, in ihrer Arbeit auch unter Verwertungszwängen und Kostendruck der vorherrschenden Shareholder-Value-Orientierung Qualitätsansprüche und professionelle Standards aufrecht zu erhalten,

  • den gelegentlichen, aber meist unzureichenden Bemühungen, auch Anwender zwecks Erhöhung der Gebrauchstauglichkeit von Projektergebnissen in die Bestimmung von Anforderungen und der Beurteilung von Ergebnissen mit einzubeziehen.

Die sich in diesen Widersprüchen auftuenden Spannungsfelder zwischen Arbeitsanforderungen und verfügbaren Ressourcen, bleiben derzeit aber weitgehend subjektiver Bewältigung anheimgestellt.

Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus führt nach Erfahrungen von ver.di in der IT-Branche über beständige Umstrukturierungen im Zeichen der Steigerung von Renditezielen dazu, dass auch für hochqualifizierte Wissensarbeiter Betriebsräte und Gewerkschaften sowie die Vernetzung von Interessen wichtiger werden. Die Sicherung von Arbeitsfähigkeit, Beschäftigungsfähigkeit und die Abwehr von vermehrter Leiharbeit und dem sogenannten „Freelancer“-Einsatz sind Probleme, zu der sich gewerkschaftliche Arbeit positionieren muss und Gegenstrategien entwickeln sollte. Darüber hinaus können sich Risiken für Festangestellte durch sogenannte „Crowdsourcing“-Methoden ergeben, durch die eine „Liquid Community“ entsteht, die je nach Arbeitsanfall in Anspruch genommen werden und so die Zahl Festangestellter reduzieren kann. Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele wo kurzfristige Kostensenkung von sehr hohem Niveau aus bei generell sehr starker Marktstellung des Unternehmens keine wirklichen Ansatzpunkte für gewerkschaftliche Arbeit eröffnet hat. Bei Umfragen hat sich die gesteigerte Arbeitsintensität mit ihren Auswirkungen auf die Gesundheit (z.B. Burnout-Syndrom) als größte Problematik ergeben. Der ständige Austausch von älteren Mitarbeitern zugunsten jüngerer entwertet zudem die individuelle Kompetenz und Erfahrung.

Die gerade auch bei hochqualifizierten Wissensarbeitern stark zunehmenden psychischen Belastungen finden inzwischen große Resonanz in den Betrieben und bilden im Zusammenhang mit Instrumenten des Gesundheitsmanagements - wie etwa bei Gefährdungsbeurteilungen - wichtige Ansatzpunkte und Hebel gewerkschaftlicher Mobilisierung, Organisation und Einflussnahme auf Arbeitsbedingungen (vgl. auch Gerlmaier & Latniak 2011, Urban 2012). Partizipation und Mitwirkung geraten dabei allerdings leicht in das Dilemma zwischen erwünschter Beteiligung und Einflussnahme seitens der Wissensarbeiter auf ihre Arbeitsbedingungen und -prozesse einerseits und zusätzlicher Belastung andererseits, indem der dafür erforderliche Aufwand als zusätzliches „Add-on“ auf ohnehin schon hohe Beanspruchungen empfunden wird. Eine wesentliche Forderung ist daher, in der Wissensarbeit hinreichend Ressourcen und Spielraum für Beteiligung zu schaffen.

Schlussbemerkung[1]

Um mit Wissensarbeit angemessen umgehen und sie produktiv entfalten zu können, müssen Arbeitsgegenstände, -mittel und -organisation in ihren komplexen Bezügen theoretisch verstanden werden. So erscheint Wissensarbeit gewissermaßen als Prototyp oder Vorreiter von gesellschaftlichen Subjektivierungsprozessen, die allerdings auch die weniger qualifizierte Arbeit verändern. Dabei geht es auch um demokratische Prozesse im Betrieb, die für die hier dargelegte Entfaltung der Produktivkraft der lebendigen Arbeit (durch Selbstorganisation und Beteiligung) ein tragendes Element sind. Somit ist Wissensarbeit ein zentraler Fokus für Forderungen nach Guter Arbeit, ausgerichtet auf Überwindung der hier dargelegten Widersprüche bei der Entfaltung wissensgesellschaftlicher Produktivkräfte im Spannungsverhältnis zu Steuerungs- und Kontrollinteressen, aber auch zu Kostensenkungs- und Outsourcing-Strategien im Zeichen forcierter Profitinteressen.

 

Literaturhinweise

Brödner, P., 2008: Wissen als Management-Fetisch, FIfF Kommunikation 25 (1), 29-33

Brödner, P., 2010: Wissensteilung und Wissenstransformation, in: Moldaschl, M. & Stehr, N. (Hg.): Wissensökonomie und Innovation. Beiträge zur Ökonomie der Wissensgesellschaft, Marburg: Metropolis, 455-480

Gerlmaier, A. & Latniak, E. (Hg.), 2011: Burnout in der IT-Branche. Ursachen und betriebliche Prävention, Kröning: Asanger Verlag

Langemeyer, I. & Ohm, C., 2009: Verwissenschaftlichung von Arbeit. Reflexionen zu einem Umbruch gesellschaftlicher Arbeits- und Technikverhältnisse, in: Dumbadze D. et al. (Hg.): Erkenntnis und Kritik. Zeitgenössische Positionen, Hans-Böckler-Stiftung, Bielefeld: Transcript, 269-292

Peters, K. & Sauer, D. 2006: Epochenbruch und Herrschaft. Indirekte Steuerung und die Dialektik des Übergangs, in: Scholz, D. et al. (Hg.): „Turnaround? Strategien für eine neue Politik der Arbeit“. Münster: Westfälisches Dampfboot, 98-125

Pfeiffer, S.; Schütt, P. & Wühr, D., 2011: Innovationsarbeit unter Druck braucht agile Forschungsmethoden. „Smarte Innovationsverlaufsanalyse“ als praxisnaher und partizipativer Ansatz explorativer Forschung, Arbeits- und Industriesoziologische Studien 4 (1), 19-32

Urban, H.-J., 2012: Schutz vor psychischen Belastungen, Gegenblende März/April



[1]    Dieser Artikel ist auf Basis von Referaten auf dem gleichnamigen Workshop des Forums Neue Politik der Arbeit entstanden, der am 27.4.2012 in Berlin stattfand. Die Vortragsfolien aller Referenten und ein Kurzprotokoll der Diskussionen des Workshops können auf der FNPA-Website (www.forum-neue-politik-der-arbeit.de) eingesehen werden.


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Kurzprofil

Dr. Peter Brödner
Geboren 1942
Lehrbeauftragter an der Universität Siegen (Wirtschaftsinformatik)
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