Kathrin Niedermoser
Griechenland ist zum Symbol für die Krise der wirtschaftlichen und politischen Architektur der Europäischen Union geworden. Die Krisenbearbeitung durch die Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission hat den ökonomischen Niedergang beschleunigt und das Land in eine folgenschwere soziale und politische Krise gestürzt.
Die zwei zentralen Elemente der Krisenbearbeitung sind die Senkung der Staatsausgaben durch strikte Austeritätspolitik und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Ökonomie durch eine „Abwertung nach Innen“. Die Umdeutung der Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise bildet dafür den ideologischen Boden. Die verschuldeten Staatshaushalte sind demnach nicht Auswirkung, sondern Ursache der Krise. Es ist somit auch kein Zufall, dass Qualitäts- und Boulevardblätter, sowie konservative ÖkonomInnen und führende PolitikerInnen den „ausufernden Lebensstil“, unverschämt hohe Pensionen oder die mangelnde Steuer- und Arbeitsmoral der ArbeitnehmerInnen als Ursache für die Krise in Griechenland anführen. Und obwohl die Durchschnittspension in Griechenland 2007 bei 617 Euro lag und Griechenland bereits vor der Krise eine der geringsten Beschäftigungsraten im Öffentlichen Dienst hatte[1], wird die Mär von den „faulen GriechInnen“ hochgehalten. Nicht zuletzt, um die tatsächlichen Ursachen für die zunehmend krisenhafte Entwicklung der europäischen Wirtschaft zu verbergen. Darüber hinaus werden durch diese Erzählung der Krise tradierte rassistische Stereotype reproduziert, die vor allem der Boulevard und rechte Parteien freudig aufnehmen.
In Anknüpfung an die skizzierte Krisendeutung wird seit 2010 europaweit eine strikte Austeritätspolitik als Ausweg aus der Krise forciert. Mit dem Beschluss der Economic Governance („six-pack“) und dem Fiskalpakt fand diese Strategie ihren Einzug in die Budgetpolitik der EU-Mitgliedsstaaten, wobei Griechenland als Laboratorium für diese Politik betrachtet werden muss.
Infolgedessen wird seit 2010 in Griechenland das Sozialgefüge grundlegend umgestaltet. Der zentrale Angriffspunkt ist dabei das Pensionssystem. Das gesetzliche Pensionseintrittsalter wurde erhöht, die 13. und 14. Pension gestrichen, die Pensionen um bis zu 30%[2] gekürzt und die Beitragszeiten für einen abschlagsfreien Pensionsantritt von 35 auf 40 Arbeitsjahre erhöht. Das im November 2012 verabschiedete Sparpaket in der Höhe von 13,5 Milliarden Euro sieht bei den Pensionen weitere Einsparungen im Ausmaß von 4,8 Milliarden Euro vor. Angesichts der ohnedies niedrigen Pensionen und der signifikant höheren Armutsgefährdung von älteren Menschen in Griechenland werden diese Maßnahmen die prekäre soziale Lage von PensionistInnen weiter verschlechtern.[3]
Als weiteres Herzstück der griechischen Austeritätspolitik gilt die Privatisierung aller (teil-) staatlichen Infrastruktureinrichtungen und Unternehmen. Neben Häfen und Flughäfen und staatlichen Industriebetrieben, sollen u.a. auch die öffentlichen Energieversorger, die Post, die Bahn und die kommunale Wasserversorgung in Athen und Thessaloniki privatisiert werden.
Auch der Gesundheitsbereich ist massiv von Einsparungen betroffen. Öffentliche Krankenhäuser und Gesundheitszentren wurden geschlossen, die Selbstbehalte für PatientInnen erhöht, Medikamente gibt es nur mehr gegen Barzahlung. Hilfsorganisationen warnen angesichts der schlechten medizinischen Versorgung vor einer humanitären Katastrophe in Griechenland.[4] Auch die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst sind von der Austeritätspolitik betroffen. Bis 2016 sollen 150.000 Arbeitsplätze abgebaut werden; zudem mussten die Beschäftigten alleine bis 2011 Gehaltseinbußen von 20-30% hinnehmen. [5]
Neben der Austeritätspolitik stellt die „Abwertung nach Innen“ den zweiten zentralen Mechanismus der Krisenbearbeitung in Griechenland dar. Die Kernelemente dieser Strategie sind die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und die Senkung des Lohnniveaus. Im letzten Jahr wurde der gesetzliche Mindestlohn um 22% auf 548 Euro netto (für ArbeitnehmerInnen unter 25 Jahre auf 490 Euro netto) gekürzt. Das Branchenkollektivvertragssystem wurde durch mehrere Gesetze de facto ausgehebelt und die Nachwirkzeit von Kollektivverträgen zudem empfindlich eingeschränkt. Außerdem ist es seit 2010 möglich auf betrieblicher Ebene Vereinbarungen zu treffen, die eine Verschlechterung zum Kollektivvertrag bzw. zum gesetzlichen Mindestlohn vorsehen.[6] Laut OECD haben die Eingriffe in das griechische Lohnfindungssystem im Jahr 2011 zu einem nominalen Rückgang der Löhne und Gehälter um 25% geführt.[7]
Neben den Einschnitten bei den Löhnen und Gehältern wurde auch die arbeitsrechtliche Situation von ArbeitnehmerInnen massiv verschlechtert. Entlassungen wurden vereinfacht, der Kündigungsschutz aufgeweicht und die Arbeitszeit vollkommen flexibilisiert. Die hohe Arbeitslosigkeit und die drastischen Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherheit haben zur massiven Prekarisierung und zur Erosion der Arbeitsverhältnisse geführt. Durch die „interne Abwertung“ soll, laut Troika, die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands verbessert werden. Dabei ist auch die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen immer wieder im Gespräch.[8]
Angetrieben von einem Teufelskreis aus Sparprogrammen, Rezession und sinkenden Staatseinnahmen zeichnet sich bisher jedoch keine Entspannung ab. Der Produktionsindex ist seit 2009 um 22,9% eingebrochen.[9] Besonders betroffen sind die Industrieproduktion, das Baugewerbe und der Handel.[10] Im Jahr 2011 ist die Zahl an Unternehmensinsolvenzen um über 33% angestiegen; eine ähnliche Bilanz zeichnet sich für 2012 ab.[11]
2012 waren in Griechenland über 1,2 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Dies entspricht einer Quote von 25,4%, bei den Unter-25jährigen sind es 58%. In den Jahren 2008 bis 2012 hat sich die Anzahl der Arbeitslosen mehr als verdreifacht. Beinahe 60%[12] der registrierten Arbeitslosen gelten als langzeitarbeitslos, womit sie das Arbeitslosengeld verlieren und auch keine weitere staatliche Unterstützung wie Sozialhilfe erhalten. Zudem geht dadurch auch die Krankenversicherung verloren. Durch die drastische Senkung des Arbeitslosengeldes im Februar 2012 von 461 Euro auf 322 Euro wurden Millionen von Griechen in die Armut getrieben. Eurostat spricht von über 3 Millionen Menschen (27,7%), die von Armut und/oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind.[13] Die bereits vor der Krise hohe Armutsgefährdung wurde durch Sparpakete und Arbeitslosigkeit weiter verschärft. Alleine im Jahr 2010 fielen 5% der Bevölkerung unter die Armutsgrenze.[14]
Das Ausmaß der sozialen Katastrophe zeigt sich derzeit vor allem in den Städten. Alleine in Athen leben über 30.000 Menschen auf der Straße. Meist in Gruppen haben sie überall in der Stadt ihre Lager aufgeschlagen. Hinzu kommen Tausende, die in Notquartieren oder bei Freunden und Familienangehörigen wohnen. Sie alle kämpfen tagtäglich gegen den Hunger und jetzt im Winter auch gegen die Kälte. Seit der Einstellung sämtlicher staatlichen Förderungen für NGOs im August 2012 spitzt sich die Situation weiter zu, da davon auch Hilfseinrichtungen betroffen sind.[15] Hunger ist in Griechenland längst kein Randphänomen mehr. Hunderttausende stehen tagtäglich in Suppenküchen Schlange. Nicht wenige von ihnen haben zwar noch Arbeit, können sich aber dennoch das tägliche Essen nicht mehr leisten. Tausende Haushalte haben inzwischen keinen Strom mehr, viele können sich das Heizen nicht leisten, verzweifelte Eltern bringen ihre Kinder in Heime.
Angesichts der zunehmenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten wächst auch der Widerstand gegen die Sparpolitik. Dem gegenüber steht die zunehmende Entdemokratisierung politischer Entscheidungsprozesse.[16] Gesetze werden in Eilverfahren durch das Parlament gepeitscht, zahlreiche Beschlüsse der letzten Jahre gelten als verfassungswidrig, Interessensvertretungen werden komplett aus den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Darüber hinaus wird dem sozialen Protest oftmals mittels Kriminalisierung, Polizeigewalt und Repression begegnet. Erst vor wenigen Wochen wurden Streiks der Seeleute und der Athener U-Bahn ArbeiterInnen mittels Notfallgesetz aus der Militärdiktatur mit Polizeigewalt aufgelöst.[17]
Die Lücke der politischen Repräsentation[18] und die Verelendung verschaffen rassistischen und faschistischen Gruppierungen und Organisationen Aufwind. Die offen faschistische Schlägerbande Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) erhielt bei den letzten Wahlen fast 7%. Mittels paramilitärischer Strukturen kontrollieren die Faschisten inzwischen ganze Stadtteile und sie präsentieren sich als Ordnungshüter. In Athen kommt es inzwischen tagtäglich zu organisierten Überfällen auf MigrantInnen. Bedenklich stimmt auch die immer wieder dokumentierte Verbindung zwischen Chrysi Avgi und der Polizei.
Umso fataler ist es, dass die Regierungspolitik in Griechenland dieser Radikalisierung nichts entgegensetzt, sondern die entsolidarisierte und gewaltbereite Stimmung gegen MigrantInnen mit Law&Order-Politik, wie etwa der Operation „Xenios Zeus“, zusätzlich anheizt.
Durch die lange Landesgrenze gilt Griechenland, noch vor Italien oder Spanien, als bevorzugtes Einwanderungsland in die EU. Alleine 2011 strandeten über 55.000 MigrantInnen in Griechenland.[19] Ihre Zielorte liegen oft in anderen Ländern der Europäischen Union. Die Mittel, die seitens der EU zur humanitären Versorgung von Flüchtlingen in Griechenland zur Verfügung gestellt werden, belaufen sich auf 10 Millionen Euro, während sich die EU die „Grenzsicherung“ in Griechenland 300 Millionen Euro kosten lässt.[20] Die seit Jahren prekäre und menschenrechtswidrige Lage von Flüchtlingen in Griechenland hat sich angesichts der sich zuspitzenden sozialen Krise nun weiter verschärft.
Die skizzierten Entwicklungen der politischen Krise bergen jedoch auch einen Moment der Selbstorganisierung in sich. Insbesondere in den letzten Monaten sind viele Initiativen entstanden, die der zunehmenden Verelendung und Entsolidarisierung der griechischen Gesellschaft und letztendlich auch der vom Neoliberalismus suggerierten Alternativlosigkeit entgegentreten.
Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist die „Klinik der Solidarität“[21] im nordgriechischen Thessaloniki. Die Ambulanz befindet sich in den Räumlichkeiten des Gewerkschaftsdachverbandes GSEE und wird selbstverwaltet von den behandelnden ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen und TherapeutInnen geführt, die ausschließlich ehrenamtlich arbeiten. Die Ambulanz bietet kostenlose ärztliche Versorgung, Medikamente und Schutzimpfungen für Kinder an. Die „Klinik der Solidarität“ legt großen Wert auf politische Unabhängigkeit, versteht sich selbst aber als politisches Projekt und neben konkreter Hilfe zielen die Aktivitäten auch auf Partizipation und Selbstorganisierung ab.
Die griechische Krise und ihre Bearbeitung stehen stellvertretend für die Krisenpolitik (in) der Europäischen Union. In den nächsten Monaten und Jahren wird sich entscheiden, ob dieser eingeschlagene Weg eines autoritären und radikalisierten Neoliberalismus sich langfristig durchsetzen kann. Ein Blick nach Griechenland verdeutlicht, dass dies das Ende des Europäischen Sozialmodells bedeuten würde, denn auch wenn dieses im Vertrag von Lissabon bestätigt wurde, weist die derzeitige Krisenpolitik in den südlichen Krisenländern einen anderen Weg.[22]
„Weltumspannend Arbeiten“, der entwicklungspolitische Verein des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, startet im März eine Solidaritätskampagne mit der „Klinik der Solidarität“. Nähere Infos dazu werden ab März hier bekannt gegeben.
[1] OECD (2011): Government at a Glance 2011. Country Note: Greece, S. 2.
[2] Malkoutzis, Nick (2011): Griechenland – ein Jahr in der Krise, S. 3.
[3] vgl. Matsaganis, Manos (2011): The welfare state and the crises: the case of Greece, S. 3.
[4] vgl. Handelsblatt v. 01.03.2012: In Griechenland setzt sich der Hunger fest. Onlineausgabe.
[5] vgl. Malkoutzis, Nick (2011), S. 3.
[6] vgl. Fulton, Lionel (2011): Arbeitnehmerbeteiligung in Europa. Labour Research Department und ETUI.
[7] vgl. Handelsblatt v. 26.04.2012: Gehälter in Griechenland brechen um ein Viertel ein. Onlineausgabe.
[8] vgl. Die Zeit v. 02.09.2012: Sonderbehandlung soll Griechenlands Wirtschaft retten. Onlineausgabe.
[9] vgl. EL.STAT: Production Index in Industry 2008-2009.
[10] vgl. EL.STAT: Labour Force Survey. 1st Quarter 2012.
[11] vgl. Wirtschaftsblatt v. 04.09.2012: Konjunkturflaute treibt Insolvenzen. Onlineausgabe.
[12] alle Zahlen zur Arbeitslosigkeit: vgl. EL.STAT (2012): Labour Force Survey (LFS), August 2012.
[13] vgl. Eurostat (2012): http://europa.eu/rapid/press-release_STAT-12-21_de.htm?locale=FR (28. Oktober 2012)
[14] vgl. ETUI (2011): Policy Brief Issue 5/2011, Inequality, poverty and the crisis in Greece.
[15] vgl. Ansamed (2012): http://ansamed.ansa.it/ansamed/en/news/sections/economics/2012/08/22/Crisis-Greece-freezes-public-funding-NGOs_7365741.html (6. November 2012)
[16] vgl. Bader et al (2011): S. 21.
[17] vgl. Ekathimerini v. 25.01.2013: Metro strike ends as workers forced to return to jobs.
[18] vgl. Bader et al (2011): S. 23.
[19] vgl. taz v. 15.07.2012: Folgen der Griechenlandkrise. Flüchtlinge als Sündenböcke. Onlineausgabe.
[20] ebd.
[22] vgl. Altvater, Elmar (2010): Der große Krach. Oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen von Politik und Natur, S. 94.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.