Tagungsdokumentationen wecken unter Nicht-Teilnehmern der Tagung in der Regel kaum große Leselust. Der vorliegende Band einer Tagung vom Oktober 2011 der Stiftung Deutsche Postgewerkschaft weicht erfreulich von dieser Regel ab. Auch wer nicht nur nachlesen will, was ihm am besten gefallen hat, kann Lesefrüchte genießen. Ein erster Erkenntnisgewinn wird schon im Konferenz- und Buchtitel so nebenbei geliefert. Viele rätseln ja noch immer, was hatte Philipp Rösler im Mai 2011 bei seiner Wahl zum obersten Resteverwerter der FDP eigentlich mit seinem eigenartigen Frosch-Gleichnis ausdrücken wollen. Damals quäkte er als noch froh gelaunter und unbedarfter Nachlassverwalter der Westerwelle-Partei folgendes: „Wenn Sie einen Frosch in heißes Wasser werfen, dann hüpft der sofort heraus. Wenn Sie einen Frosch ins kalte Wasser setzen und langsam die Temperatur erhöhen, wird er zuerst nichts merken und nichts machen. Und wenn er etwas merkt, dann ist es zu spät für den Frosch. (Pause)“ So viel zum netten Herrn Rösler. Nach einem späteren Talkshowauftritt konnte vermutet werden, beim „zu spät für den Frosch“ sei die Kanzlerin gemeint. Doch inzwischen weiß man es besser. Wer den Sozialstaat mit Brachialgewalt angeht, der provoziert größere Abwehrreaktionen als durch schleichende Demontageoperationen.
Die im Tagungsband dokumentierten Reden und Gespräche erläutern diesen schleichenden Prozess aus unterschiedlichsten Perspektiven. Die marktradikale Abrissbirne hat nach den Erfahrungen mit der Finanzmarktkrise ihre Schuldigkeit getan. In unseren Tagen geht es dem Sozialstaat durch das Übersehen sozialer Notlagen und über die schleichende Austrocknung seiner Finanzierungsbasis an die Wurzeln. Verdi-Ökonom Norbert Reuter analysiert das “Desaster der Finanz- und Steuerpolitik“, das zum armen Staat führte. Der Aufklärungspublizist Albrecht Müller ruft in Erinnerung, wie durch gezielte Meinungsmache der Sozialstaat ins Gerede kam. Die damals amtierende Schröder-Regierung wurde Opfer des Trommelfeuers gegen sogenannte Lohnnebenkosten und für entfesselte Marktkräfte. Irgendwann verloren dann Gerhard Schröder und Joschka Fischer die Lust am geduldigen Widersprechen und Widerstehen. Sie drängten ihre Parteien auf den Kurs „If you can`t beat them, join them“. Natürlich taten sie das nicht ganz so rigide, wie es die damaligen Kreuzzügler gegen den Sozialstaat in allen Talkshows forderten. Die Einsicht, dass es auf Alternativen statt auf Varianten zum Marktradikalismus ankommt, ist durch die Finanzmarktkrise inzwischen gewachsen. Nur noch die Schwarz-Gelben wollen den toten Gaul „Alle-Macht-den Märkten“ weiterreiten. Angela Merkel spricht sogar von der „marktkonformen Demokratie“.
Die steile Lernkurve in der Sozialdemokratie macht ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Hubertus Heil erkennbar. Er arbeitet in seinem Beitrag heraus, warum in präventive, vorbeugende Sozialpolitik investiert werden muss, damit wachsende Sozialbedürftigkeit nicht zum Sprengsatz für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wird. Ob bessere Einsichten und das Lernen aus politischen Fehlern Früchte tragen, wird sich an der Zusammensetzung des 2013 neu zu wählenden Bundestages besser ablesen lassen. Es steht einiges auf dem Spiel. Lässt sich die Spaltung der Gesellschaft stoppen? Hans-Jochen Vogel, einer der großen Sozialdemokraten unsere Zeit, untersucht, was der verpflichtende Verfassungsauftrag ist. Grundgesetz, Landesverfassungen und Grunddokumente der europäischen Union vertragen sich nicht mit Angela Merkels Vorstellungen von einer „marktkonformen Demokratie“.
Der Staat hat soziale Garantiefunktionen, und die erschöpfen sich nicht in der Abwehr größter Not. Ebenso darf man auch Nikolaus Schneider, den Ratsvorsitzenden der EKD, verstehen, der in seinem Beitrag erklärt, warum auch Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit notwendig sind, um den inneren Zusammenhang der Gesellschaft zu sichern. Der Journalist Heribert Prantl führt dazu aus: „Der gute Sozialstaat ist keine Unternehmung, die nur auf die Krankheit, die Arbeitslosigkeit, den Schicksalsschlag wartet und dann helfend eingreift. Seine Leistungsstärke zeigt sich also nicht erst und nicht nur am Niveau der Versorgung, wenn dieser Fall eintritt und er dann die Kalamitäten möglichst gut ausgleicht. Sie zeigt sich auch an der Kreativität, mit der er es seinen Bürgern ermöglicht, selbstbestimmt zu leben. Der gute Sozialstaat investiert ins Soziale, zum Beispiel in die Bildung der Kinder der neuen Unterschichten; er verwandelt die Schwäche der Generation Migration in Stärke, er fördert die sprachlichen Kompetenzen und den interkulturellen Reichtum dieser Generation. Solche Sozialpolitik wächst über ihre industriegesellschaftliche Herkunft hinaus.“ Man ahnt schon den Einwand voraus: Gut gemeint, aber wer soll das alles bezahlen? Unter dieser Fragestellung ist die Lektüre des Beitrags von Frank Bsirske besonders ergiebig. „Gerecht geht anders“, so sein Urteil zu den Hinterlassenschaften aus neoliberalen Zeiten, die zwar diskreditiert aber nicht beendet sind. Wer dafür eine schnelle Argumentationszusammenstellung benötigt – etwa für die kommende Wahlauseinandersetzung – findet sie hier auf zehn Druckseiten.
Auch mehr als ein gutes Jahr nach der dokumentierten Konferenz sind Sven Giegolds „Perspektiven für ein sozialstaatliches Europa“ immer noch tagesgültig. Wie konnte es nur passieren, dass offenbar eine Mehrheit der Wähler immer noch glaubt, bei der amtierenden Regierung sei die Stabilität des Euro, die Sicherung der deutschen Staatsfinanzen sowie Neuausrichtungen zum Schicksal der europäischen Union in guten Händen? Alle Artikel des Buchs bekräftigen einmal mehr, „dass es plausible, humane und gerechte Alternativen zu einem solchen Kurs gibt“, wie Franz Treml, Vorsitzender der DPG-Stiftung, im Vorwort feststellt.
Die Deutsche Telekom und die Deutsche Post DHL, sind das ganz gewöhnliche Konzerne wie all` die andern auch? Gewerkschaftsvertreter nehmen das deutlich anders wahr als Mitglieder der Vorstände. Rene Obermann, einer von ihnen, sieht wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit dennoch nicht in einem unauflöslichen Widerspruch. Möge er mehr Gehör finden! In der abschließend dokumentierten Debatte mit Lothar Schröder und anderen Verdi-Insidern über Corporate Social Responsibility ist erkennbar, wie sehr Außenbild und Innenleben noch auseinander klaffen.
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, gelangt in seinem Beitrag zu einem Fazit, das die Lektüre des 173 Seiten starken Buches am plausibelsten nahelegt: „Wir haben im Moment eine Politik, die Armut erzeugt. Das ist die Schande, mit der wir es zu tun haben. Wir müssen gemeinsam etwas tun, um dieser Schande langsam ein Ende zu machen.“ An den Gelegenheiten dürfte es nicht fehlen. Nur wer nichts merkt und nichts macht, den können der nette Herr Rösler und seine >Mutti< abkochen bis es zu spät ist.
Über das Buch:
Frank Bsirske/ Andrea Kocsis / Franz Treml (Hrsg.): Gegen den schleichenden Abbau des Sozialstaats. Konsequenzen – Alternativen – Perspektiven, Hamburg 2012.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.