Als die Deutsche Wehrmacht ohne Kriegserklärung den Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann und das Land besetzte, 1941 in gleicher Vorgehensweise die Sowjetunion überfiel, wurde ein nie zuvor gekannter Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung Osteuropas entfesselt. Durch ihn sollte ‚Lebensraum’ für das ‚Großdeutsche Reich’ geschaffen werden, Frauen und Männer wurden als ‚Ostarbeiter’ massenhaft in die Zwangsarbeit verschleppt.
Gleichzeitig mit dem Völkermord an den Juden Europas, verübten Wehrmacht, SD-Einsatzgruppen, SS und die deutsche Militärverwaltung ein weiteres ungeheueres Verbrechen: 3,3 von 5,7 Millionen sowjetischer Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft starben bis Kriegsende durch Mord, Hunger und Krankheiten.
Das im vergangenen Jahr erschienene Buch „Vernichtungskrieg im Osten und die sowjetischen Kriegsgefangenen“ resultiert aus einer Tagung der IG Metall im Juli 2011 - also 70 Jahre nach dem Angriff auf die Sowjetunion. In den überarbeiteten Beiträgen werden Fakten und Täter benannt, die Voraussetzungen und Zusammenhänge des Vernichtungskriegs beschreiben.
Im Kreis der Herausgebenden sind Chaja Boebel (Jg.1966) und Frank Heidenreich (Jg.1956), beide sind pädagogisch tätig in der IG Metall-Bildungsstätte in Berlin; und Lothar Wentzel (Jg.1947), der in der Grundsatzabteilung beim Vorstand der IG Metall arbeitet.
Die Beiträge im Sammelband sind im Umfang sehr unterschiedlich. Der längste Artikel stammt von Hannes Heer mit ca. 50 Seiten, Christian Streit steuert 15 Seiten bei und Eberhard Radczuweit berichtet auf 4 Seiten. Der umfangreiche Anhang mit 20 Dokumenten umfasst mehr als 40 Seiten. Unter den Dokumenten war mir die Nr.20 mit den „Geständnissen“ deutscher Soldaten in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zu deutschen Kriegsverbrechen neu. Ansonsten haben fast alle Dokumente ihren Bezug zu den Vernichtungsbefehlen von 1941 und sind schon in den entsprechenden Bänden des Standardwerks „Das Deutsche Reich und der zweite Weltkrieg“ verarbeitet.
Lothar Wentzel benennt im Vorwort, wie lange es gedauert hat, bis die Dimensionen des Vernichtungskriegs in Deutschland ge- und bewusst wurden. Erst 1978 erschien die Untersuchung von Christian Streit, „Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945.“ Und 1995 kam der „hochwirksame Beitrag zur Aufklärung“ (Wentzel) mit der „Wehrmachtausstellung“ hinzu, die ursprünglich unter der Gesamtleitung von Hannes Heer konzipiert worden war. In der DDR gab es „keine wirkliche Aufarbeitung dieser Verbrechen“, auch weil in der Sowjetunion die Kriegsgefangenen als Verräter galten. Sie hatten „keine starke Lobby“. Um so mehr ist es Gewerkschaftsaufgabe, die nicht gewürdigten Opfer zu benennen „und so Erinnerung zu ermöglichen.“ Zwar ist es gelungen, endlich eine Entschädigung für die ehemaligen Zwangsarbeitenden durchzusetzen – aber die Kriegsgefangenen blieben davon weiterhin ausgeschlossen.
Deshalb wird im Buch die Arbeit der Initiative KONTAKTE e.V. dokumentiert, die mit ihren bescheidenen Mitteln versucht, den wenigen noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen – soweit sie ermittelt werden konnten – als Geste der Versöhnung und Anerkennung des ihnen angetanen Unrechts ein wenig materielle Hilfe zukommen zu lassen.
Der Historiker Hannes Heer, Jg.1941, beschreibt eindrücklich und informativ in seinem Beitrag „Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion: Massenmord nach Plan“ wie Hitler schon 1924 in „Mein Kampf“ die Vernichtung konzipierte und wie es gelang, dies in den Führungseliten nach 1933 zu verankern und bis zum ‚normalen’ Soldaten weiter zu geben. Ein Schwerpunkt seiner Darstellung ist der Abschnitt „Eine Ausstellung spaltet das Land“: Er verteidigt mit guten Argumenten die „Wehrmachtsausstellung“ von 1995 und beharrt gegenüber ihrer ‚Zweitauflage’ von 2001 mit dem Verzicht auf die Soldatenfotos darauf, dass „die Täter nicht verschwinden“ dürfen. Aus Tagebüchern und Briefen führt er den Beweis. Seine Analyse der Reaktionen auf die Ausstellung zeigt überzeugend, wie tiefgehend der Tabubruch gegenüber der „sauberen Wehrmacht“ getroffen hat. Dem Satz der Schriftstellerin Flannery O’Connor „Die Wahrheit richtet sich nicht danach, ob wir sie aushalten können“, ergänzt er: „Sie braucht nur ihre Zeit, um angenommen zu werden. 14 Jahre nach der ersten Abstimmung über die Verbrechen der Wehrmacht, kam es am 30. Juni 2011 erneut zu einer Debatte im Bundestag…Diesmal gab es weniger Gefühle, dafür eine parteiübergreifende Annahme der Fakten.“
Der ehemalige Gymnasiallehrer Christian Streit, Jg.1942, legt in seinen Ausführungen „Die sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand – Hunger, Ausbeutung, Massensterben“ den aktuellen Forschungsstand dar. Er zeigt unter anderem, dass sowohl Deutschland wie die Sowjetunion die Genfer Verwundetenkonvention ratifiziert hatten. Diese „eindeutige Bindung“ wurde „von der deutschen Führung ganz bewusst ignoriert“, genauso wie die Grundsätze des allgemeinen Kriegsvölkerrechts. Für diesen Krieg gab es also formale völkerrechtliche Bindungen, auch wenn sie nicht eingehalten oder ratifiziert wurden, wie die UDSSR das Genfer Kriegsgefangenenabkommen von 1929 nicht unterzeichnet hatte und die Haager Landkriegsordnung von 1907 nicht als verbindlich anerkannte. Als im Lauf des Krieges der „Sparstoff Mensch“ (so einst Keitel) auch in den sowjetischen Kriegsgefangenen entdeckt wurde, führte dies aber nicht zu besseren, entsprechenden Ernährungsrationen. Andauernd wurden Gefangene arbeitsunfähig oder starben. Die NS-Ideologie der Bevorzugung angeblich rassisch höherwertiger Menschen blieb bis zum Kriegsende bestimmend – dagegen hungerten in der Sowjetunion fast alle Menschen: Deutsche Kriegsgefangene ebenso wie die einheimische Bevölkerung.
Eberhard Radczuweit, Jg.1941, erzählt über „Die Arbeit von KONTAKTE-KOHTAKTbl e.V.“ Einst wurde der Verein unter dem Namen „Deutsch-Sowjetische Kontakte“ gegründet, und als die UDSSR zerfiel, schrumpfte auch der Vereinsname. Er schildert wie die Kriegsverbrechen in den Briefen der überlebenden Gefangenen dokumentiert sind: „Weit über 3.000 ihrer Briefe haben wir ins Deutsche übersetzt (…). Seit sechs Jahren stellen wir jedes Wochenende einen dieser Briefe ins Internet“.An die Briefschreibenden kam die Initiative auf folgende Weise: Die Medien hatten ihr Engagement für vergessene NS-Opfer wahrgenommen und das Spendenkonto veröffentlicht. So begann „ein Auszahlungsprogramm…Jeder, dessen Dokumente geprüft waren, erhielt von uns einen Brief mit einem Schlüsselwort Entschuldigung! Wir baten um Verzeihung… und kündigten eine symbolische Geldleistung von 300 Euro als Geste der Anerkennung erlittenen Unrechts an. Gleichzeitig baten wir die Spendenempfänger um Mithilfe bei der Geschichtsaufklärung.“
Dieser Tagungsband eignet sich sehr gut, um die nachwachsende Generation auf den Stand des nötigen Wissens über die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu bringen. Auch die späte Aufklärung in Deutschland über die eigenen Verbrechen wird deutlich. Die Generation der Autoren lädt damit ein, in eine ‚Erzählgemeinschaft’ einzutreten. Wer schon viel über diesen Krieg und seine Gräuel weiß, kann auf einfache Weise seinen Kenntnisstand prüfen.
Über das Buch: Chaja Boebel / Frank Heidenreich / Lothar Wentzel (Hrsg.), Vernichtungskrieg im Osten und die sowjetischen Kriegsgefangenen, Verbrechen – Verleugnung – Erinnerung, 128 Seiten, November 2012, EUR 12.80, ISBN 978-3-89965-543-1
DGB/Heiko Sakurai
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