Deutscher Gewerkschaftsbund

07.02.2013

Der große Kahlschlag

Die Krise der europäischen Autoindustrie

Autobild

bd0 / photocase.com

Die Krise der Autoindustrie erfasst inzwischen auch erste Standorte im Osten der Europäischen Union, die bislang einigermaßen ungeschoren durch den Beschäftigungskahlschlag in der Branche kamen. Anfang des Jahres traf es die Belegschaft des Fiat-Standorts im südpolnischen Tychy, wo mit 1450 Arbeitern rund ein Drittel der gesamten Belegschaft entlassen wird. Bis zum März dieses Jahres soll der Beschäftigungsabbau laut Planungen der Geschäftsführung abgeschlossen sein.

Abwicklung ohne Sozialplan

Die Stimmung innerhalb der Belegschaft sei „bedrückend“, erklärte Wanda Stróżyk, die Vorsitzende der Gewerkschaft NSZZ “Solidarność” bei Fiat Tychy, im Gespräch mit der GEGENBLENDE Anfang Januar. Es handele sich um eine „tragische Situation“ für einen jeden entlassenen Mitarbeiter und die gesamte Region, da der Beschäftigungsabbau bei Fiat bereits erste Entlassungswellen bei lokalen Zulieferbetrieben nach sich ziehe. Stróżyk nannte in diesem Zusammenhang weitere 600 verlorene Arbeitsplätze in der Region Schlesien. Die sozialen und ökonomischen Folgen dieser Entlassungswellen würden bis nach Kattowitz reichen, so die Gewerkschafterin. Jeder Lohnabhängige, der den Betrieb in einer freiwilligen Übereinkunft verlasse, könne auf eine Abfindung in Höhe von neun bis 18 Monatsgehältern rechnen, ansonsten betrage die Abfindungssumme nur zwei bis drei Gehälter.

Die Entlassenen bei Fiat Tychy müssen nun auf dem Arbeitsmarkt neue Beschäftigungsmöglichkeiten suchen. Das ist bei einer landesweiten Arbeitslosenquote von 13,3 Prozent nicht gerade leicht. Für die Entlassenen werde es schwierig werden, neue Arbeitsplätze zu finden, erläuterte Tadeusz Dzwilerski von der Gewerkschaft WZZ "Sierpień 80", die ebenfalls bei Fiat Tychy aktiv ist. In der Region seien auch in anderen Branchen, wie etwa in Kohlebergwerken, Massenentlassungen im Gange. „Die jüngeren Arbeiter werden wohl auswandern.“ erklärte Dzwilerski. Fiat habe aber immerhin einige Programme zur Fortbildung der Entlassenen angeboten. Von der Haltung der Regierung in Warschau ist der Gewerkschafter hingegen bitter enttäuscht: „Es sollten ursprünglich 17 Millionen Zloty (rund 4,1 Millionen Euro) im Rahmen eines Sozialplans fließen, doch nun erhalten wir überhaupt nichts!

Die Autokrise und Mittelosteuropa

Neben der Fiat Group - deren europaweiter Absatz in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres um 16 Prozent einbrach - gehört auch Opel zu den großen Verlierern der europäischen Autokrise. Die Absatzzahlen der Traditionsmarke befinden sich in einem beständigen Fall: nach 1,19 Millionen verkauften PKW in 2011 sollen in diesem Jahr nur noch 845 000 Fahrzeuge der Marken Opel und Vauxhall von den Fließbändern europäischer Autofabriken rollen. Folglich hat das große Zittern um die Arbeitsplätze auch die Opel-Beschäftigten im westpolnischen Gleiwitz erfasst. Rund 2900 Arbeiter fertigen an diesem Standort den Opel Astra der vierten Generation, sowie das Cabriolet Cascada. Anfang Januar erklärte Betriebsleiter Andrzej Korpak gegenüber Medienvertretern offen, dass es in diesem Jahr vor allem darum gehen würde, „alles zu tun, um das Beschäftigungsniveau“ im Betrieb zu halten und Massenentlassungen zu verhindern. Für das laufende Jahr rechne man mit einem Rückgang des Autoabsatzes „um fünf Prozent in Europa“, prognostizierte Korpak. Diesen Rückgang werde die Belegschaft „zu schultern“ haben.

Diese ersten Massenentlassungen in Mittelosteuropa schrecken eine Region auf, die aufgrund des niedrigen Lohnniveaus und der Nähe zu den westeuropäischen Absatzmärkten in den vergangenen Jahren zu einem neuen Zentrum der europäischen Autoindustrie ausgebaut wurde. Neben Polen, Rumänien (Dacia) sowie Ungarn gilt dies insbesondere für Tschechien und die Slowakei. In diesem Jahr soll Prognosen zufolge jedes vierte in der EU produzierte Auto in diesen mittelosteuropäischen Ländern gefertigt werden. Allein auf dem Territorium der ehemaligen Tschechoslowakei wurden laut ersten Schätzungen 2012 rund zwei Millionen Fahrzeuge gefertigt, wodurch diese Wirtschaftsregion zum zweitgrößten Autoproduzenten Europas aufstieg. In Tschechien und der Slowakei produzieren VW, Kia, Hyndai, Toyota und PSA Peugeot Citroen bei Löhnen, die immer noch weit unter dem in Südeuropas Krisenstaaten üblichen Niveau liegen.

Kaum ein Land Europas hat eine dermaßen extreme Abhängigkeit von der Automobilindustrie entwickelt wie die Slowakei, die inzwischen in Branchenkreisen als „Detroit des Ostens“ bezeichnet wird. Gut ausgebildete und billige Arbeitskräfte, die zentrale Lage unweit von Wien und das Steuerdumping (Flat-Tax!) der früheren neoliberalen Regierungen – all das trug dazu bei, dass die Autokonzerne rund um Bratislava Produktionsstätten errichteten, die zusammen mit den dort angesiedelten Zulieferfirmen inzwischen den wohl größten Cluster des Fahrzeugbaus in ganz Mittel- und Osteuropa bilden. In der Slowakei lassen Kia Motors, Volkswagen und PSA Peugeot Citroën Personenwagen herstellen, die zu 97 Prozent für den Export bestimmt sind. Die Produktion dieses Zentrums der Fahrzeugindustrie ist enorm: Nach einem krisenbedingten Einbruch 2009 fertigten die slowakischen Autofabriken 2011 rund 650 000 Fahrzeuge, die der Branche ­einen Umsatz von mehr als vierzehn Milliarden Euro bescherten. Im vergangenen Jahr soll der Fahrzeugausstoß sogar auf  900.000 Fahrzeuge angestiegen sein. Mit 104 Pkws pro Jahr auf tausend Einwohner­Innen hat die Slowakei den weltweit höchs­ten Kraftfahrzeugausstoß im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Rund 25 Prozent aller slowakischen Ausfuhren, ein Drittel der Industrieproduktion und ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts entfallen auf die Autoindustrie.

Dennoch sind die Boomzeiten auch in diesem „Detroit des Ostens“ bereits vorbei. Der Fahrzeughersteller Kia kündigte an, dass die Produktion in diesem Jahr mit 290 000 PKWs gegenüber dem Vorjahr leicht um 2000 Stück zurückgehen werde, während das PSA-Werk im slowakischen Trnava im vergangenen Jahr bereits an 21 Tagen Kurzarbeit anordnen musste, um die Überkapazitäten abzubauen. Der slowakische Regierungschef Robert Fico pochte eigens bei einer Staatsvisite in Paris darauf, dass Trnava von Massenentlassungen verschont bleibe. In Bratislava hofft man offensichtlich, dass Trnava die Produktionslücken füllen werde, die bei der angekündigten Schließung des PSA-Standortes in Madrid in 2014 entstehen werden.

Die Krise im Westen und Süden

Tatsächlich waren bislang hauptsächlich der Westen und Süden Europas von Standortschließungen und Massenentlassungen in der Branche betroffen. In Belgien werden 4300 Ford-Arbeiter und rund 5000 Beschäftigte in Zulieferbetrieben ihre Arbeitsplätze ab 2014 verlieren, in Bochum sollen ab 2016 keine Opel-Pkws mehr produziert werden, eine weitere Werkschließung peilt Peugeot in Aulnay-sous-Bois nahe Paris an. Ford will hingegen in Großbritannien noch ein Presswerk in Dagenham und ein Werk in Southampton dichtmachen. Schon jetzt steht fest, dass dieser gigantische Arbeitsplatzkahlschlag in den kommenden Jahren europaweit wohl Zehntausende von Arbeitsplätzen vernichten wird.

Die Entscheidung vieler Autohersteller, im Gefolge der sich verschärfenden Krisenkonkurrenz nun verstärkt auf die Standorte in Osteuropa zu setzten, scheint aufgrund des niedrigen Lohnniveaus betriebswirtschaftlich rational. Von den 16 Millionen europaweit verkauften Pkws in 2007 ist der Absatz auf 12,8 Millionen in 2012 eingebrochen, wobei für das laufende Jahr ein weiterer Rückgang erwartet wird. Die mit Lohn- und Steuerdumping erkauften Konkurrenzvorteile Osteuropas scheinen somit für einen jeden Hersteller aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen heraus ungemein verlockend. Doch bilden etwa die slowakischen Arbeiter aufgrund von Monatslöhnen von nur 750 Euro kaum potenzielle Kunden für die Fahrzeughersteller. 97 Prozent der slowakischen Autoproduktion gehen ins – hauptsächlich westliche - Ausland. Der massive Abbau der relativ gut entlohnten Beschäftigung in Westeuropa, der auf betriebswirtschaftlicher Ebene sinnvoll erscheint, verstärkt auf volkswirtschaftlicher Ebene vermittels der korrespondierenden Nachfrageeinbrüche die Absatzkrise der Autoindustrie.

Am Auto wird gespart

Die Sparmaßnahmen der Autohersteller intensivieren somit den massiven europaweiten Nachfrageeinbruch, der durch die - maßgeblich von der Bundesregierung durchgesetzte - Sparpolitik in der EU ausgelöst wurde. Das Berliner „Spardiktat“ hat den Absatz von Fahrzeugen in Südeuropa regelrecht kollabieren lassen, worunter vor allem die auf diesen Märkten exponierten Hersteller wie Fiat und PSA zu leiden haben: im vergangenen November gingen in Griechenland die Neuzulassungen von Pkws gegenüber dem Vorjahresmonat um 47 Prozent zurück, in Spanien waren es 20 Prozent, in Portugal 25 Prozent und in Italien 20,1 Prozent. Selbst Frankreich musste einen Rückgang der Neuzulassungen von 19,2 Prozent melden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass dieser Nachfragerückgang schon seit etlichen Monaten – mitunter seit Jahren – anhält, weswegen die Autoverkäufe in Griechenland sich inzwischen auf dem Niveau von 1980 bewegen. In Spanien wurden seit 1986 nicht mehr so wenige Neufahrzeuge verkauft wie im vergangenen Dezember. Diese Nachfrageeinbrüche illustrieren die verheerenden Folgen der „Sparpolitik“, die Europa immer tiefer in die Rezession treibt - und die inzwischen auch auf die Wirtschaftszentren des Währungsraums übergreift. Laut Zahlen des Kraftfahrzeugbundesamtes sanken im Dezember 2012 die Neuzulassungen von Personenkraftwagen in der Bundesrepublik im Jahresvergleich um 16,4 Prozent. Damit beschleunigt sich der Abwärtssog auch in Deutschland, wo im gesamten vergangenen Jahr ein Rückgang der Neuzulassungen von 2,9 Prozent verzeichnet wurde. Mit 204.331 neu zugelassenen Fahrzeugen stellte der vergangene Dezember den absatzschwächsten Jahresabschluss seit 1990 dar!

Die deutschen Hersteller konnten nur aufgrund ihrer sehr guten Präsenz in China und den USA sich in 2012 – noch – zu den „Krisengewinnern“ zählen und reihenweise neue Absatzrekorde erreichen. Dabei war es gerade die massive Staatsverschuldung in den Vereinigten Staaten, die den dortigen Wirtschaftsaufschwung durch Steuernachlässe und Konjunkturmaßnahmen ankurbelte. Allein im vergangenen Oktober wuchs der Fehlbetrag der US-Regierung auf 120 Milliarden Dollar, wobei das Haushaltsdefizit für das Gesamtjahr aller Wahrscheinlichkeit nach mehr als eine Billion Dollar betragen wird! Von diesem schuldenfinanzierten Boom in den Vereinigten Staaten konnten die deutschen Autohersteller besonders profitieren. Volkswagen etwa erreichte im vergangenen Oktober mit einem Absatzplus von 22 Prozent und 34.000 verkauften Einheiten das beste Ergebnis seit 40 Jahren. Insgesamt konnte die deutsche Autobranche ihren Absatz in den USA in der ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres um 20 Prozent steigern, sodass deren Absätze schneller wuchsen als der gesamte Markt, der um 17 Prozent expandierte. Das in der deutschen Öffentlichkeit und Politik populäre Lästern über die rasante Verschuldungsdynamik in den USA wirkt angesichts dieser Zahlen reichlich weltfremd, da die deutschen Absatzrekorde bei einem ähnlich harten Sparregime in den USA, wie es Berlin der Eurozone oktroyierte, schlicht nicht möglich wären.

Angesichts der parteipolitischen Auseinandersetzungen um die Fiskalklippe und die Schuldenbremse in Washington scheint es aber sicher, dass diese - wahlkampfbedingt aufrecht gehaltene – Defizitkonjunktur in den USA bald zum Erliegen kommen wird. Als einziges globales Standbein der deutschen Autoexporteure bleibt somit noch China auf Wachstumskurs, wo die Neuzulassungen auch im vergangenen Dezember einen Anstieg um 5,7 Prozent auf beachtliche 1,46 Millionen Einheiten verzeichneten. Es steht somit außer Frage, dass 2013 auch für die erfolgsverwöhnten deutschen Fahrzeughersteller zu einem Krisenjahr wird, da massive Absatzeinbrüche in Europa unvermeidlich, und ein Absatzrückgang in den USA wahrscheinlich ist.

Aussichten

Neben dem Nachfrageeinbruch trägt mit dem Produktivitätswachstum noch ein weiterer, gemeinhin kaum beachteter Faktor zur Krise der Autoindustrie und zum Beschäftigungsabbau in dieser Branche bei: Je stärker die Konkurrenz innerhalb der Autoindustrie, desto größer auch die Neigung der Unternehmen, durch Rationalisierungsmaßnahmen die eigene Produktivität zu erhöhen und sich somit Konkurrenzvorteile zu sichern. Die Branche ist folglich durch permanente Produktivitätssteigerungen gekennzeichnet, die sie in einem regelrechten Wachstumszwang treiben, wie ihn Dietmar H. Lamparter in der Wochenzeitung Die Zeit beschrieb:

„Die Krux an der Situation: Selbst wenn die deutschen Hersteller die Verkäufe ihrer Fahrzeuge konstant halten können, wächst mit jedem neuen Modell der Druck auf die Arbeitsplätze. Die Produktivität beim Wechsel von Golf V auf Golf VI sei in Wolfsburg um mehr als zehn Prozent und in Zwickau sogar um mehr als 15 Prozent gestiegen, verriet ein stolzer VW-Chef Winterkorn bei der Präsentation der Neuauflage des wichtigsten Konzernfahrzeugs. Das bedeutet, dass für die Montage der gleichen Zahl von Autos fünfzehn Prozent weniger Leute nötig sind. Wenn also vom Golf VI nicht entsprechend mehr abgesetzt wird, sind Jobs in Gefahr. Genauso läuft es bei neuen Modellen von BMW, Mercedes oder Opel. Teilweise werden dort Produktivitätssprünge von 20 Prozent erzielt.“ ( „Notbremsungen“, Die Zeit vom 21.10.2012)

Das bedeutet somit, dass VW, Mercedes oder Opel auch ihren Absatz entsprechend der Produktivitätsfortschritte steigern müssen, wollen sie keine Mitarbeiter entlassen und dieselben Gewinne realisieren. Wiederum geraten hier betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Logik in Widerspruch, da die hierdurch für das Einzelunternehmen realisierten Konkurrenzvorteile gesamtwirtschaftlich zu einem Rückgang der Nachfrage führen. Den Autoherstellern gehen so mit jeder Automatisierungswelle immer mehr Kunden verloren. Die Rolle der Autoindustrie als zentraler Beschäftigungsgarant ist ohnehin in den meisten Ländern Europas längst Geschichte.

Selbst im „De­troit des Ostens“, der Slowakei, werden nur 3 Prozent der dort produzierten Autos auch abgesetzt und trotz der omnipräsenten Autobranche hat das Land mit einer Arbeitslosigkeit von über vierzehn Prozent zu kämpfen. Die gesamte Fahrzeugindustrie in der Slowakei beschäftigte 2010 gerade mal 70000 Lohnabhängige, die damals rund 500 000 Pkws bauten. Inzwischen sind es ohne größeren Beschäftigungsaufbau (bei 74 000 Beschäftigen in 2012) ja voraussichtlich 900 000 Fahrzeuge geworden.


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Tomasz Konicz
geb. 1973 in Olsztyn/Polen
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Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

DGB/Heiko Sakurai

Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.

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