Deutscher Gewerkschaftsbund

08.07.2022
Inflation

Bitte heizen Sie nicht!

Erst die Pandemie, nun Krieg und Inflation: Die Durchhalteparolen der Regierung beschwören die in der Corona-Krise eingeübten Muster. Es offenbaren sich die Grenzen und sozialen Schlagseiten politischer Moral.

Alter Heizkörper

Colourbox

Meldungen an der Grenze zur Realsatire: Um Gas zu sparen, rät der Wirtschaftsminister, kürzer oder weniger zu duschen. Ein Wohnungsunternehmen stellt seinen Mieter*innen stundenweise das heiße Wasser ab. Eltern, heißt es in den Nachrichten, sollen mit ihren Kindern darüber reden, ob künftig wirklich alle Räume der Wohnung warm sein müssen. Der kommende Herbst, so der dringliche Tenor, werde schlimm, und dann wütet da immer noch eine Seuche. “Maßnahmen” wie Kontaktverbote oder gar Schulschließungen sind erneut im Gespräch, werden zumindest “nicht ausgeschlossen”. Die düstere, scheinbar alternativlose Kernbotschaft für die Wintermonate lautet überspitzt formuliert: Ihr sollt wegen Corona zu Hause bleiben, aber dabei bitte nicht heizen!

"Wir müssen jetzt alle zusammenstehen!"

Robert Habeck hält sich bereit, als wichtigster Verlautbarer der Durchhalteparolen, als eine Art Neo-Churchill. Blood, sweat and tears – Blut, Schweiß und Tränen – verlangt er in Sachen Energie. Das gefügsame Befolgen von Appellen wurde in der  Pandemie schon eingeübt und verinnerlicht: Die Politik tut das Richtige für euch! Wir müssen jetzt alle zusammenstehen! Wir schließen die Reihen, zelebrieren das “große Wir”. Horrend steigende Wohnkosten, die Rationierung von Mehl oder überteuerte Erdbeeren müsst ihr ertragen – zugunsten der Verteidigung unserer Werte in der Ukraine!

In Zeiten des Krieges werden gern Saturiertheit und Bequemlichkeit angeprangert, Drückeberger, Weicheier und Warmduscher abgewatscht. Man verfolgt höhere Ziele, preist die Tugend der Genügsamkeit. Wohlstandsverluste sollen klaglos in Kauf genommen werden, jede*r habe jetzt ein Scherflein beizutragen. Christian Lindner fordert mehr Überstunden, Frank-Walter Steinmeier einen Pflichtdienst für alle: Dem Staate dienen, am besten gleich beim Militär, wenigstens mit sozialem Engagement.

Der einzelne solle es richten. Wie bei Corona wird die Industrie geschont, an der hängen schließlich die Arbeitsplätze! So privatisiert man die Folgen einer Sanktionspolitik, die auch den Sanktionierenden schadet. Von der Regierung (mit)verursachte Probleme werden den Regierten in die Schuhe geschoben. Die Summe der Zumutungen fördert den Populismus, gefährdet letztlich Freiheit und Demokratie. Längst hat die rechte AfD das Wort “Moralpolitik” für sich entdeckt, entwickelt einen neuen Kampfbegriff – der Kritik von links an deren Inhalten schwieriger macht.

Teurer Strom: Solidarität können sich nicht alle leisten

SPD und Grüne orientieren sich nicht am Individuum, sie schauen im Gegensatz zum liberalen Koalitionspartner stets auf das große Ganze. Sie misstrauen der persönlichen Eigenverantwortung, wie sie etwa die Pandemiepolitik in Schweden leitete. Sie neigen zur Bevormundung, wollen ihre paternalistischen Entscheidungen erst “erklären”, wenn sie diese getroffen haben.

Das zentrale Problem: Die drängelnd eingeforderte Solidarität können sich nicht alle leisten. Gaspreis-Steigerungen um bis zu 400 Prozent werden befürchtet, Strom wird ebenfalls deutlich teurer. Die Grundsteuer orientiert sich bald an den aktuellen Bodenrichtwerten, am Marktpreis einer Immobilie. Das ist vernünftig angesichts der rasanten Vermögenszuwächse der Eigentümer*innen, enthält aber einen gravierenden Schönheitsfehler. Denn der Staat lässt weiterhin zu, dass diese Abgabe einfach auf die Mieter*innen umgelegt wird. Schon Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnungen verschlingen in manchen Großstädten zwischen 1000 und 1500 Euro, mit Heizung und weiteren Nebenkosten sind es schnell 2000 Euro. Wer soll das bezahlen?

Inflation wird zum wichtigsten (innenpolitischen) Thema der nächsten Monate, vielleicht Jahre. Die AfD orientiert sich am französischen Vorbild. Marine Le Pen bestritt ihren Präsidentschaftswahlkampf vorwiegend mit der Skandalisierung steigender Preise. Schon die militanten “Gelbwesten” im Nachbarland kämpften gegen hohe Benzinkosten. Die Grünen, mit ihrer meist gut verdienenden und weitgehend sorgenfrei lebenden Wählerklientel, interessieren sich kaum für die sozialen Folgen ihrer Politik. Der schnelle Ausstieg aus der Braunkohle musste her, die Arbeitsplätze der Kumpel waren unwichtig. Landwirt*innen sollen einen Teil ihrer Flächen nicht mehr beackern dürfen, wegen des Insektensterbens – mitten in einer eskalierenden Hungerkrise, die zugleich moralin beklagt wird.

“Der Neoprotestantismus duldet keinen Widerspruch, seine schärfste Waffe ist die brutale Abwertung anderer Lebensweisen und ein bislang nicht dagewesener Kulturkolonialismus”, analysiert der Schriftsteller Navid Kermani. Er spricht vom Klassenkampf einer autoritär-ökologisch geprägten Mittel- und Oberschicht gegen das (Sub)Proletariat. Dessen Vertreter*innen duschen, rauchen und trinken zu viel, sie essen Fleisch statt Gemüse, sie sind dick und bewegen sich zu wenig, lieben protzige Autos und fahren kein Rad. Und dann arbeiten sie auch noch in Branchen, “die man am liebsten gleich stilllegen würde” – wie der Chemie-, Stahl- oder Aluminiumindustrie.

Inflation: Vorschläge der Gewerkschaften

Es ist eine volkswirtschaftliche Binse: Wenn die Waren des täglichen Bedarfs teurer werden, belastet das Menschen mit niedrigen Einkommen überdurchschnittlich. Alle müssen essen, brauchen ein Dach über dem Kopf, müssen sich gegen gesundheitliche Risiken absichern. Die Krankenkassen kündigen höhere Beiträge an, sie wälzen die enormen Zusatzkosten der Pandemie auf ihre Mitglieder ab. Kleine Selbständige, ohnehin Stiefkinder staatlicher Hilfen, können wegen ihrer schwachen Marktposition kaum höhere, die Inflation ausgleichende Honorare für ihre Dienstleistungen durchsetzen. Corona, wachsende Rüstungsausgaben und der Umbau der Energieerzeugung führen zu mehr Staatsverschuldung. Notdürftig verschleiern Sondertöpfe die Haushaltsprobleme, am Ende drohen Steuererhöhungen. Aber für wen?

Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi plädiert im Kontext der Konzertierten Aktion dafür, die Gas- und Strompreise bis zu einer garantierten Mindestmenge pro Kopf zu deckeln. Nur der Verbrauch darüber hinaus würde dann deutlich teurer. Das, so argumentiert sie, sei zudem ein Anreiz zum Energiesparen. Ihr Vorschlag könnte gerade ärmere Haushalte entlasten. Aber wer gleicht die erhöhten Beschaffungskosten der Versorger aus? Fahimi betrachtet das zu Recht als verteilungspolitische Frage. Sie fordert, die staatliche Schuldenbremse weiter auszusetzen, sie will Wohlhabende und Reiche zur Kasse bitten. Die dazu passenden Ideen liegen seit Jahren auf dem Tisch: Wiedereinführung der einst abgeschafften Vermögenssteuer, Mehreinnahmen durch eine höhere Erbschaftsteuer. Die Chancen der Umsetzung aber sind minimal, mit einem FDP-Finanzminister in der Ampelkoalition, der stattdessen lieber bei den Mitteln zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen sparen will.

Mit moralistischen Appellen an die individuelle Verantwortung der Bürger*innen werden wir die derzeitigen Krisen nicht lösen. Nein, wir brauchen strukturelle Antworten. Menschen und Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, die – sogar in der Pandemie reicher geworden sind – wäre da eine Lösung.


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Kurzprofil

Thomas Gesterkamp
Thomas Gesterkamp schreibt seit über 30 Jahren als Journalist über die Arbeitswelt und Familienpolitik.
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