Tarifliche Branchenmindestlöhne definieren Lohnuntergrenzen, die von allen Betrieben einer Branche eingehalten werden müssen. Das gilt unabhängig davon, ob sie tarifgebunden sind oder nicht. In Ergänzung zum gesetzlichen Mindestlohn haben Branchenmindestlöhne eine wichtige Funktion, um Niedriglöhnen zu begrenzen. Sie sollten in Zukunft eine stärkere Rolle spielen, schreibt Tarifexperte Reinhard Bispinck.
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Zu Beginn des Jahres 2023 bestehen in Deutschland in insgesamt zwölf Branchen tarifvertraglich vereinbarte allgemeinverbindliche Mindestlöhne. Die meisten Branchenmindestlöhne liegen deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn. Der Mindestlohn in der Fleischindustrie mit aktuell 11,50 Euro wird durch den gesetzlichen Mindestlohn verdrängt.
Reinhard Bispinck
In der Mehrzahl der Branchen gibt es lediglich einen Mindestlohn. Zu den Ausnahmen gehören das Gebäudereinigerhandwerk mit zwei unterschiedlichen Mindestlöhnen für die Innen- und Unterhaltsreinigung (13 Euro) und für die Glas- und Fassadenreinigung (16,20 Euro), ferner das Dachdeckerhandwerk mit Mindestlöhnen für Hilfstätigkeiten (13,30 Euro) und für Facharbeit (14,80 Euro), die berufliche Weiterbildung mit Mindestentgelten für pädagogische Mitarbeiter*innen mit Bachelorabschluss (18,41 Euro) und ohne diesen Abschluss (17,87 Euro) und schließlich der Pflegebereich. Hier bestehen drei Mindestlöhne und zwar für ungelernte Kräfte (13,70 Euro), Pflegekräfte mit mindestens 1-jähriger Ausbildung (14,60 Euro) und Pflegefachkräfte (17,10 Euro).
Die Branchenmindestlöhne sind ein tarifpolitisch umkämpftes Terrain: So sind beispielsweise im Bauhauptgewerbe Ende 2021 nach über 25 Jahren Gültigkeit die tariflichen Branchenmindestlöhne ersatzlos ausgelaufen, weil sich die Tarifparteien nicht auf neue Mindestlohnsätze einigen konnten (IG BAU 2022). Im Maler- und Lackiererhandwerk gelang eine Einigung auf eine Fortschreibung erst nach monatelangen Verhandlungen im Dezember 2022, als die bisherigen Mindestlöhne schon seit über einem halben Jahr ausgelaufen waren. Die starke Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes im vergangenen Jahr auf 9,82 Euro im Januar, auf 10,45 Euro im Juli und schließlich 12 Euro ab Oktober bewirkte bei manchen Branchenmindestlöhnen auch deutliche Steigerungen.
Branchenmindestlöhne können mithilfe verschiedener Rechtsinstrumente festgelegt werden. Das älteste ist die Allgemeinverbindlicherklärung nach Paragraf 5 Tarifvertragsgesetz. Danach kann das Bundesarbeitsministerium im Einvernehmen mit dem paritätisch besetzten Tarifausschuss einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten erscheint.
Die zweite und am häufigsten genutzte Möglichkeit bietet das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das 1996 eingeführt wurde. Zielsetzung des AEntG war zunächst die Verhinderung von Lohndumping durch Unternehmen aus anderen EU-Ländern, die ihre Beschäftigten in Deutschland zu geringeren Löhnen einsetzen, als sie hier üblich sind. Der Geltungsbereich erstreckte sich zu Beginn im Wesentlichen auf das Baugewerbe. Aber im Laufe der Jahre wurde er schrittweise auf andere Branchen ausgeweitet und schließlich die Möglichkeit für alle Branchen geschaffen, tariflich vereinbarte Mindestarbeitsbedingungen auf die gesamte Branche zu erstrecken, um auf diese Weise faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten (Bispinck/WSI-Tarifarchiv 2010).
Schließlich bietet das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz seit 2011 die Möglichkeit, auf Vorschlag der Tarifvertragsparteien bundesweit vereinbarte Mindeststundenentgelte als verbindliche Lohnuntergrenze festzulegen.
Von den aktuell bestehenden Branchenmindestlöhnen basieren zwei auf einer Allgemeinverbindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz (Elektrohandwerk, Schornsteinfegerhandwerk), einer auf dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (Leiharbeit/Zeitarbeit) und neun auf einer Rechtsverordnung auf der Basis des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes.
Überblickt man den Zeitraum seit der Verabschiedung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, zeigt sich bei den Branchenmindestlöhnen eine wellenförmige Entwicklung. In den ersten zehn Jahren (1997–2007) lag die Zahl der Branchen mit Mindestlöhnen bei drei bis fünf. In den folgenden zehn Jahren stieg die Zahl auf bis zu 19 und seit 2018 schwankt die Zahl zwischen elf und 14.
Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass der Zeitraum mit Mindestlöhnen in den einzelnen Branchen unterschiedlich lang ausfiel. In zehn Branchen bestanden Mindestlöhne lediglich zwischen drei und fünf Jahren. In sieben Branchen erstreckte sich der Zeitraum auf zehn bis 15 Jahre. In vier Branchen waren es zwischen 20 und 27 Jahren. Teilweise liegt die Ursache darin, dass der Geltungsbereich des AEntG sich erst schrittweise erweitert hat, teilweise gelang den Tarifparteien keine Einigung oder sie verzichteten auf die Fortführung der Mindestlöhne.
Reinhard Bispinck
Tarifliche Branchenmindestlöhne werden in der Regel in den allgemeinen Lohnrunden in den jeweiligen Branchen mit verhandelt. Die dort bestehenden sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmen maßgeblich den Spielraum für Erhöhungen der Mindestlöhne. Im Jahr 2020 fielen die Steigerungen der Branchenmindestlöhne in den meisten Branchen noch stärker aus als die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes, im Jahr 2021 war das nur noch in wenigen Branchen der Fall. Im Jahr 2022 fiel die zweistufige Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes um insgesamt 22,2 Prozent deutlich stärker aus als bei allen Branchenmindestlöhnen. Über den gesamten Zeitraum von 2020 bis 2023 betrachtet, ist daher der Abstand der Branchenmindestlöhne zum gesetzlichen Mindestlohn relativ zurückgegangen. Er fällt je nach Branche und Mindestlohn sehr unterschiedlich aus, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Reinhard Bispinck
Die weitere Entwicklung der Branchenmindestlöhne ist für die kurze Frist in vielen Branchen bereits festgelegt (vgl. Übersicht Tarifliche Branchenmindestlöhne – wie geht es weiter?). In sieben Branchen reicht die Laufzeit des jeweiligen Mindestlohns bis Ende 2023, teilweise erfolgt in diesem Zeitraum noch eine weitere Erhöhung. In vier Branchen gilt eine tarifliche Festlegung sogar bis Ende 2024. In zwei Bereichen läuft der Branchenmindestlohn bereits im Laufe des Jahres 2023 aus. Dringender Handlungsbedarf existiert in der Fleischindustrie, denn hier liegt der derzeit gültige Mindestlohn (11,50 Euro) bis November 2023 unter dem gesetzlichen Mindestlohn und ist damit faktisch wirkungslos.
Offen ist, ob es gelingt, ausgelaufene Branchenmindestlöhne wieder mit Leben zu erfüllen. Von großer Bedeutung wäre dies zum Beispiel im Bauhauptgewerbe, wo die beiden Branchenmindestlöhne für Werker (12,85 Euro) und Fachwerker (15,70 Euro) Ende 2021 ausgelaufen sind. Dasselbe gilt für das Friseurgewerbe, wo der Branchenmindestlohn 2016 ausgelaufen ist, oder die Abfallwirtschaft, deren Mindestlohn im September 2022 endete.
Schließlich wäre zu überlegen, ob nicht das Instrument generell eine stärkere Rolle spielen sollte, um oberhalb des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes tarifliche Mindestentgelte branchenweit festzulegen und damit die negativen Folgen der geringen Tarifbindung in vielen Bereichen zu begrenzen. Vor wenigen Jahren gab es tarifliche Branchenmindestlöhne in immerhin 19 Wirtschaftszweigen, zum Teil auch mit höheren Mindestlöhnen für Fachkräfte. Es spricht viel dafür, die tariflichen Branchenmindestlöhne systematischer für die Zurückdrängung des Niedriglohnsektors zu nutzen. Dies könnte auch ein Schritt zu einer insgesamt stärkeren Nutzung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sein.
Zum Weiterlesen:
Reinhard Bispinck, Branchenmindestlöhne – ein unterschätztes Instrument, Analysen zur Tarifpolitik, Nr. 93, Düsseldorf, Januar 2023 https://www.wsi.de/fpdf/HBS-008512/p_ta_analysen_tarifpolitik_93_2023.pdf