Deutscher Gewerkschaftsbund

23.03.2023

Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst: zur Geschichte des TVöD und TV-L

Im öffentlichen Dienst wird dieses Jahr zweimal über einen Tarifvertrag verhandelt. Aktuell für Angestellte und Arbeiter*innen bei Bund und Kommunen, im Herbst für die Länder. Warum es keinen einheitlichen Tarifvertrag für den gesamten öffentlichen Dienst gibt, erklärt Tarifexperte Reinhard Bispinck.

Demonstrierende mit Transparenten sowie ver.di- und GEW-Fahnen; Warnstreik in der Tarifrunde Öffentlicher Dienst der Länder, 26. Februar 2019 in Berlin

Warnstreik-Kundgebung der DGB-Gewerkschaften in der Tarifrunde 2019 im Öffentlichen Dienst der Länder am 26. Februar 2019 auf dem Bebelplatz in Berlin DGB

Von Reinhard Bispinck

Ende März verhandeln die Gewerkschaften und die öffentlichen Arbeitgeber für Bund und Gemeinden bereits in der 3. Runde über den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Im Herbst 2023 beginnen die Verhandlungen über den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L). Diese zweigeteilte Grundstruktur hat eine lange Vorgeschichte, die vor 20 Jahren an Dynamik gewann.

Reformdruck öffentliche Unternehmen durch Liberalisierung

Die Vorgängertarifverträge von TVöD und TV-L hatten ein beachtliches Alter. So stammte der berühmte Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) aus den frühen 1960er Jahren und ist ebenso wie die Arbeiter-Tarifverträge in seiner Grundstruktur weitgehend unverändert geblieben. Reformbedarf ergab sich nicht nur aus der Veränderung der Tätigkeiten im öffentlichen Dienst selbst. Die Schaffung des europäischen Binnenmarktes setzte die öffentlichen Unternehmen und Betriebe unter enormen Wettbewerbsdruck. Durch Liberalisierung und Privatisierung verloren sie in vielen Bereichen ihre Monopolstellung, z.B. in der Energiewirtschaft, im Nahverkehr, in der Abfallwirtschaft und im Krankenhauswesen.

Schließlich führte die zunehmend prekäre Finanzsituation der Gebietskörperschaften seit Anfang der 1990er Jahre dazu, dass auch die Arbeitgeber nach Auswegen suchten, um die Personalkosten zu begrenzen. Tarifflucht war eine davon. Verbunden mit Erosionsprozessen innerhalb der Arbeitgeberverbände ergab sich auch für die Gewerkschaften eine prekäre Situation. Die Fragmentierung des Tarifsystems nahm ihren Lauf. Erste Spartentarifverträge wurden im Versorgungsbereich und im Nahverkehr abgeschlossen.

2003: Prozessvereinbarung zur Neugestaltung des Tarifrechts im öffentlichen Dienst

Nach jahrelangen Diskussionen und Vorbereitungen auf Seiten der Gewerkschaften wie auch der öffentlichen Arbeitgeber nahm 2003 die grundlegende Umgestaltung der Tarifvertragslandschaft im öffentlichen Dienst Fahrt auf. Die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes schlossen im Januar 2003 eine Prozessvereinbarung ab. Ziel war es, das Tarifrecht innerhalb von zwei Jahren zu modernisieren und neuzugestalten.

Es gab eine zentrale Lenkungsgruppe und zusätzlich 9 Projektgruppen, die ihre Arbeit im Mai 2003 aufnahmen. Vier Projektgruppen beschäftigten sich mit den inhaltlichen Regelungsbereichen Arbeitszeit, Entgelt und leistungsorientierte Vergütung, Eingruppierung und manteltariflichen Fragen. Fünf weitere Projektgruppen beschäftigten sich mit speziellen Regelungen für die Bereiche Verwaltung, Krankenhäuser, Sparkassen, Flughäfen und Entsorgung.

Der Verhandlungsprozess wurde durch das Verhalten der Länder-Arbeitgeber, die in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) organisiert sind, nachhaltig beeinträchtigt: Sie kündigten einzelne Tarifverträge, mehrere Länder drohten mit einem Austritt aus der TdL. Zudem forderten die Länder eine Arbeitszeitverlängerung auf bis zu 42 Stunden wie bei den Beamten. Die Gewerkschaften brachen daraufhin im Frühjahr 2004 die Verhandlungen mit den Ländern ab und verhandelten zunächst nur noch mit dem Bund und den Kommunen. Im Februar 2005 erreichten sie ein umfassendes Verhandlungsergebnis.

2005: Tarifverhandlungen Öffentlichen Dienst (TVöD)

Kern des neuen TVöD war einheitliches Entgeltsystem mit 15 Entgeltgruppen für Arbeiter*innen und Angestellte mit einer Differenzierung der Entgeltgruppen in sechs Stufen nach Tätigkeitsjahren. Dafür entfielen die allgemeine Zulage, sowie die nach Familienstand und Minderzahl differenzierten sogenannten „Ortszuschläge“. Der TVöD enthielt ferner eine Besitzstandssicherung des erreichten Einkommens und sah einen teilweisen Ausgleich künftiger Einkommensverluste durch einen Strukturausgleich vor. Die Einführung einer neuen untersten Entgeltgruppe, deutlich unterhalb des bisherigen untersten Vergütungsniveaus, sollte vor allem weiteres Outsourcing verhindern. Die Unkündbarkeitsregeln wurden übernommen.

Tarifverhandlungen Öffentlicher Dienst Bund und Kommunen 2005: Pauschalzahlungen statt Entgelterhöhungen

Für die Jahre 2005 bis 2007 wurden statt Entgelterhöhungen Pauschalzahlungen von jeweils 300 Euro vereinbart und das Tarifniveau bei den Gemeinden Ost jeweils um 1,5 Prozent angehoben. Ab dem Jahr 2007 sollte eine variable leistungsorientierte Bezahlung im Volumen von zunächst einem Prozent eingeführt werden mit einer Zielgröße von acht Prozent. Das bisherige Urlaubs- und Weihnachtsgeld wurde zu einer Sonderzahlung zusammengefasst, die je nach Entgeltgruppe 60/80/90 Prozent eines Monatseinkommens betrug.

Die Arbeitszeit für die Beschäftigten des Bundes wurde im Westen von 38,5 auf 39 Stunden/Woche erhöht, im Osten dagegen von 40 auf 39 Stunden/Woche abgesenkt. In den Kommunen wurde die bisherige Arbeitszeit von 38,5/40 Stunden/Woche (West/Ost) beibehalten. Allerdings wurde eine Öffnungsklausel vereinbart, die eine Arbeitszeitverlängerung bis zu 40 Stunden pro Woche auf kommunaler Ebene im Westen ermöglichte. Voraussetzung dafür war eine Vereinbarung auf landesbezirklicher Ebene.

Eine Meistbegünstigungsklausel sah vor, dass künftige günstigere Tarifregelungen auf Länderebene als nicht widerrufbares Angebot an Bund und Kommunen gelten.

Neuer Tarifvertrag (TVöD): Abkehr vom Senioritätsprinzip

Bei der Beurteilung des neuen Tarifwerks setzten die Tarifparteien unterschiedliche Akzente: Der damalige ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske betonte, das Tarifrecht sei „zukunftsfest“ gemacht worden, keine/r der Beschäftigten verliere etwas, jüngere Beschäftigten könnten dazugewinnen. Innerhalb von ver.di gab es auch kritische Stimmen. Sie bezogen sich auf die Absenkung gegenüber dem bisherigen Tarifniveau, die neue Niedriglohngruppe und die Einführung der Leistungsvergütung. Die Arbeitgeber begrüßten die Abkehr vom Senioritätsprinzip und den familien- und kinderzahlbezogenen Bestandteilen und sprachen von Zugeständnissen, die „zuvor kaum vorstellbar“ erschienen.

In drei Bundesländern nutzten die Arbeitgeber die Öffnungsklausel und forderten von ver.di eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit. In allen drei Tarifgebieten kam es im Frühjahr 2006 zu Streiks. In Hamburg einigten sich der Tarifparteien nach zwei Wochen Arbeitskampf, in Niedersachsen dauerte es über vier Wochen und in Baden-Württemberg sogar rund zwei Monate, bis ein Abschluss erzielt wurde. In unterschiedlicher Form wurde eine Arbeitszeitverlängerung zumeist für einen begrenzten Teil der Beschäftigten vereinbart.

2006: Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L)

Die Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst hielt auch im Jahr 2006 an. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder lehnte die Forderung von ver.di nach Übernahme des Tarifergebnisses strikt ab.

Das finanzielle Volumen des Gesamtpakets war ihnen viel zu hoch. Außerdem forderten sie eine Verlängerung der Arbeitszeit sowie eigenständige Regelungen zum Urlaubs- und Weihnachtsgeld.

Die Verhandlungen scheiterten, es kam zu einem breit angelegten Arbeitskampf, der sich über 14 Wochen hinzog. Im Mai 2006 erzielten die Tarifvertragsparteien ein Ergebnis: Ähnlich wie bei Bund und Kommunen wurde eine einheitliche Entgelttabelle sowie ein zusätzliches Leistungsentgelt eingeführt. Für die Jahre 2006 und 2007 wurden Pauschalzahlungen zwischen 50 und 450 Euro vereinbart. Die ebenfalls vereinbarte Jahressonderzahlung variiert je nach Bundesland zwischen 30 und 95 Prozent eines Monatseinkommens. Die Wochenarbeitszeit wurde in den Ländern nach einer bestimmten Formel differenziert angehoben, um die oben genannte Meistbegünstigungsklausel zu umgehen. Im Westen betrug sie durchschnittlich 39,22 Stunden, im Osten blieb sie bei 40 Stunden. Insgesamt war damit trotz struktureller Ähnlichkeiten eine tarifliche Spaltung des öffentlichen Dienstes in Bund und Gemeinden einerseits und Länder andererseits etabliert, die sich seither in den Tarifrunden fast jährlich abwechseln.

Kommunale Krankenhäuser: Marburger Bund als eigenständige Tarifpartei

Eine weitere Veränderung der Tariflandschaft ergab sich dadurch, dass sich der Marburger Bund als gewerkschaftliche Vertretung der angestellten Ärzt*innen aus der langjährigen Tarifgemeinschaft mit der ÖTV / ver.di löste. Durch umfangreiche Streikmaßnahmen sowohl in den kommunalen Krankenhäusern als auch auf Landesebene für die Universitätskliniken konnte sich der MB als eigenständige Tarifvertragspartei etablieren.

Neben TVöD und TV-L gibt es zudem den Tarifvertrag für die öffentlichen Versorgungsunternehmen (TV-V), der als Spartentarifvertrag bereits 2000 vereinbart wurde sowie die landesbezirklichen Tarifverträge für öffentlichen Nahverkehrsunternehmen (TV-N).

Öffentlicher Dienst: Leistungsorientierten Bezahlung (LOB) in der Kritik

Dem Abschluss des TVöD im Februar 2005 folgten längere Redaktionsverhandlungen, der Vertrag selbst trat zum 1.10.2005 in Kraft. Die praktische Umsetzung nahm zum Teil Jahre in Anspruch. Die Umstellung von den zuvor getrennten Lohn- und Gehaltstarifverträgen auf den neuen einheitlichen Entgelttarifvertrag erfolgte zunächst nach einem Überleitungstarifvertrag, die Verhandlungen für eine neue Entgeltordnung wurden für die Länder 2011, für den Bund 2013 und für den Kommunalbereich erst 2016 endgültig abgeschlossen. Die neuen Entgeltordnungen regeln im Detail die Zuordnung der einzelnen Tätigkeiten zu den Entgeltgruppen. Dabei wurde das Eingruppierungsrecht modernisiert und die große Zahl der Tätigkeitsmerkmale deutlich reduziert.

Ein schwieriges Kapitel des TVöD ist die Anwendung und Ausgestaltung der Leistungsorientierten Bezahlung (LOB), die derzeit zwei Prozent des Monatsentgelts beträgt. Die Grundstruktur der Entgeltordnung ist bis heute erhalten geblieben, wurde aber in einigen Fällen weiterentwickelt. So konnte ver.di für einige Berufsgruppen, etwa im Sozial- und Erziehungsdienst und im Gesundheitswesen, nach zum Teil harten Tarifauseinandersetzungen deutliche Verbesserungen der Entgeltordnung durchsetzen. Eine zeitliche Synchronisierung der Tarifverhandlungen für Bund, Länder und Gemeinden ist bis heute nicht gelungen.

Zum Weiterlesen

Reinhard Bispinck/WSI-Tarifarchiv (2006): Tarifpolitischer Jahresbericht 2005, Düsseldorf
https://www.wsi.de/fpdf/HBS-003513/p_ta_jb_2005.pdf

Reinhard Bispinck/WSI-Tarifarchiv (2007): Tarifpolitischer Jahresbericht 2006, Düsseldorf
https://www.wsi.de/fpdf/HBS-003774/p_ta_jb_2006.pdf

Werner Sauerborn (2005): Stellvertreterpolitik, aber gute - Zum Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst, in: express 3/2005, S. 1-4

Werner Schmidt, Andrea Müller (2014): Leistungsentgelt in den Kommunen: Praxis einer umstrittenen Regelung, in: WSI-Mitteilungen 2/2014 https://www.wsi.de/data/wsimit_2014_02_schmidt.pdf    

Michael Wendl (2005): Paradigmenwechsel. Der neue Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, in: Sozialismus 3/2005, S. 38-41.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Kurzprofil

Reinhard Bispinck
war bis Mai 2017 Abteilungsleiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und Leiter des WSI-Tarifarchivs.
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