Afghanische Richter und Staatsanwälte sind vor den Taliban nach Pakistan geflohen und berichten von menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Vor allem ehemalige Richterinnen und Staatsanwältinnen müssen auch im Nachbarland um ihr Leben fürchten. Die Taliban kommen über die Grenze, um sich an ihnen für Urteile zu rächen. Eine Delegation der europäischen Richter*innenvereinigung MEDEL hat sie besucht. Der dramatische Appell: Die europäischen Regierungen müssen schnell helfen.
Das Recht auf Bildung ist den afghanischen Frauen nach der Machtübermahme durch die Taliban 2021 wieder genommen worden. Im Bild sind zwei junge Afghaninnen zu sehen, die im Jahr 2008 an einem der fast dreitausend Alphabetisierungskurse des UN-Kinderhilfswerk teilgenommen haben. United Nations Photo / flickr / CC BY-NC-ND 2.0
1985 haben die Richter*innen und Staatsanwält*innen der der Gewerkschaft ötv (heute: ver.di) die Europäische Vereinigung Richter*innen und Staatsanwält*innen für Demokratie und Grundrechte (Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés, MEDEL) mitgegründet. Heute ist die Vereinigung ein rechtspolitisches Frühwarnsystem von Portugal bis Georgien. Zudem kümmert sich die Vereinigung auch um die Anliegen von Jurist*innen in autoritären Regimen. In diesem Zusammenhang hat eine Delegation von MEDEL (und der NGO 14Lawyers) Ende September 150 afghanische Richter*innen und Staatsanwält*innen getroffen, die in Pakistan Schutz vor den Taliban suchen.
Die afghanischen Kolleg*innen sind nun schon über ein Jahr in Pakistan und versuchen – bisher vergebens – die europäischen Regierungen auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Sie brauchen schnell Hilfe. Ihre Situation ist schockierend, wie Delegationsmitglieder feststellen. Der Bericht der Delegation wird Anfang Dezember auf der nächsten Delegiertenkonferenz von MEDEL in Barcelona beraten werden. MEDEL hat all seine Mitgliedsorganisationen gebeten, über ihre Medien dazu beizutragen, dass die europäische Öffentlichkeit über die unerträgliche, lebensbedrohende Situation informiert wird. So soll Handlungsdruck für die nationalen Regierungen entstehen. Ein Vorabbericht zeigt, unter welchen schlimmen Bedingungen die Jurist*innen in Pakistan leben müssen.
Die Situation dieser Gruppe von Geflüchteten ist absolut prekär und nicht hinnehmbar. Sie haben es mit Hilfe von MEDEL, 14Lawyers und zahllosen andern NGOs kurz vor dem Fall von Kabul noch geschafft, zu fliehen. Seitdem leben sie in einem rechtlichen Niemandsland, das allen öffentlichen Erklärungen über angeblich beste Absichten widerspricht, die von westlichen Regierungen unmittelbar nach dem Beginn der Herrschaft der Taliban abgegeben wurden.
Die von der pakistanischen Regierung ausgestellten vorläufigen Visa sind längst abgelaufen. Die Geflohenen müssen jeden Moment mit einer Rückführung nach Afghanistan rechnen, was einem Todesurteil gleichkäme. Wegen des ungesicherten Status in Pakistan haben sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, dürfen nicht legal arbeiten, ihre Kinder dürfen nicht zur Schule gehen. Und die ohnehin begrenzten Finanzmittel, die sie über die Grenze hatten mitnehmen können, sind aufgebraucht.
Was diese Geflohenen zu berichten haben – ganz besonders die 35 Staatsanwältinnen, die ganz offensichtlich einem noch größeren Risiko ausgesetzt sind, ist schockierend. So haben zwei der Frauen in Pakistan Kinder geboren, ohne medizinische Unterstützung; eine der beiden Frauen hatte eine Fehlgeburt; die andere sah ihr Kind sterben. Sie leben in einem Zustand permanenter Angst, müssen ständig die Wohnung wechseln, verlassen kaum das Haus und wenn die Frauen es tun, verhüllen sie sich vollständig. Es gibt zahlreiche Berichte über Hetzjagden, wo Taliban über die Grenze nach Pakistan kamen, um die afghanischen Juristinnen zu suchen. Zudem leben sie mit der Angst, dass sie durch ihre Flucht die in Afghanistan verbliebenen Angehörigen in große Gefahr gebracht haben. Und es gibt unablässig Drohungen: eine Staatsanwältin hat jüngst die Botschaft eines Taliban erhalten, dessen Verurteilung sie bei Gericht erwirkt hatte, dass es für sie keinen Schutz gebe. Er werden sie aufsuchen, ihren Ehemann töten und sie zu seiner Frau machen.
Alle Frauen, haben von der Hoffnung gesprochen, mit der sie sich einstmals für ein Studium entschieden haben – oft gegen die Wünsche und Vorstellungen ihrer Familien und der Gemeinschaft, in der sie lebten. Als Juristinnen waren sie der festen Meinung, könnten sie in der afghanischen Gesellschaft zu mehr Gleichberechtigung und Gerechtigkeit beitragen. Sie können eindrucksvoll von den Schwierigkeiten berichten, von den Steinen, die ihnen in den Wege gelegt wurden, wenn es darum ging, die Rechte der Frauen und Kinder zu verteidigen. Oder, wie sie gegen den Drogenhandel gekämpft haben – eine Haupteinnahmequelle der Taliban. Und nun gehören viele Verurteilte zu den neuen Machthabern, sie wurden im August 2021 freigelassen.
An westliche Staaten gerichtete Asylgesuche werden durch eine Mauer von Bürokratie und durch einen Mangel an materiellen und personellen Ressourcen in den Botschaften blockiert. Das ist der Delegation durch ein Treffen mit dem spanischen Botschafter in Islamabad klar geworden. Ein vergleichbares Treffen mit dem portugiesischen Botschafter, ist in letzter Minute abgesagt worden. Ein Vorabbericht der Delegation schließt mit den Worten: „Was wir den geflohenen afghanischen Richter*innen und Staatsanwält*innen und ganz besonders den Frauen unter ihnen schulden ist nicht nur eine moralische Pflicht. Vielmehr gebietet dies der Respekt vor den Prinzipien des Internationalen Rechts, an die die Staaten gebunden sind.
Für MEDEL, seine Mitgliedsorganisationen und Partner (wie 14Lawyers) wird das Engagement für sie alle auch in Zukunft eine selbstverständliche Aufgabe sein: Angesichts eines Regimes, das die Frauen zwingt „ohne Gesicht zu leben“, werden wir ihre Stimme sein.“
Damit sind die Aufgaben für die europäische Politik, allen voran für die Bundesinnenministerin und die Bundesaußenministerin (ganz besonders im Sinne einer feministischen Außenpolitik) beschrieben.
1985 haben die Richter*innen und Staatsanwält*innen der der Gewerkschaft ötv (heute: ver.di) die Europäische Vereinigung Richter*innen und Staatsanwält*innen für Demokratie und Grundrechte (Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés, MEDEL) mitgegründet. Heute ist die Vereinigung ein rechtspolitisches Frühwarnsystem von Portugal bis Georgien.
Immer wenn in einem Land ein zweifelhaftes Vorhaben der Exekutive (oder auch eine Gesetzesinitiative oder eine Gerichtsentscheidung) den demokratischen und sozialen Rechtstaat in Gefahr bringt, ist MEDEL in ganz Europa in der Lage, kurzfristig ein rechtsvergleichendes Tableau zur Lage von Gesetz und Rechtsprechung zu erstellen. Das hat oft eine hilfreiche und stabilisierende Wirkung und stärkt den Kolleginnen und Kollegen, die dort konkret den demokratischen und sozialen Rechtstaat verteidigen und/oder deren Unabhängigkeit bedroht ist, den Rücken. Ich nenne beispielhaft den Kampf der polnischen Kolleg*innen gegen die Versuche, ihre Unabhängigkeit zu beeinträchtigen oder die Unterdrückung der demokratisch gesonnenen Teile der türkischen Richterschaft (nicht erst) seit 2016, über die ich am 11. August 2016 in der „Gegenblende“ berichtet habe. Unser Kollege Murat Arslan, Vorsitzender der inzwischen in der Türkei verbotenen MEDEL-Mitgliedsorganisation YARSAV und Vaclav-Havel-Preisträger des Europarates 2017, befindet sich seit Oktober 2016 ununterbrochen in Haft.