Die Gewerkschaften fordern 10,5 Prozent mehr Gehalt, mindestens aber 500 Euro, für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Warum die Forderung berechtigt ist und die Warnung vor einer Lohn-Preis-Spirale ökonomischer Unfug ist, erklärt ver.di-Chefökonom Dierk Hirschel.
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Ein Paukenschlag! Erzieherinnen, Müllwerker, Busfahrerinnen und Feuerwehrleute fordern 10,5 mehr Gehalt – mindestens aber 500 Euro. Die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes – Bund und Kommunen – ist die zweitgrößte Tarifbewegung der Republik. Ab Januar 2023 verhandelt ver.di für 2,5 Millionen Beschäftigte. Der Abschluss hat Signalwirkung für nachfolgende Tarifverhandlungen.
Vor fast 50 Jahre nahm die Gewerkschaft ÖTV letztmals einen solch großen Schluck aus der Pulle. Damals forderte ÖTV-Chef Heinz Kluncker 15 Prozent mehr Lohn. Anschließend erstritt die ÖTV nach hartem Arbeitskampf ein historisches Plus von elf Prozent.
Die 1970er Jahre waren Krisenzeiten. Im Herbst 1973 drehten Algerien, Irak, Libyen, Saudi-Arabien & Co den Ölhahn zu – in Reaktion auf Unterstützung Israels durch den Westen im Jom-Kippur-Krieg. Der Preis für das schwarze Gold kletterte in wenigen Wochen um über 70 Prozent. Der explodierende Ölpreis trieb die Inflation auf sieben Prozent. Die Ölkrise erwischte die fossile deutsche Industrie mit voller Wucht. Im ersten Quartal 1974 wuchs die deutsche Wirtschaft nur noch um 1,5 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen verdoppelte sich in wenigen Monaten auf 620.000.
Auch heute wird das Einkaufen, Tanken und Wohnen immer teurer. Die Preise werden 2022 um voraussichtlich acht Prozent klettern. Das ist die stärkste Teuerung seit 40 Jahren. Und auch nächstes Jahr bleibt der Preis heiß. Solange der russische Angriffskrieg und die EU-Sanktionen andauern und markmächtige Konzerne weiterhin die Preise treiben, geht die Inflation nicht vorbei. Die hohen Preise belasten die wirtschaftliche Entwicklung. Teures Öl und Gas schwächen die Kaufkraft der privaten Haushalte und erhöhen die Energiekosten der Unternehmen. Die Einfuhr von Öl, Gas und Kohle aus dem Ausland kostet die deutsche Volkswirtschaft inzwischen rund 280 Mrd. Euro im Jahr.
Im Herbst 2022 sind dunkle Wolken am Konjunkturhimmel aufgezogen. Die heimische Wirtschaftsleistung wird in den nächsten Monaten schrumpfen. Die professionellen Auguren gehen davon aus, dass die heimische Wirtschaftsleistung 2023 zwischen 0,1 und 1,75 Prozent zurückgehen wird. Wie stark der Wachstumsmotor tatsächlich gedrosselt wird, ist aber auch abhängig von der nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik, der EZB-Geldpolitik und der Lohnentwicklung. Ein gutes politisches Krisenmanagement und steigende Reallöhne können der Konjunktur schnell wieder Beine machen. Positiv ist zudem, dass der Arbeitsmarkt noch immer sehr robust ist. Trotz Inflation und Energiekrise sinkt die Arbeitslosigkeit.
Kräftige Lohn- und Gehaltszuwächse sind das beste Mittel gegen steigende Lebenshaltungskosten. Wirtschaftsliberale Ökonomen sehen das naturgemäß anders. Die hohen Tarifforderungen von ver.di und IG Metall sind ein willkommener Anlass, um vor einer drohenden Lohn-Preis-Spirale zu warnen. Das ist ökonomischer Unfug. Für das laufende Jahr wird ein republikweiter Tariflohnzuwachs von drei Prozent erwartet. Dies bedeutet einen Reallohnverlust von fünf Prozent. Von Lohn- und Preisdruck ist weit und breit keine Spur. Zudem gibt es keinen Automatismus zwischen steigenden Preisen und Löhnen. Für die Preise sind immer die Unternehmer verantwortlich. Wenn Löhne und Arbeitskosten steigen, erhöhen einige Firmen ihre Preise – vorausgesetzt der Wettbewerb lässt das zu – , um zu verhindern, dass ihre Gewinnmarge schrumpft. Sie könnten aber auch mit niedrigeren Gewinnen wirtschaften. Aus ökonomischer Sicht spricht also jetzt nichts gegen kräftige Lohnsteigerungen.
Doch kann ein Staat, der in den letzten zwei Jahrzehnten ständig notoperieren musste, überhaupt etwas verteilen? Für viele Bürgermeisterinnen und Kämmerer ist die Antwort klar: Einem Nackten kann nicht in die Tasche gegriffen werden. Sie wollen eine Tarifpolitik nach Kassenlage. Zwar sprudeln aktuell noch die Steuereinnahmen. Doch dunkle Wolken am Konjunkturhimmel, zusätzliche Ausgaben – Ukraineflüchtlinge, Pandemie, Investitionen, etc. – und die Schuldenbremse lassen Bund und Kommunen angeblich keine finanziellen Spielräume.
Der Verteilungsspielraum des Staates ist aber immer politisch gestaltbar. Eine Aussetzung der Schuldenbremse für 2023 würde Bund, Länder und Kommunen mehr finanziellen Gestaltungsspielraum geben. Die aktuelle Energiekrise ist eine Notlage, die dies verfassungsrechtlich ermöglicht. Lediglich Finanzminister Christian Lindner verhindert das. Höhere Löhne für Kindergärtnerinnen, Busfahrer und Müllmänner können aber auch ohne neue Schulden bezahlt werden. Dafür müssten hohe Einkommen und Vermögen stärker besteuert werden. Eine solch umverteilende Steuerpolitik ist in Anbetracht der ungleich verteilten Krisenlasten überfällig.
Bleibt zu hoffen, dass den Kassenwarten bewusst ist, dass diese Tarifauseinandersetzung keine gewöhnliche Tarifrunde ist. Für viele Beschäftigte geht es in diesem Verteilungskonflikt ums Ganze.
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