Junge Leute müssen nicht mehr darüber nachdenken, ob sie bereit sind, sich an bewaffneten Konflikten zu beteiligen. In Zeiten militärischer Eskalation birgt das Risiken. Denn die Wehrpflicht ist nur ausgesetzt und keineswegs abgeschafft.
DGB/Simone M. Neumann
Von Thomas Gesterkamp
Dem “Vaterland” als Soldat zu dienen, empfinden die meisten jungen Männer nicht als Ehre. Sie betrachten militärische Zwangsdienste eher als Last. Zudem gab es aus historischer Sicht in der militärischen Praxis stets klassenspezifische Unterschiede. Generäle und andere Angehörige der Oberschicht standen selten in den Schützengräben an vorderster Front. In Vietnam kämpften vorrangig schwarze US-Amerikaner und weiße Arbeiter für die “Freiheit des Westens”. Nicht viel anders läuft es heute in der Ukraine: Während Ex-Botschafter Andrij Melnyk heimische Deserteure beschimpft und Männer unter 60 das Land nicht verlassen dürfen, studiert sein Sohn in Berlin.
“Zahl der Kriegsdienstverweigerer verfünffacht” lauteten kurz nach dem Jahreswechsel die Schlagzeilen deutscher Nachrichtenportale. Hinten der reißerischen Überschrift verbirgt sich ein Anstieg auf niedrigstem Niveau. Nur 201 Männer haben hierzulande in 2021 verweigert; im vergangenen Jahr waren es vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges 951. Das klingt lächerlich wenig, es liegt an der Berechnungsmethode. Denn die amtliche Statistik berücksichtigt nur noch Angehörige der Bundeswehr sowie Reservisten, sie zählt ausschließlich verweigernde Berufssoldaten. Millionen andere junge Männer, die seit 2011 keine “Musterung” mehr absolvieren müssen, werden gar nicht erst erfasst.
Für fast zwei Generationen - die zwischen Ende der 1930er bis Anfang der 1990er Jahre geborenen männlichen Jugendlichen - war es ein fester Bestandteil ihrer Biografie: Kurz vor dem 18. Geburtstag meldete sich die Obrigkeit, ein behördliches Schreiben flatterte ins Elternhaus. “Sie haben sich zur Tauglichkeitsprüfung im Kreiswehrersatzamt einzufinden.” Wer es nicht schaffte, mit Hilfe ärztlicher Atteste ausgemustert zu werden, stand vor einer schwierigen persönlichen Entscheidung: Gehe ich zum “Bund” oder verweigere ich, mache statt dessen Zivildienst?
“Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden”, steht in Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes. Dessen Väter und Mütter garantierten die Möglichkeit zur Verweigerung angesichts der damals noch sehr präsenten Erfahrungen im Nationalsozialismus. Die gängige Parole “Nie wieder Krieg!” brachte die pazifistische Stimmung der Bevölkerung auf den Punkt. Nie wieder sollten junge Männer zwangsweise zum Soldatentum verpflichtet, nie wieder Deserteure als “Vaterlandsverrräter” hingerichtet werden können.
Schneller als erwartet setzte Mitte der 1950er Jahre die Remilitarisierung der Bundesrepublik (und auch der DDR) ein. Mit der Gründung der Bundeswehr war die Wehrpflicht wieder da, die Nationale Volksarmee führte sie nach dem Mauerbau ein. Erneut wurde alle jungen Männer “gemustert”, das in Westdeutschland verankerte Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aber ließ sich nicht einfach abschaffen. Um die Zahl der Abweichler niedrig zu halten, setzte man, um im Militärjargon zu bleiben, auf Abschreckung. Der “Ersatzdienst” dauerte länger als der Militärdienst, vor allem aber wurde ein Prüfungsverfahren zur Erforschung der “Gewissensgründe” eingeführt. Verunsicherte junge Männer saßen dort einschüchternden Ermittlern gegenüber. Meist wurden diese von staatlichen Behörden abgestellt, und so mancher Regierungsrat a.D. machte nicht den Eindruck, er nähme das Grundgesetz besonders ernst. “Stellen Sie sich vor, Sie laufen durch einen Park, ein Russe kommt vorbei und will Ihre Freundin vergewaltigen. Was machen Sie dann?” lautete die legendäre Fangfrage. Von der Nazizeit geprägte Amtsträger wollten angebliche Drückeberger überführen, unterstellten ihnen, ihr Gewissen nur vorzuschieben.
Entsprechend gering war anfangs die Zahl der anerkannten Anträge. Zwei Jahrzehnte lang blieb sie stets unter 5000 pro Jahrgang. Kriegsdienstverweigerung wurde gesellschaftlich weitgehend missbilligt, galt als fragwürdige Abweichung von der Norm. Selbst während der Studentenproteste 1968 gingen nur knapp 12.000 Männer nicht zur Bundeswehr. Ab Mitte der 1970er Jahre aber schnellten die Zahlen plötzlich auf bis zu 70.000 hoch. 1983 wurde die umstrittene Gewissensprüfung abgeschafft, verweigern konnte man nun “per Postkarte” - mit dem Ergebnis, dass ganze Abiturklassen nahezu geschlossen verweigerten. 1991, im Jahr des Golfkriegs, wählten 151.212 junge Männer lieber den Zivildienst, ein Spitzenwert. Von 2002 bis zur Aussetzung der Wehrpflicht registrierten die Behörden 1.179.691 KDV-Anträge - im Durchschnitt also rund 120.000 Verweigerer pro Jahr, bei schon erheblich kleineren Alterskohorten. Kriegsdienst und der inzwischen öffentlich längst positiv bewertete Zivildienst hielten sich nahezu die Waage. Der Anteil der Verweigerer wuchs mit leichten Schwankungen weiter; 2001 entschieden sich 49 Prozent der tauglich “Gemusterten” gegen das Militär.
Zusammengerechnet leben in Deutschland mehrere Millionen anerkannte Kriegsdienstverweigerer. Zu ihnen gehören auch führende Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz oder Wirtschaftsminister Robert Habeck. Die junge Generation aber befindet sich in einem Schwebezustand, für sie fehlt jede Statistik. Formal hat sie gar nicht die Option zu verweigern, weil sie nicht mehr gemustert wird. Das könnte sich aber schnell wieder ändern. Denn die Wehrpflicht wurde nur ausgesetzt, sie steht weiterhin im Grundgesetz. Der Bundestag hat die Möglichkeit, den Zwangsdienst mit Zweidrittelmehrheit jederzeit wieder einzuführen.
Nur wenigen jungen Männern dürfte bislang bewusst sein, welches Risiko das für sie bedeutet. Denn der Krieg in der Ukraine eskaliert, und er droht sich in die Länge zu ziehen, von Diplomatie auf beiden Seiten keine Spur. Im Ernstfall - “worst case” wäre ein Einmarsch von NATO-Streitkräften - könnte sich rächen, dass Jugendliche mit Erreichen der Volljährigkeit keine Haltung zum Dienst an der Waffe mehr entwickeln müssen. Der Status aller deutschen Männer, die 1993 oder später geboren wurden, ist völlig ungeklärt. Doch in dieser Generation dominiert Ahnungs- und Sorglosigkeit. Selbst wenn gar nicht so wenige im Grundsatz pazifistisch orientiert sein sollten - offiziell anerkannt als Kriegsdienstverweigerer sind sie eben nicht. Zudem ist das Recht auf KDV keineswegs in Stein gemeißelt. Ein Staat, in dem die Hälfte der jungen Männer den Militärdienst ablehnt, hat ein massives Mobilisierungsproblem.
Damit dies stärker sichtbar wird, bedarf es einer politischen Kampagne. Auch die Gewerkschaften, in der Vergangenheit ein wichtiger Faktor der deutschen Friedensbewegung, könnten einen Aufruf an alle unter 30-Jährigen unterstützen: Verweigert vorsorglich den Kriegsdienst! Macht gemeinsam deutlich, wie stark die antimilitaristische Grundstimmung in Deutschland nach wie vor ist.
Zum Autor: Thomas Gesterkamp engagierte sich als Schüler im Jugendclub Courage der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegner für Abrüstung. Nach der Musterung verweigerte er, fiel in der ersten Prüfungsverhandlung durch und begann daraufhin ein Freiwilliges Soziales Jahr. Nach sieben Monaten beendete er dieses vorzeitig, weil seine Gewissensgründe in zweiter Instanz anerkannt wurden. Insgesamt hat er fast zwei Jahre lang dem Staat für ein Taschengeld “gedient”.