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Transparente und fair geregelte Arbeitsteilung ist Voraussetzung für die Teilhabe an der demokratischen Willensbildung. So lautet die These des Sozialphilosophen Axel Honneth in seinem neuen Buch „Der arbeitende Souverän“. Eine Rezension von Rudolf Walther.
Midjourney / DGB
Der Philosoph und Soziologe Axel Honneth, ehemaliger Direktor des berühmten „Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ widmet sich in seiner neuesten Studie einem Thema, das leider in der sozialwissenschaftlichen wie in der politischen Diskussion fast keine Rolle mehr spielt. Obwohl es gerade für Gewerkschaften in mehrfacher Hinsicht von ganz zentraler Bedeutung ist.
Seit der französische Philosoph und Intellektuelle André Gorz 1980 mit seinem Buch „Abschied vom Proletariat“ das Ende der Arbeitsgesellschaft verkündete, weil die technologische Entwicklung die zentrale Stellung der Arbeit bzw. der herkömmlichen Lohnarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft verdrängt und an die Rand gedrückt habe, geriet auch das Arbeitsverhältnis in den politischen Debatten aus dem Blickfeld. An deren Stelle trat die Diskussion um das arbeitsfreie, garantierte Grundeinkommen mit seinen verschiedenen Modellen ins Zentrum des Interesses.
Honneth beschäftigt sich in seinem Buch nicht mit den diversen Modellen der Finanzierung oder der Höhe und den Bedingungen der Gewährung eines wie auch immer ausgestalteten Grundeinkommens, sondern ausschließlich mit dem Problem, warum der Arbeit in Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie eine starke Zentralität zugesprochen wurde, wie und warum Arbeit dieser Position verlor und wie sie ihr wieder zukommen könnte.
Denn ohne Zweifel spielt das Arbeitsverhältnis eine zentrale Rolle für jede Demokratietheorie, weil der in der Verfassung vorgesehene politische Souverän nun einmal zuerst und im Normalfall der arbeitende Bürger, der danach erst und nur als solcher staatsbürgerlich-politischer Citoyen mit allen Rechten wird. Die Vereinzelung der Bürger durch den Modus der Arbeitsteilung, die alle Gesellschaftstheorie seit Adam Smith und Karl Marx als einen Hauptnerv der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft identifizierten, ist allerdings der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wie der Emanzipation des Einzelnen nicht förderlich. Darauf machte bereits der deutsche Philosoph Hegel in seiner „Rechtsphilosophie“ (1821) aufmerksam, als er auf die Bedeutung der Arbeit für „Anerkennung und Ehre“ hinwies und damit für Emanzipation und Freiheit von Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Adam Smith, einer der Gründer der modernen Ökonomie, betonte, dass Bevölkerung, die weitgehend auf einfache Verrichtungen fixiert, intellektuell abgestumpft und seelisch verkümmert und deshalb zur Teilhabe am Gemeinwesen untauglich sei. Er schlug deshalb vor, mit betrieblicher Bildung Arbeitende auf die Teilhabe am zivilisierten Sozialleben vorzubereiten.
Erst 50 Jahre nach Hegels Tod thematisierte der französische Soziologe Èmile Durkheim (1857-1917) erstmals den Zusammenhang zwischen politischer Partizipation und gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Dieser Zusammenhang geriet jedoch in Vergessenheit, bis ihn der amerikanische Rechtsphilosoph und Demokratietheoretiker John Rawls 1975 in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ und 2003 in seinem Buch „Gerechtigkeit als Fairness“ wieder aufs Tapet brachte. Er begründete, dass Demokratien dafür sorgen sollten, dass Arbeitsverhältnisse so organisiert sind, das Arbeitende unbeschränkten Zugang zu Prozessen demokratischer Willensbildung haben müssen. Außer Rawls beschäftigte sich auch der deutsche Philosoph Jürgen Habermas in seinem Standardwerk „Faktizität und Geltung“ (1992) mit der Bedeutung des öffentlichen Bildungssystems und der Organisationsweise der gesellschaftlichen Arbeitsteilung als wichtigsten Institutionen der Teilhabe an der demokratischen Willensbildung.
Honneth nennt fünf Aspekte bzw. Voraussetzungen für die Befähigung und den Zugang zu demokratischer Teilhabe:
So fallen die Hausarbeit der Frauen/Ehefrauen, sowie die meisten Tätigkeiten, die nicht direkt mit der Herstellung und dem Verkauf von Waren zu tun haben (also Formen von Pflege, Kindererziehung oder Betreuung von Alten und Kranken für die meisten Autor*innen aus Gesellschafts- und Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts aus dem Begriff von Arbeit heraus – mit einer Ausnahme. Der englische Ökonom John Stuart Mill hob immerhin schon auf den sofort einleuchtenden gesellschaftlichen Nutzen von solchen sonst nicht als Arbeit beachteten Tätigkeiten ab.
Honneth versteht unter gesellschaftlicher Arbeit dagegen „alle Tätigkeiten, die nach gemeinschaftlich geteilter Überzeugung dem Wohl der ganzen Gesellschaft dienen und die daher allgemein gesetzten Standards der Angemessenheit zu unterliegen haben.“ Rein private Tätigkeiten, Hobbys oder schwer als Arbeit verallgemeiner- und akzeptierbare „bull-shit-jobs“ (David Graeber), fallen aus seiner Definition heraus.
Entgegen der Redeweise vom 19. Jahrhundert als dem „Industriezeitalter“ nannte der Sozialhistoriker Jürgen Kocka das Jahrhundert historisch präziser als dasjenige der Dienstmädchen, denn diese Personengruppe machte einen größeren Teil der Gesamtbeschäftigtenzahl aus als die klassischen Industriearbeiter und die in der Landwirtschaft Beschäftigten. Immerhin verbesserten Sozialreformen und Fortschritte bei der Sozialversicherung gegen Alter und Krankheit sowie Schulreformen und Erfolge der gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeitenden das Potential für eine Demokratisierung der Arbeits- und Sozialbeziehungen und damit die Chancen für die Teilhabe der Mehrheit an der demokratischen Willensbildung. Von einer „Industriegesellschaft“ zu sprechen, erlauben eigentlich erst die Arbeitsverhältnisse in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, d. h. nach der massenhaften Eingliederung von Frauen in die industrielle und gesellschaftliche Arbeitsteilung.
Zwar verbesserte sich die sozialrechtliche Absicherung der Arbeitenden nach 1945 im Zuge des Ausbaus des Sozialstaats und der Verkürzung der Arbeitszeit mit Reallohnausgleich. Aber deren Abhängigkeit von betrieblichen Herrschaftsstrukturen und vom Schicksal der Arbeitslosigkeit blieb bestehen.
Seit den 1970er Jahren tragen die Arbeitsbedingungen in fast allen Bereichen ein neues Gesicht, weil neoliberale Politiken, Profiterwartungen der Investoren und Imperative wie die Parole vom „schlanken Staat“ sowie Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen aller Art der Gesellschaft ein neues Akkumulationsregime aufzwangen, das vom Finanzkapital global beherrscht wird. Die Überwindung der Schranken für eine Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse ist damit in weite Ferne gerückt.
Honneth benennt fünf Trends, die die Gegenwart und die nahe Zukunft prägen werden:
In Honneths Perspektive beschränken sich die Mittel für eine Politik der Arbeit im Dienst einer Demokratisierung der Arbeitsteilung im Kern auf zwei Auswege:
„Die Schaffung von selbstverwalteten Produktionsgenossenschaften, die den Sinn der Arbeitenden für gemeinsame Verantwortung und Kooperation stärken und der Verengung von Berufs- und Tätigkeitsfeldern wie sie unter dem Neoliberalismus herrschen, entgegenwirken, denn „Arbeit vermittelt ein Gefühl der sozialen Einbeziehung und verleiht dem individuellen Leben einen gesellschaftlichen Halt.“
Der zweite Ausweg ist eine Politik der Arbeit, die ihre Voraussetzungen durch ihr Praxis erzeugt, indem diese bei dem ansetzt, was ist und die Chancen, die sich in mikroskopischen Widerstandsakten in der Arbeitswelt und deren bescheidenen Ansätzen zur Demokratisierung wahrnimmt und nicht entmutigen lässt, sondern an der „Konstitutionalisierung der Beschäftigungsverhältnisse“ (Claus Offe) beharrlich festhält und weiterarbeitet.
Honneths Buch bietet eine kompetente und umfassende Darstellung und Analyse des diffizilen Problems der Umgestaltung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Dienst und im Interesse der Arbeitenden an einer Verbesserung und Verbreiterung des Zugangs zur demokratischen Willensbildung. Die etwas oberflächliche Kritik, wonach Honneth die Klassenfrage oder intellektuelle Spielwiesen wie das von Paul Lafargue postulierte „Recht auf Faulheit“ außer Acht lasse, treffen die solide Argumentation des Autors nicht. Ebenso wenig stichhaltig sind die Einwände gegen Honneths Kritik der Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen für alle. Denn alle bekannten Varianten dieser populär gewordenen Idee stärken zwar potenziell die Verhandlungsmacht von Individuen, ruinieren aber in der Realität gleichzeitig die Macht und unverzichtbare Bedeutung kollektiver Interessenvertretung durch Gewerkschaften. Dem erteilt Honneth eine berechtigte und gut begründete Absage.
Axel Honneth, Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit, Berlin 2023 (Verlag Suhrkamp), 397 Seiten, 30 Euro