Offiziell kennt die Türkei keinen Rassismus. Wer aber auf dem Recht auf eine eigene kulturelle Identität beharrt, der sitzt oft jahrelang im Gefängnis. Präsident Erdogan kritisiert gern die USA als rassistisch, doch seine Politik gegenüber Kurden, Armeniern, Aleviten oder Nicht-Muslimen ist nichts anderes als staatlicher Rassismus.
Von Frank Nordhausen
In der kurdischen Provinz Mardin wurde ein Massengrab entdeckt mit Schädel und Knochen von 40 Menschen. Für den Tod der Menschen sind laut kurdischen Menschenrechtlern vermutlich die geheimen staatlichen Jitem-Todesschwadronen verantwortlich. DGB/Archiv
Kurz nachdem der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis am 25. Mai von einem Polizisten ermordet worden war, meldete sich auch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf Twitter zu Wort, um die "inhumane Mentalität" des Rassismus in Amerika zu verdammen. Ihm folgten zahllose prominente türkische Künstler, Journalisten, Sportler und Schauspieler, die in den sozialen Medien Fotos von George Floyd teilten und seine letzten Worte wiederholten: "Wir können nicht atmen." Die Türkei erklärte sich quasi selbst zur rassismusfreien Zone.
Viele Angehörige der kurdischen Minderheit im Land, die rund ein Viertel der 82 Millionen Einwohner im Land stellen, kommentierten die Statements sarkastisch. "Es ist wahr, dass wir nicht atmen können", schrieb die bekannte kurdische Journalistin Nurcan Baysal in einem Beitrag für das exiltürkische Nachrichtenportal Ahvalnews. „Das konnten wir schon lange nicht mehr."
In der Woche nach dem Tod von George Floyd geschah in der Türkei unter anderem Folgendes: In einer Höhle in Dargecit in der südöstlichen, mehrheitlich kurdischen Provinz Mardin wurde ein Massengrab entdeckt. Schädel und Knochen von 40 Menschen, laut kurdischen Menschenrechtlern vermutlich Opfer der geheimen staatlichen Jitem-Todesschwadronen, die laut türkischen Menschenrechtsorganisationen für mindestens 17.500 ungelöste Morde an Kurden in den 1990er-Jahren verantwortlich sind. Der grausige Fund hätte in den meisten Ländern zu einem öffentlichen Aufschrei geführt – nicht so in der Türkei. "Niemand fragte, wer diese Menschen seien, welches Leben sie führten, wie sie den Menschen genommen wurden, die sie liebten, die sie töteten", schrieb Nurcan Baysal.
Zur gleichen Zeit kam es in der ostanatolischen Provinzhauptstadt Siirt zu einem Akt kultureller Barbarei. Der türkische Staatskommissar, den die Regierung ins Amt des willkürlich abgesetzten kurdischen Bürgermeisters beordert hatte, befahl den städtischen Arbeitern, eine Bibliothek abzureißen. Das Gebäude trug den Namen des kurdischen Linguisten Celadet Ali Bedirxan, der die erste Grammatik des wichtigsten kurdischen Dialekts Kurmanci der Türkei verfasst hatte. Fernsehen und Presse ignorierten den Vorgang. Kurdische Blogger sprachen von "staatlichem Rassismus".
Es gibt auch in der Türkei immer mal Proteste gegen Erdogans Politik. Doch sicherer und geschützt vom Recht auf Meinungsfreiheit können die Menschen nur im Ausland gegen den autokratischen Herrscher protestieren, so wie hier in Köln. DGB/strassenstriche.net/Flickr
In diesen Tagen demonstrierten Hunderte Anhänger der legalen prokurdischen "Demokratischen Partei der Völker" (HDP) mit Protestmärschen vom äußersten Westen und Osten der Türkei zur Hauptstadt Ankara gegen den Mandatsentzug für zwei ihrer Parlamentsabgeordneten wegen fadenscheiniger Terrorvorwürfe. Die Teilnehmer wurden mit Pfeffergas und Gummikugeln beschossen, es hagelte Demonstrationsverbote. Keine größere Oppositionspartei solidarisierte sich mit dem Protestzug.
Die traurige Wahrheit ist: Gewalt gegen Kurden wird in der Türkei legitimiert, ihre Kultur unterdrückt, ihre Sprache nicht toleriert. Als türkische Fußballvereine Solidaritätserklärungen für George Floyd abgaben, versuchten einige Social-Media-Nutzer, die Fans an die jahrelangen rassistischen Vorfälle gegen die kurdischen Vereine Amedspor und Cizrespor zu erinnern – praktisch ohne Echo. "Sucht nicht weit oder breit nach Rassismus", schrieb Nurcan Baysal. "Rassismus ist hier überall vorhanden - in eurem Land, in eurer Sprache, in eurem Kopf."
Der Hass und die Diskriminierung trifft nicht nur Kurden, sondern auch Nichtmuslime. Im Mai warnten jüdische und christlich-orthodoxe Gemeinschaften mit einem dramatischen Appell vor "rassistischen Übergriffen" auf ihre Mitglieder und baten die Regierung um Schutz. Anlass ihrer gemeinsamen Erklärung war eine Hetzkampagne der regierungsnahen Zeitschrift Gercek Hayat gegen die religiösen Minderheiten. Die Rabbiner und Patriarchen befürchteten, in der durch die Covid-19-Pandemie verstärkten Wirtschaftskrise als Sündenböcke missbraucht zu werden. Schon lange findet ein Exodus alteingesessener Juden aus der Türkei nach Israel und orthodoxer Christen nach Westeuropa und in die USA statt.
Und der Präsident? Der "rassistische und faschistische" Ansatz der US-Polizei habe zu George Floyds Tod geführt, twitterte Erdogan. Auch wenn es um fremdenfeindliche Übergriffe in Europa geht, ist er schnell mit Rassismusvorwürfen zur Stelle. Vom Rassismus in der Türkei spricht er dagegen nie – den demonstriert er stattdessen selbst. In der Vergangenheit benutzte der Staatschef mehrfach das Wort "Armenier" als Beleidigung, was in der Türkei so normal und weit verbreitet ist wie antisemitische Stereotype. Auch die Begriffe "jüdische Lobby" und "armenische Lobby" sind Rassismen, die Erdogan oft verwendet und offenbar nicht als solche empfindet.
In der Vergangenheit benutzte Erdogan mehrfach das Wort "Armenier" als Beleidigung, was in der Türkei so normal und weit verbreitet ist wie antisemitische Stereotype. Von einer "jüdischen Lobby" spricht auch der türkische Präsident immer mal wieder. DGB/Archiv
Wie lässt sich diese Doppelmoral erklären? "Das ist letztlich eine Ablenkung vom eigenen Rassismus gegenüber ethnisch-religiösen Minderheiten, den der türkische Staat gezielt ideologisch verbreitet und der sich dann in weiten Teilen der Gesellschaft als Alltagsrassismus zeigt", sagt der Politikwissenschaftler Professor Burak Copur aus Essen. "Die 'Schwarzen' der Türkei sind unter anderem die Kurden, Armenier und Aleviten. Der staatliche Rassismus zeigt sich in der Politik, bei Polizei, Militär und Behörden durch eine systematische Ausgrenzungspolitik. Zum Beispiel gibt es unter den 16 Ministern keinen einzigen Kurden, vermutlich auch keinen Aleviten."
Die Staatsideologie der Türkei propagiere, dass das türkische Identitätskonzept inklusiv sei, doch das sei eine glatte Lüge, urteilt Copur: "Warum müssen dann Aleviten trotz mehrfacher Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs weiterhin am sunnitisch geprägten Religionsunterricht teilnehmen, und wieso werden ihre Cem-Gebetshäuser nicht offiziell anerkannt?" Dieses Verständnis sei im Prinzip eine Fortsetzung der minderheitenfeindlichen Politik des Osmanischen Reiches, die nun im Mantel des breit akzeptierten türkischen Nationalismus daherkomme.
"Bürger erster Klasse ist, wer türkisch und sunnitisch ist. Alle anderen Gruppen werden zur Assimilation und Verleugnung ihrer Identität gezwungen. Die Türkei gibt ihnen zu verstehen: Entweder ihr übernehmt das sunnitische Türkentum, oder ihr passt euch an und fallt nicht weiter auf", sagt der Türkei-Experte. "In der Türkei kannst du beruflich alles werden, wenn du dich kulturell verleugnest oder assimilierst. Aber sobald du deine kulturelle Identität demonstrierst und ausleben willst, wirst du den türkischen Staat im Nacken spüren. Dann wirst du ausgegrenzt, verfolgt oder sogar massakriert. Es ist eine Art Ethnozid, der seit der Gründung der Türkei vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfindet."
Wer gegen die Diskriminierung protestiert, wer auf dem Recht auf eine eigene kulturelle Identität beharrt, der sitzt oft jahrelang im Gefängnis wie aktuell Tausende Mitglieder der zweitgrößten Oppositionspartei HDP, darunter zahlreiche Mandatsträger, Bürgermeister und die früheren Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas. In der Türkei, so schrieben Twitter-Nutzer, wäre George Floyd wohl ein Kurde.
DGB/Heiko Sakurai
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