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Klima, Globalisierung, Digitalisierung, Ausbeutung und Krieg: Die Krise ist zum Dauerzustand geworden. Doch wie können Gesellschaften und Gewerkschaften sie überwinden und dabei Demokratie, globale Gerechtigkeit und Lebensgrundlagen sichern? IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban und der Journalist Stephan Hebel gehen diesen Fragen in einem Gesprächsband nach.
SGB/strelok/123rf.com
Eine Rezension von Rudolf Walther
Hans-Jürgen Urban, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der IG Metall und der Journalist Stephan Hebel beschäftigen sich in dem Gesprächsband zwischen mit den vielfältigen aktuellen Krisen und ihrer Bewältigung durch gewerkschaftliche Strategiebildung. In neun Kapiteln behandeln die beiden Gesprächspartner so ziemlich alle Aspekte der aktuellen Krisen vom Krieg in der Ukraine über die Pandemie bis zur aktuell brennendsten Frage der aussichtsreichsten Politik gegen die Klimaveränderung, die den ganzen Planeten bedroht. Urban bewegt sich virtuos in zwei Welten: als Honorarprofessor für Soziologie in Jena in der akademisch-wissenschaftlichen und als führender Gewerkschafter in der gewerkschaftlichen Welt. Gleich zu Beginn des Gesprächs kann er aus der eigenen Erfahrung und Praxis festhalten, dass die in manchen Kreisen als bürokratisch verkrustet und ideenlos geltenden deutschen Gewerkschaften heute offener als früher für den Disput mit den Wissenschaften sind, weil sie wie diese „auf evidenz-basiertes Wissen setzen und bestrebt sind, solches in die Politik einzubringen“. Dafür, also für breitenwirksame Aufklärung, ist ein leicht lesbarer Gesprächsband nützlicher als eine dicke wissenschaftliche Monografie oder ein Sammelband mit unkoordinierten Einzelbeiträgen. Der technologische Strukturwandel in der Automobilindustrie zum Beispiel verlangt den Gewerkschaften auch in dieser Hinsicht Flexibilität ab, worauf die IG Metall schon 1992 mit dem wissenschaftlichen Konzept einer integrierten Strategie unter dem Titel „Auto, Umwelt Verkehr“ für den gesamten Verkehrs- und Mobilitätssektor, einschließlich einem dafür nötigen Plan für „Recycling-Kreisläufe“, reagierte. Beide sind „hochaktuell geblieben ist und sichern der Gewerkschaft einen Platz „vorne dran“ in der Klimadebatte.
In der IG Metall hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass der fossile Wohlfahrtsstaat an eine Grenze gekommen ist, obwohl er ohne Zweifel ein Erfolgsmodell war. Die Grundanforderungen an Gewerkschaften (Arbeitsplätze und Einkommen garantieren sowie Arbeitsbedingungen erträglich gestalten) sind nicht obsolet geworden, bedürfen aber insofern einer Ergänzung, als die gewerkschaftliche Politik insgesamt einer ökologisch nachhaltigen Grundlage bedarf.
Jede gewerkschaftliche Strategie muss immer davon ausgehen, dass die Opposition gegen alles, was Einkommen oder Arbeitsplätze gefährdet, also rein strukturkonservativ motiviert ist, perspektivenlos ist und in eine Sackgasse führt. Gewerkschaften müssen heute eine doppelte Strategie verfolgen, denn Arbeitende haben ein doppeltes Interesse, wie bereits Karl Marx 1865 befand. Sie wollen die Grundlagen ihres Reichtums und ihrer Existenz als Verkäufer ihrer Arbeitskraft erhalten und als Erdenbewohner den Planeten und seine Ressourcen schützen, ohne die ein Leben auf der Erde unmöglich ist. Gewerkschaften sind also zum doppelten Schutz verpflichtet: der Natur und der Arbeitenden.
Gewerkschaften wenden sich deshalb auch gegen den Volksaberglauben, technologische Innovationen- zum Beispiel E-Autos -, garantierten per se ein Wirtschaften im Stil von „Weiter-so-wie-bisher“. Die Einsicht, dass automobiler Individualverkehr ökologisch prinzipiell unverträglich ist, hat sich noch nicht allgemein durchgesetzt.
Wirtschaftswachstum, das zusammen mit dem Export auf Kosten anderer Wirtschaftsregionen, ihrer natürlichen Ressourcen und ihrer Arbeitskräfte, die Basis des deutschen Wohlfahrtsmodells nach 1949 bildete, ist heute das „Kernproblem“ geworden. Urban tritt deshalb für „selektives Wachstum“ ein, was die Gewerkschaft freilich in eine „unkomfortable Situation“ versetzt, denn sie waren lange „Wachstumsfans“ (Urban) und befinden sich nach langer Schwächung „in der Defensive“. Der Begriff „Globalisierung“ galt vielen lange als Zauberformel. Mittlerweile sieht man den Prozess nüchterner, weil viele Länder und ganze Kontinente nicht davon profitierten und abgehängt wurden, während der Hyperreichtum in einigen Regionen obszöne Dimensionen annahm. Dank starker Gewerkschaften konnte die Zahl der Globalisierungsverlierer in den reichen Regionen des Nordens in Grenzen gehalten werden, aber Prozess der verschärften Ungleichheitsdynamik zwischen dem Norden und dem verarmten Süden ist ungebrochen, wenn man von den BRICS-Staaten und dem Problem der Klimafrage absieht (CO2).
Urban plädiert für einen „komprimierten Öko-Reformismus“, der Betrieb, Gesellschaft und Politik „zusammendenkt“, denn die „sozial-ökologische Transformation bleibt eine Jahrhundertaufgabe für alle Akteure.“ Urban tritt auch ein für eine Verstärkung des „politischen Mandats der Gewerkschaften“, trotz der zwiespältigen Erfahrungen mit der „konzertierten Aktion“ und der zeitweiligen Staatsnähe der Gewerkschaften zur sozialliberalen Regierung, die die Gewerkschaften 1977 aufkündigten, als Unternehmerverbände gegen das Mitbestimmungsgesetz in Karlsruhe klagten, die Regierung sich dem Monetarismus verschrieb und die Gewerkschaften durch das Schüren der Inflationsangst disziplinieren wollte.
„Sich mit Blick auf eigene Gewissheiten strukturkonservativ aufzustellen“, hält Urban ebenso für einen Irrtum wie die Forderung nach Deindustrialisierung. Mit solchen plakativen Forderungen erklärt man etwa Kohlekumpel zum Gegner oder gar Feind, statt fossile Geschäftsmodelle. Statt um falsche Frontstellungen wie „Industriearbeiter gegen Umweltaktivisten“ geht es für Urban um Lernprozesse auf beiden Seiten, wie das z.B. die Bewegung „Friday for Future“ vormachte, denn die Zeit drängt und Reformspielräume verengen sich.
Einen solche Spielraum bietet das Konzept der öko-sozialen Wirtschaftsdemokratie, das Hebel und Urban in einem wichtigen Kapitel diskutieren. Dabei geht es darum, die Entscheidung über Produktion und Ressourcen durch demokratische Partizipation von der Markt- und Profitlogik zu befreien und in die Gesellschaft zurückzuholen, wo ökologische Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz als Ziele über dem Profit für den Kapitaleinsatz rangieren. Die generelle Schrumpfung der Wertschöpfung nach der Devise von Degrowth- Aktivisten, „Verzicht ist Gewinn“, hält Urban bei aller Sympathie und Skepsis für die Degrowth-Bewegung für abwegig und tritt stattdessen mit John K. Galbraith für Regulierung und Dämpfung des Wachstums und die Strategie eines anderen Wachstums- und Entwicklungsmodells, das die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen berücksichtigt. Urban sieht das Problem nüchtern: „Einfach ist das nicht und historische Vorbilder gibt es auch nicht“, denn das von Adam Tooze und Ulrike Hermann vorgeschlagene Modell der britischen Kriegswirtschaft ab 1940 taugt dafür bestenfalls halbwegs. In den beiden letzten Kapiteln behandeln die Gesprächspartner den Begriff der „Mosaiklinken“, den Urban auf einer ATTAC-Tagung 2008 entfaltete, der von feministischer und traditionslinks-dogmatischer Seite auf Widerspruch stieß, aber auch eine „Utopie-Lücke“ offenbarte (Volker Braun) nach dem Untergang des „Staatssozialismus“. Urban möchte – mit Rekurs auf Wolfgang Abendroth, Axel Honneth, Jürgen Habermas, Michel Brie, Klaus Dörre, Christiane Schickert und Thomas Piketty – auf ein „Mindestmaß“ an utopischem Überschuss im Sinne Ernst Blochs nicht verzichten und rät der Linken dringend, das nicht zu tun.
Hans-Jürgen Urban, Stephan Hebel, Krise. Macht. Arbeit. Über Krisen des Kapitalismus und Pfade in eine nachhaltige Gesellschaft, Frankfurt 2023, 200 Seiten, Campus Verlag, 27 Euro
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.