Johanna Wenckebach zeigt, warum mehr Mitbestimmung eine zentrale Antwort auf die Verteilungsfragen der Gegenwart ist und was uns die Vergangenheit lehrt. Sie fordert mehr Mut von der Bundesregierung - auch gegen Widerstände.
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Die Reform der Betriebsverfassung, deren Inkrafttreten im Januar 1972 nun 50 Jahre zurückliegt, war ein Meilenstein der Weiterentwicklung betrieblicher Mitbestimmung. Sich zu erinnern, ist in verschiedener Hinsicht auch gewinnbringend für ganz aktuelle Rechtspolitik. Denn wer sich, wie die Ampelkoalition, Fortschritt auf die Fahnen schreibt, muss auch die Frage beantworten: Fortschritt für wen?
Der DGB hatte schon 1967 einen Gesetzentwurf zur grundlegenden Erweiterung der Betriebsverfassung vorgelegt. Nach der Bildung der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt wurde der Entwurf 1969 überarbeitet. Der damalige Arbeitsminister Arendt legte dann einen Gesetzesentwurf vor, der mit vielen der gewerkschaftlichen Forderungen übereinstimmte. Der Ausschuss für Arbeit beriet sechs Monate. Die Arbeitgeberverbände gaben zahlreiche Rechtsgutachten zur angeblichen Verfassungswidrigkeit des Reformvorhabens in Auftrag, doch der Entwurf wurde mit nur kleinen Änderungen angenommen. Übrigens auch mit den Stimmen der FDP.
Die Auseinandersetzung um die große Reform vor 50 Jahren und die intensive Lobbyarbeit erinnern uns an etwas, das auch heute bei der Bewertung der arbeitsrechtspolitischen Vorhaben der neuen Bundesregierung in Erinnerung gerufen werden sollte: Betriebliche Mitbestimmung ist eine Machtfrage. Sie greift ein in die Machtverhältnisse des Arbeitsvertrages und des Betriebs – zugunsten der Arbeitnehmerseite. Mitbestimmung ist eine Antwort auf die Verteilungsfragen, die durch die wichtigen Vorhaben der neuen Bundesregierung gestellt werden: Wer wird profitieren von mehr Digitalisierung und der Transformation der Wirtschaft? Auf wessen Interessen wird Rücksicht genommen, wenn es um die Umsetzung wirtschaftspolitischer Veränderung im Betrieb geht? Wo ein Betriebsrat ist, kann die Unternehmensseite in wesentlichen Fragen und bei für Arbeitnehmende grundlegenden Veränderungen nicht „durchregieren“. Das ist heute wie damals einigen Arbeitgebern ein Dorn im Auge. Das belegt der historische Widerstand der Arbeitgeberlobby gegen die Reform von 1972.
Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung zeigen: nur noch in 9 % der betriebsratsfähigen Betriebe wird auch eine Interessenvertretung gewählt. Auch aktuelle Fälle von Union Busting, also der Bekämpfung von Betriebsratsgründungen und Mitbestimmung, zuletzt z.B. bei Gorillas, N26 oder Sixt, sind keine unglücklichen Zufälle. Bedenklich ist, dass gerade die Unternehmen, die als Gewinner der großen wirtschaftlichen Veränderungen gelten – etwa Tech-Konzerne – häufig sowohl Mitbestimmung als auch Tarifbindung ablehnen, sogar bekämpfen. Und was der Präsident der BDA in seinem Meinungsbeitrag in der FAZ kürzlich als seine Vorstellungen für die Zukunft der Mitbestimmung benannt hat, lässt sich zusammenfassen mit: Mitbestimmung muss billiger, schneller und „unbürokratischer“ werden. Kein Wort von Demokratie oder zu den Menschen, um deren Arbeitskraft, Motivation und Veränderungsbereitschaft es geht.
Daher ist es fatal, dass sich im Koalitionsvertrag so wenig Konkretes dazu findet, wie die Mitbestimmung „weiterentwickelt“ werden soll, wie es dort heißt. Offenbar war in den Koalitionsverhandlungen in Sachen Mitbestimmung nicht mehr möglich. Aber der Rückblick zeigt: politische Veränderungen zugunsten von mehr Demokratie im Betrieb sind möglich, auch mit der FDP. Und sie sind gerade jetzt auch nötig. Deshalb sollte angeknüpft werden an den Mut zur großen Stärkung der Mitbestimmung von 1972.
Diese Reform behielt die formale Trennung von Betriebsräten und Gewerkschaften bei, stärkte jedoch Gewerkschaftsrechte. Ein großer Fortschritt für viele migrantische Beschäftigte und ihre Repräsentation: Die deutsche Staatsangehörigkeit wurde als Voraussetzung für eine Kandidatur als Betriebsrat abgeschafft. Der Kündigungsschutz von Betriebsräten wurde ausgebaut, auch zugunsten der Wahlvorstände. Und Gewerkschaften erhielten ein Zugangsrecht zum Betrieb. Auch die Schulungsmöglichkeiten von Betriebsräten bei Entgeltfortzahlung waren eine große Errungenschaft. Und wichtig war auch, dass mehr Freistellungen möglich wurden, die das Ehrenamt Betriebsrat zu einer zentralen Aufgabe machten und Ressourcen vergrößerten. Bei großen Betrieben wurde die Zahl der Betriebsratsmitglieder erhöht. Zentrale Verbesserung zudem: mehr Mitbestimmungsrechte! Mitspracherechte wurden geschaffen für soziale, personelle und wirtschaftliche Angelegenheiten.
Nun gab es doch im letzten Jahr erst eine Reform: Seit Juni 2021 ist das Betriebsrätemodernisierungsgesetz in Kraft. Doch das ist wohl kaum ein Meilenstein wie vor 50 Jahren – aber immerhin ein erster Schritt. Mit Verbesserung der Handlungsmöglichkeiten bei Qualifizierung und Weiterbildung, mobiler Arbeit sowie bei dem Einsatz von künstlicher Intelligenz im Betrieb ging die Reform zentrale Handlungsfelder für Modernisierungen an. Allerdings viel zu zaghaft.
Vor dem Hintergrund von Entgrenzung und Verdichtung durch Digitalisierung, aber auch von drohendem Personalabbau durch die Transformation, nehmen wirtschaftliche Entscheidungen und die Personalplanung eine entscheidende Rolle ein. Es geht um große Verteilungsfragen in den Betrieben, um Weiterbildung, Arbeitsplatzsicherheit aber auch Gesundheitsschutz. Hier braucht es in Zukunft mehr Mitbestimmungsrechte, gerade auch im Interesse der (Zeit-)Autonomie von Beschäftigten.
„Modern“ wird die Betriebsverfassung nicht allein dadurch, dass auch Betriebsräte sich digitaler Techniken bedienen (nur das findet sich aber als Vorschlag bei den Arbeitgebern, bei CDU und FDP). Es geht darum, den Interessenvertretungen Handwerkszeug in die Hände zu geben für die Herausforderungen der Arbeitswelt der Zukunft. Und Digitalisierung der Betriebsratsarbeit bedeutet auch, dass die Kommunikation zwischen Betriebsräten, Gewerkschaften und Beschäftigten verstärkt in digitalen Räumen stattfindet. Zu diesen Räumen braucht es ein Zugangsrecht. Das lässt sich insbesondere für Betriebsräte bereits aus dem geltenden Recht ableiten, 1972 wurde ein Grundstein gelegt. Aber die Zeiten haben sich seitdem geändert und der digitale Zugang braucht Rechtssicherheit. Sehr gut, dass jedenfalls das ganz konkret im Koalitionsvertrag steht! Und besonders wichtig für die Stärkung der Mitbestimmung ist auch, dass die gewerkschaftliche Forderung nach einem scharfen Schwert bei der rechtswidrigen Bekämpfung von Mitbestimmung und Betriebsratswahlen umgesetzt werden soll: Union Busting wird Offizialdelikt. Das macht die Strafverfolgung wesentlich wirksamer.
Schließlich: Die Bundesregierung betont völlig zurecht die Diversität unserer Gesellschaft und will dies in ihrer Politik zum Ausdruck bringen. Ein Betriebsverfassungsgesetz im generischen Maskulinum, das von „Fremdenfeindlichkeit“ statt Rassismus oder von der „Integration von Ausländern“ spricht, wird dem schon sprachlich nicht gerecht.
Ohne die Menschen in der Arbeitswelt mitzunehmen – durch Demokratie gerade in den Betrieben, bei ihrer Arbeit, wo Menschen so viel Zeit ihres Lebens verbringen – gibt es keinen gerechten, demokratischen Fortschritt, wie der Koalitionsvertrag ihn verspricht. Den gibt es nur mit Mitbestimmung.
Zum 50. Geburtstag einer großen rechtspolitischen Reform wünsche ich mir eine mutige Regierung, die sich trotz Widerständen (erneut) traut, hier in betriebliche Machtverhältnisse einzugreifen und umzuverteilen.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.