Deutscher Gewerkschaftsbund

14.10.2022

Thomas Piketty: Die Geschichte der Gleichheit

Nach liberaler Sicht baut das freie Spiel der Kräfte den individuellen Wohlstand auf und die gesellschaftliche Ungleichheit ab. Wie von selbst nehme diese Entwicklung ihren Lauf, vorausgesetzt, der Mechanismus der Konkurrenz funktioniere ungestört. Der französische Wirtschaftshistoriker Thomas Piketty formuliert in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Gleichheit die Gegenthese. Eine Rezension von Peter Kern.

Ein Arbeiter im Sägewerk auf einem alten Foto

Flickr / Biblioteca de Arte / Art Library Fundação Calouste Gulbenkian CC BY-NC-ND 2.0

Der Sozialstaat und sein progressives Steuersystem haben demnach die vom Konkurrenzkapitalismus verursachte Ungleichheit wesentlich verringert. In seinem neuen Buch begründet er seine These mit der akribischen Gründlichkeit, die seinem Werk Das Kapital im 21. Jahrhundert eigen ist und seinen Autor zu einer Berufungsinstanz hat werden lassen.

Pikettys Akribie speist sich aus dem vorgelegten Datenmaterial, und dieses zeigt: Die Spitzensteuersätze beim Einkommen und bei Erbschaften haben zur Dekonzentration der Eigentumsverhältnisse massiv beigetragen. Piketty referiert die Ergebnisse eines internationalen, den Einkommensverhältnissen gewidmeten, von ihm mitgetragenen Forschungsprogramms. Er arbeitet mit einer Gruppe internationaler Wirtschaftswissenschaftler zusammen. Er stützt sich auf den Human Development Index der Vereinten Nationen oder wertet französische Nachlassarchive aus, die in der Zeitreihe von 1918 bis 1980 die Egalisierungstendenz beweisen.

Thomas Piketty: Sozialstaat ist kein Altruismus der alten Eliten

Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart hat sich eine Welt zunehmender Gleichheit entwickelt hat, so Piketty. Als Skandal wird dies nur empfinden, wem das zweite Ergebnis dieser empirischen Studie nicht behagt: Die Gewerkschaften haben eine maßgebende Rolle gespielt, um die vorherrschenden Ungleichheiten abzubauen. Das Gleichheitsprinzip geht auf die Französische Revolution zurück. Dieses Prinzip brauchte aber den fiskalischen Unterbau, um mehr zu sein, als ein bloßes Versprechen. Der Wirtschaftshistoriker Piketty verweist auf den bei Wirtschaftswissenschaftlern fast vergessenen Zusammenhang.

Der Anstoß für den Sozialstaat ging von den revoltierenden Arbeitern aus. Auf die erstarkende Sozialdemokratie reagierten die in Bedrängnis geratenen Kabinette der sich entwickelnden Industrienationen mit den staatlichen Versicherungskassen. Denn die dem Manchesterkapitalismus eigene Zerrüttung der Arbeiterschaft drohte in eine neuerliche, diesmal proletarische Revolution umzuschlagen. Im zaristischen Russland machten die Bolschewiki die Drohung schon wahr. Die europäischen Eliten waren durch den von ihnen angezettelten Erste Weltkrieg delegitimiert. Um ihrer politischen und ökonomischen Abdankung zuvorzukommen, beugten sie sich den Forderungen ihrer sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Widersacher. Besser Sozialkassen als Sozialismus war die Logik ihres Handelns. Der Sozialstaat geht auf keinen Altruismus der alten Eliten zurück, sondern auf die gesellschaftlichen Kämpfe der von Verelendung bedrohten Schichten.

Pikettys Forschung wertet digitalisiertes Archivmaterial aus

Diese Klasse kann über die von Piketty untersuchten 250 Jahre wirklichen Fortschritt verzeichnen. Lesen und schreiben konnten Ende des 18. Jahrhunderts kaum zehn Prozent der Weltbevölkerung; heute sind es 85 Prozent. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 26, heute liegt sie bei 72 Jahren. Die Bildungsausgaben der untersuchten Nationen verzehnfachten sich im genannten Zeitraum. War die als Mittelstand firmierende Gesellschaftsschicht noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts quasi inexistent, stellt sie in den Ländern des globalen Nordens gegenwärtig etwa 40 Prozent der Gesellschaftsmitglieder. In Europa besitzen qualifizierte Arbeiter/innen oder Angestellter ein Vermögen (inklusive Wohneigentum) zwischen 100.000 und 400.000 Euro. Diese Summen lassen den Abstand zwischen der Gegenwart und einer Epoche ermessen, in der das Proletariat seine Kinder täglich 12 Stunden ins Bergwerk schicken musste, damit sie zum Überleben der Familie beitrugen.

Pikettys Forschung wertet erst neulich digitalisiertes Archivmaterial aus. Wertvoll, die Differenz zwischen Europa und den USA zu sehen. In den europäischen Ländern kommen auf die qualifizierten Arbeitskräfte durchschnittlich 40 Prozent des gesellschaftlichen Eigentums; die ärmste Schicht muss sich mit fünf Prozent begnügen; die oberste Schicht kann sich an 55 Prozent erfreuen. In den Vereinigten Staaten kommen die Ärmsten auf zwei, die Mittelschicht auf 26 und die Oberschicht auf 72 Prozent des nationalen Eigentums.

Thomas Piketty will „neue demokratische Räume öffnen“

In diesem Buch äußert sich Piketty wieder als ein politischer Kopf. Er will die bestehenden Institutionen, Rechtsinstitute, Steuerregeln, Wahlsysteme und Bildungseinrichtungen genutzt und verbessert sehen, um Diskriminierung abzuschaffen. Daher kommt der zupackende Duktus seiner Sätze: „Der Weg zur Gleichheit ist ein Kampf, der gewonnen werden kann. Piketty traut sich ins Getümmel, macht pragmatische Vorschläge. So beispielsweise seine Forderung nach Regeln für eine gerechte Parteien- und Wahlkampffinanzierung. Solche Regeln, schreibt er, würden es den Großspendern schwerer machen, die Öffentlichkeit in Beschlag zu nehmen und mit ihren Think Tanks (man denke hierzulande an die Bertelsmann-Stiftung) störende Aufklärung niederzuwalzen.

Piketty will „neue demokratische Räume öffnen.“ Was nach Politikrhetorik klingt, hat bei ihm Substanz. Bei ihm heißt öffnen auch schließen: der Schlupflöcher für die Steuerhinterziehung zum Beispiel. Die von den G 20-Staaten beschlossene Mindestbesteuerung der Unternehmen mit 15 Prozent nennt er einen ersten, bescheidenen Schritt. Ein öffentliches Finanzkataster, auf nationaler wie auf internationaler Ebene, wäre ein weiterer. Die Nationalstaaten haben die Registrierung großer Vermögen privaten, wenig transparenten Instituten übertragen. Pikettys Vorschlag: Wer seine Bilanz verschleiert und die geforderte Information nicht liefert, wird mit dem höchsten Steuersatz belegt. Der linke Flügel der US-Demokraten erhebt diese Forderung.

Deutsche Unternehmensmitbestimmung als erprobtes Mittel

In dieser Untersuchung spielt das deutsche Modell der industriellen Beziehungen, die paritätische Besetzung des Aufsichtsrats, eine hervorgehobene Rolle. Piketty sieht in der Unternehmensmitbestimmung ein erprobtes Mittel, um die demokratisierende Tendenz der Vergangenheit in die Zukunft der Europäischen Union fortzuschreiben. Die EU-Kommission hat dies bekanntlich anders bewertet, als sie die Europäische Aktiengesellschaft aus der Taufe hob. De jure ist das paritätische Niveau noch verhandelbar, de facto ist es in vier von fünf Fällen verschwunden. Von den 107 großen Europäischen Aktiengesellschaften (Stand Juli 2021) verfügen nur 21 über Aufsichtsräte, in denen zur Hälfte Belegschaftsvertreter sitzen. Auch gilt die nach deutschem Recht verbindliche Frauenquote nicht. Die Geschichte der Gleichheit kennt also auch Rückschläge.

Lange Geschichte der Ausbeutung

Die mit der Französischen Revolution beginnende Studie schildert keine Idylle. Die analysierte Epoche umfasst die von den Kolonialmächten begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Sklaverei ist ein Kapitel gewidmet. Die Baumwollimperien der Vergangenheit basierten auf der Zwangsarbeit afrikanischer Sklaven. Spät erst erlangten auch sie die republikanischen Rechte. Und die bürgerliche Revolution galt nicht nur dem Gleichheitsprinzip, sondern dem kapitalistischen, gegen das feudale Privileg gesetzten Eigentumstitel. Die französischen Sklavenhalter hatten mit der Befreiung der Sklaven einen Eigentumsverlust erlitten. Also waren sie zu entschädigen. Die von den Haitianern an die Pariser Banken zu zahlenden Gelder flossen bis 1950, erfährt man bei Piketty. Sage einer, das Unrecht des Kolonialismus sei doch schon arg lange her. Und man vergegenwärtige sich: Ein auf Sklavenarbeit beruhendes Baumwollimperien gibt es in Chinas weiterhin, wo die Uiguren zum Nutzen der weltweiten Bekleidungsindustrie und ihrer Kunden ausgepresst werden.

Piketty, Thomas: Eine kurze Geschichte der Gleichheit, CH Beck, ISBN 978-3-406-79098-0, 264 S., mit 41 Grafiken und 3 Tabellen, Hardcover, 25 Euro


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Kurzprofil

Peter Kern
ist Leiter einer Schreibwerkstatt. Davor war langjährig politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall.
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Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

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