Wer Europa wirklich einigen will, hat die Pflicht, zunächst Solidarität mit jener Hälfte Deutschlands zu zeigen, die nur 1,5 Prozent des Vermögens besitzt. Bevor wir über Eurobonds reden, müssen wir zunächst höhere deutsche Löhne, ein Verbot von Aktienrückkäufen sowie drastisch eingedämmte Bonuszahlungen in Unternehmen durchsetzen.
Von Yanis Varoukis
In Deutschland war der Wohlstand schon immer extrem ungleich verteilt. Doch in den letzten Jahren hat die soziale Ungleichheit noch weiter zugenommen. DGB/NejroN/123rf.com
Es war während mitten in der Eurokrise, in der schlimmsten Auseinandersetzungen zwischen der griechischen und der deutschen Regierung. Da versuchte ein offizieller Vertreter Deutschlands, mir auszureden, auf einem Schuldenerlass für Griechenland zu beharren. Er tat das mit dem Argument, dass Deutschland zwar reich sein mag, aber eine Mehrheit der Bevölkerung arm sei. In diesem letzten Punkt hatte er Recht.
Eine kürzlich durchgeführte Studie bestätigt, dass die Hälfte der Deutschen nur 1,5 Prozent der Vermögenswerte des Landes besitzt, während das oberste 0,1 Prozent über 20 Prozent des Vermögens verfügen. Und die Ungleichheit verschärft sich. Während der letzten zwei Jahrzehnte ist das real verfügbare Einkommen der ärmsten 50 Prozent gesunken, während die Einkünfte des obersten einen Prozents gemeinsam mit Immobilienpreisen und Aktienkursen rasch gestiegen sind.
Die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit, insbesondere der Widerstand der Bevölkerung gegen die Idee einer Fiskalunion in der Eurozone muss vor dem Hintergrund dieser starken und zunehmenden Ungleichheit verstanden werden.
Die deutschen Arbeiter*innen, die zunehmend Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen, verweigern sich verständlicherweise der Idee, ständig riesige Geldsummen in andere Länder fließen zu lassen. Die Tatsache, dass Deutschland insgesamt reicher wird, ist für sie irrelevant. Aus Erfahrung wissen sie, dass alles nach Italien oder Griechenland fließende Geld wohl von ihnen kommen wird und nicht von den obersten 0,1 Prozent – ganz abgesehen davon, dass es wahrscheinlich in den Taschen widerlicher griechischer Oligarchen oder privater deutscher Unternehmen landen wird, die griechische Vermögenswerte für ein Butterbrot erworben haben.
Aus diesem Grund droht der kürzlich vereinbarte, als Next Generation EU bekannte und mit 750 Milliarden Euro dotierte Pandemie-Wiederaufbau-Fonds der Europäischen Union, die Trennlinien innerhalb Europas eher zu vertiefen, statt als Balsam der Einheit zu wirken, wie sich das zahlreiche Kommentatoren erträumen. Abgesehen von der makroökonomischen Bedeutungslosigkeit des Programms ist es wichtig, es aus der Perspektive einer typischen deutschen Arbeitnehmer*in aus den unteren 50 Prozent der Vermögensverteilung zu betrachten.
Die große Mehrheit der vermögenden Familien in Deutschland war auch schon vor über 100 Jahren wohlhabend. So wie die Quandts - hier der Firmengründer Emil und sein Sohn Günther um 1900 -, denen heute u.a. noch über 46 Prozent der BMW-Aktien gehören. DGB/Archiv/Gemeinfrei
Ihr wird von der Regierung mitgeteilt, dass auch sie für 100 Milliarden Euro an neuen Schulden haften wird, mit denen die EU anderen europäischen Bürgern helfen will, sich von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu erholen. "Die Italiener werden 80 Milliarden Euro aus dem Europäischen Wiederaufbaufonds erhalten“, hört sie. „Die Spanier bekommen 78 Milliarden Euro und sogar die Griechen werden 23 Milliarden kassieren."
Und was bekommt sie? Weniger als nichts. Da sich ihre Regierung bereits im Modus der Haushaltskonsolidierung befindet und versucht, bis 2021 wieder einen kleinen staatlichen Haushaltsüberschuss zu erzielen, kann sie nur stagnierende Löhne und noch mehr Sparmaßnahmen für örtliche Krankenhäuser, Schulen, Straßen und andere Infrastruktur erwarten.
Obwohl sie zwar Mitleid mit den Italienern und Spaniern hat, die so viele Menschen durch Covid-19 verloren, wird sie einen weiteren Versuch der Vergemeinschaftung von Schulden im Namen der Süd- oder Osteuropäer nie akzeptieren. Die Solidarität der deutschen Arbeitnehmer*innen, denen gegenüber sich niemand solidarisch zeigt, hat ihre Grenzen – und das ist verständlich.
Doch kaum hatte man Next Generation EU verabschiedet, wurde das Programm auch schon als Europas erster Schritt in Richtung Fiskalunion gepriesen. Die eifrigen Verfechter dieses Gedankens versäumten allerdings, den Puls der Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu messen – ein Fehler, den wohl weder Kanzlerin Angela Merkel noch ihr Nachfolger machen wird. Wenn überhaupt, wird sich die Art und Weise, wie sich die Vergemeinschaftung der Schulden in die Finanzierung von Next Generation EU eingeschlichen hat, als tödlicher Schlag für eine funktionierende Fiskalunion erweisen.
Der Grund dafür ist nicht schwer zu verstehen. Die Vergemeinschaftung der Schulden ist zweifellos eine notwendige (wenn auch nicht ausreichende) Bedingung, um die Eurozone auch im Interesse der deutschen Arbeitnehmer*innen in eine Region des gemeinsamen Wohlstands zu verwandeln. Aber das muss ordnungsgemäß durchgeführt und überzeugend kommuniziert werden.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass nach der Corona-Krise mehr Menschen arbeitslos sein werden oder zumindest mit weniger Geld auskommen müssen. Hier gilt es auch in Deutschland anzusetzen. Auch mit Mittagstafeln wie hier eine zu sehen ist. DGB/Colourbox
Man denke an die Fiskalunion des föderalen Staats Deutschland, bevor wir diese jener Struktur gegenüberstellen, die der Europäische Rat gerade schuf. Gerät der deutsche Kapitalismus aus irgendeinem Grund in die Krise, erhöht sich das Bundeshaushaltsdefizit automatisch, da die Leistungen überproportional in jene Bundesländer fließen, die vom größten Anstieg der Arbeitslosigkeit und dem stärksten Rückgang der Staatseinnahmen betroffen sind. Das Schöne an dieser funktionierenden Fiskalunion ist, dass kein deutscher Politiker entscheiden muss, welches deutsche Bundesland welche Transferleistungen erhält.
Man stelle sich den Horror vor, müsste der Deutsche Bundestag oder ein Forum aus Ministerpräsidenten der Bundesländer verhandeln, wie viel Geld jedes der reicheren Länder wie Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg jedem der ärmeren Länder wie Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zu überweisen hätte. Und man stelle sich darüber hinaus vor, der bayerische Ministerpräsident könnte vor der Auszahlung der Finanzmittel die für Thüringen bestimmten Gelder bis zu drei Monate blockieren, um die öffentlichen Finanzen Thüringens zu prüfen. Die deutsche Einheit wäre dahin und das Land gelähmt.
Damit habe ich gerade die verhängnisvolle Entzweiung beschrieben, die in Next Generation EU festgeschrieben wurde. Wie ich schon an anderer Stelle festhielt, präsentiert sich die Situation so, als wäre die ganze Sache von einem raffinierten Euroskeptiker konzipiert worden. Wenn Next Generation EU bald aktiviert ist, werden Deutschlands Eliten die öffentlichen Finanzen Italiens, Spaniens und Griechenlands unter die Lupe nehmen. Das wird dabei helfen, die Wut der deutschen Arbeitnehmer*innen über die Sparmaßnahmen unter denen sie (gemeinsam mit italienischen, griechischen und spanischen Arbeitnehmer*innen) leiden, auf ihre Leidensgenossen in Italien, Spanien und Griechenland umzulenken – die die Animositäten natürlich erwidern werden. So etwas ist kein Rezept für die Einigung Europas, sondern ein Plan für die Spaltung von Menschen, die eigentlich die gleichen Interessen haben.
Wer Europa wirklich einigen will, hat die Pflicht, zunächst Solidarität mit jener Hälfte Deutschlands zu zeigen, die nur 1,5 Prozent des Vermögens besitzt. Bevor wir über Eurobonds reden, müssen wir uns zunächst für höhere deutsche Löhne, ein Verbot von Aktienrückkäufen sowie drastisch eingedämmte Bonuszahlungen in Unternehmen einsetzen.
Als nächstes müssen wir unseren deutschen Freunden zeigen, dass die aktuelle EU-Politik das Wohlstandsgefälle in Deutschland verstärkt, weil sich der Reichtum der 0,1 Prozent ebenso vergrößert wie die Probleme der Mehrheit. Schließlich müssen wir ihnen erklären, was eine echte Fiskalunion ausmacht: nämlich nicht den Wohlstandstransfer von Deutschland nach Griechenland oder von den Niederlanden nach Italien, sondern von Hamburg, der Lombardei und Nord-Athen nach Thüringen, Kalabrien und Thrakien.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier / © Project Syndicate, 2020
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.