Der Demokrat Joe Biden wird der nächste US-Präsident. Doch seine Partei hat viel schlechter abgeschnitten als erwartet. Sie muss nun mit kluger Wirtschafts- und Sozialpolitik wieder das Vertrauen der Wählerschaft in Unter- und Mittelschicht gewinnen. Sonst könnte sie bald so desolat dastehen wie nach Trumps Sieg 2016.
Von Dani Rodrik
Joe Biden wird 2009 als Vize-Präsident vereidigt. So ähnlich dürfte es am 20. Januar 2021 aussehen, wenn er dann den Amseid als 46. US-Präsident ablegen wird. DGB/Petty Officer Chad J. McNeely/Weißes Haus/Gemeinfrei
Als sich nach einigen spannenden Tagen ein mühsamer Sieg Joe Bidens bei der US-Präsidentschaftswahl abzeichnete, ließ das viele Beobachter der amerikanischen Demokratie ratlos zurück. Angesichts der Meinungsumfragen hatten viele einen Erdrutschsieg der Demokraten erwartet, bei dem die Partei nicht nur das Weiße Haus, sondern auch den Senat erobern würde. Wie hat es Donald Trump trotz seiner eklatanten Lügen, offensichtlichen Korruption und katastrophalen Handhabung der Pandemie geschafft, sich die Unterstützung so vieler Amerikaner zu bewahren – und sogar zehn Millionen mehr Stimmen zu gewinnen als vor vier Jahren?
Die Bedeutung dieser Frage reicht über die amerikanische Politik hinaus. Überall versuchen gemäßigt linke Parteien derzeit, gegen Rechtspopulisten wieder auf die Erfolgsstraße zu gelangen. Obwohl Biden von seinem Temperament her in der politischen Mitte verortet ist, sind die Demokraten programmatisch – zumindest nach amerikanischem Maßstab – deutlich nach links gerückt. Ein klarer Sieg der Demokraten hätte daher der gemäßigten Linken starken moralischen Auftrieb gegeben: Vielleicht würde es für einen Wahlsieg ja doch ausreichen, progressive Wirtschaftspolitik mit einem Festhalten an demokratischen Werten und grundlegendem menschlichen Anstand zu kombinieren.
Die Diskussion, wie die Demokraten mehr hätten erreichen können, hat bereits begonnen. Leider ergeben sich aus ihrem knappen Wahlsieg keine einfachen Lehren. Die amerikanische Politik dreht sich um zwei Achsen: Wertvorstellungen und Wirtschaft. Zu beiden Themenbereichen finden sich jene, die den Demokraten vorwerfen, zu weit zu gehen, und jene, die ihnen vorwerfen, nicht weit genug zu gehen.
Im Zivilisationskrieg stehen die gesellschaftspolitisch konservativen, überwiegend weißen ländlichen Regionen gegen die Großräume der Metropolen, wo inzwischen für Randgruppenprobleme sensibilisierte Einstellungen ("woke") dominieren. Die Konservativen kämpfen für "Familienwerte" mit ihren klassischen Rollenvorstellungen für Männer und Frauen, die Ablehnung der Abtreibung und das Recht auf Schusswaffenbesitz. Die Progressiven für LGBT-Rechte, soziale Gerechtigkeit und Widerstand gegen "systemischen Rassismus".
Wer auch immer Donald Trump an diesen Kindertisch gesetzt hat, wusste entweder nicht oder nur zu gut, wie passend das Bild davon aussehen würde nach seiner deutlichen Niederlage gegen Joe Biden bei den Präsidentschaftswahlen. DGB/Weißes Haus/Gemeinfrei
Viele Trump-Wähler sahen die ganze Nation als rassistisch verunglimpft, als die Demokratische Partei die Straßenproteste gegen Polizeibrutalität unterstützten. Ja, sie betrachteten es als Billigung von Gewalttaten. Während sich Biden ausdrücklich von Gewalt distanziert hat, sahen sich die Demokraten insgesamt dem Vorwurf moralischer Effekthascherei und der Verunglimpfung der konservativen Staaten im Landesinneren ausgesetzt. Für andere bestätigt die anhaltende Unterstützung für Trump lediglich, wie tief verwurzelt Rassismus und Borniertheit sind und wie dringend die demokratische Partei diese bekämpfen muss.
Was die Wirtschaft angeht, sind viele Beobachter – darunter auch einige der Mitte zuneigende Demokraten – der Ansicht, dass die Partei konservative Wähler verschreckt hat, indem sie sich zu weit nach links orientiert hat. Wie üblich schürten die Republikaner die Befürchtungen über hohe Steuern, eine arbeitsplatzvernichtende Umweltpolitik und ein staatliches Gesundheitssystem an. Beide politische Parteien frönen dem ur-amerikanischen Mythos vom selbständigen Unternehmer, der dann am erfolgreichsten ist, wenn sich der Staat möglichst weitgehend zurückhält.
Auf der anderen Seite dieses Streits sagen die Progressiven, dass Biden mit Vorschlägen in den Wahlkampf gezogen sei, verglichen mit anderen Industrienationen keineswegs radikal erscheinen. Er wollte die Wahl eben vor allem zu einem Referendum über Trump machen und nicht zur Abstimmung über eine alternative Agenda. Womöglich entsprachen die Programme der Parteilinken Bernie Sanders oder Elizabeth Warren eher den Vorstellungen der meisten Amerikaner, denn sie stellten die Forderungen nach mehr Arbeitsplätzen, wirtschaftlicher Sicherheit und Umverteilung von Wohlstand in den Vordergrund.
Angesichts der Tatsache allerdings, dass die Wahl inmitten einer zunehmend tödlichen Pandemie stattfand, kann es sein, dass die Abstimmungsmuster durch eine Mischung aus gesundheitlichen und wirtschaftlichen Überlegungen bestimmt waren, die mit diesen Debatten nur locker in Beziehung standen. Einige demokratische Partei-Insider sind der Ansicht, dass die Wähler womöglich über die wirtschaftlichen Kosten der von den Demokraten befürworteten Lockdowns und aggressiveren Covid-19-Maßnahmen besorgt waren. Wenn das stimmt, sind die obigen Argumente weitgehend hinfällig.
Insgesamt ist klar, dass die Wahl die ewige Debatte nicht gelöst hat, wie sich die demokratische Partei und andere gemäßigt linke Parteien in gesellschaftspolitischen und ökonomischen Fragen positionieren sollten, um ihre Attraktivität für die Wähler deutlich zu steigern. Das heißt: Linke Politiker*innen müssen sowohl eine weniger elitäre Haltung als auch eine glaubwürdigere Wirtschaftspolitik entwickeln.
Sollen die Demokraten weiter nach links rücken, wie es Senator Bernie Sanders und seine Kollegin Elizabeth Warren wollen? Beid sind mit ihren Vorstellungen im Vorwahlkampf Joe Biden unterlegen, der sich als moderater Kandidat präsentierte. DGB/Gage Skidmore/Flickr
Wie Thomas Piketty angemerkt hat, haben sich die Linksparteien zunehmend zu Parteien der gebildeten, großstädtischen Eliten entwickelt. Angesichts der Erosion ihrer traditionellen Basis aus der Arbeiterschaft ist der Einfluss globalisierter universitätsgebildeter Fachkräfte, der Finanzindustrie und der Wirtschaftsinteressen gewachsen. Das Problem ist nicht bloß, dass diese Eliten häufig eine Wirtschaftspolitik befürworten, die Mittel- sowie untere Mittelschicht und strukturschwache Regionen zurücklässt. Sie koppeln sich obendrein kulturell, sozial und räumlich von denen ab, die weniger glücklich dran sind. Sie verstehen deren Probleme kaum und können sie schon gar nicht nachempfinden. Ein aufschlussreiches Symptom ist, wie bereitwillig die kulturelle Elite die fast 74 Millionen Amerikaner als Unwissende abtut, die Trump bei dieser Wahl unterstützt haben. Schließlich haben sie ja gegen ihre eigenen Interessen abgestimmt.
Es fehlt der Linken in Wirtschaftsfragen noch immer eine gute Antwort auf die brennende Frage unserer Zeit: Wo sollen gute Arbeitsplätze herkommen? Eine stärker progressive Besteuerung, Investitionen in Bildung und Infrastruktur und – in den USA – eine allgemeine Krankenversicherung sind dabei unverzichtbar. Doch reicht dies allein nicht aus. Gute Mittelschichtarbeitsplätze werden bedingt durch langfristige technologische Trends und die Globalisierung immer seltener. Und Covid-19 hat die Polarisierung der Arbeitsmärkte vertieft. Wir brauchen eine pro-aktivere staatliche Strategie, die direkt auf eine Erhöhung des Angebots an guten Arbeitsplätzen zielt.
Gemeinschaften, in denen gute Arbeitsplätze verschwinden, zahlen einen Preis, der weit über das rein Wirtschaftliche hinausgeht. Drogenabhängigkeit und Verbrechen nehmen zu, Familien zerbrechen. Die Menschen klammern sich stärker an traditionelle Werte, sind Außenstehenden gegenüber weniger tolerant und eher bereit, autoritäre "starke Männer" zu unterstützen. Wirtschaftliche Unsicherheit verschärft gesellschaftliche oder ethnische Konflikte oder schafft sie erst.
Die Linksparteien müssen programmatische Lösungen für diese tief verwurzelten wirtschaftlichen Probleme finden. Doch tragen technokratische Lösungen nur bis zu einem gewissen Punkt. Es gilt auch, eine Menge Brücken zu bauen, um gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden, für die weitgehend die Eliten verantwortlich sind. Andernfalls könnte in den USA den Demokraten in vier Jahren eine weitere böse Überraschung drohen.
DGB/Heiko Sakurai
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