Deutscher Gewerkschaftsbund

13.09.2022
Corona-Hilfen

Zu vollmundige Versprechen

Die staatlichen Corona-Hilfen waren teilweise falsch angelegt, vielen kleinen Selbstständigen halfen sie kaum. Jetzt haben erste Betroffene vor Gericht recht bekommen.

Schild an Fensterscheibe mit Aufschrift: Sorry we are closed

Wegen Corona geschlossen: Ein Gerichtsurteil bestätigt nun, dass Kleinstbetriebe und Soloselbstständige in der Pandemie erhaltene Unterstützungsgelder nicht zurückzahlen müssen. pexels / Kaique Rocha

Freiberuflich Tätige müssen die in der Pandemie erhaltenen Unterstützungsgelder nicht zurückzahlen. Die Bescheide, mit denen das nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerium Soloselbständige und andere Kleinstunternehmen zur Rücküberweisung aufgefordert hat, sind rechtswidrig. Das entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf im August in einem wegweisenden Musterverfahren. Geklagt hatten der Inhaber eines Schnellrestaurants, die Betreiberin eines Kosmetikstudios sowie ein Steuerberater, der seine Einkünfte überwiegend in der Aus- und Fortbildung erwirtschaftet. Tausende weiterer Prozesse auch bei anderen regionalen Gerichten stehen in den nächsten Monaten an, sie könnten mit ähnlichen Ergebnissen enden.

Corona: Lage von Soloselbstständigen deutlich verschlechtert

Das “größte Hilfsprogramm in der Geschichte des Landes” (Selbstlob der Pressestelle des zuständigen Ministeriums) ist damit endgültig zur Farce geworden. Nur scheinbar profitiert haben davon insgesamt 430.000 Minibetriebe mit bis zu fünf Beschäftigten, der finanzielle Gesamtumfang betrug 4,5 Milliarden Euro. Die Zahl klingt hoch, erzeugt in der Rückschau aber ein schiefes Bild. Denn die meisten Antragstellenden mussten die zugesagten 9000 Euro in voller Höhe zurückzahlen. Nur eine kleine Minderheit, die ihren Antrag früh genug gestellt hatte, durfte 2000 Euro zur Kompensation der durch die Corona-Maßnahmen verursachten Verluste nutzen. Für Musiker*innen oder Lichttechniker*innen, die der besonders hart getroffenen “Veranstaltungswirtschaft” zuarbeiten, war das ein Tropfen auf den heißen Stein: Über Monate waren viele von ihnen mit einem Totalausfall ihrer gewohnten Einkünfte konfrontiert. 

In den Corona-Jahren 2020 und 2021 habe sich die Lage von soloselbstständigen Erwerbstätigen deutlich verschlechtert, heißt es im jüngsten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Jeder dritte Befragte erklärte, in der Pandemie seine Tätigkeit reduziert zu haben, zwei Drittel erlitten finanzielle Nachteile durch die gesetzlichen Vorgaben zur Pandemiebekämpfung. Mindestens ein Viertel der Soloselbständigen habe ganz aufgegeben, meldet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Hundertausende haben sich bei den Jobcentern gemeldet, beziehen seither die Grundsicherung Hartz IV.

Statistik: Anzahl der Selbstständigen in Deutschland von 2006 bis 2021 (in 1.000) | Statista

Auch Daten der Kreditauskunft Schufa und der Geschäftsklimaindex des Münchner Ifo-Instituts belegen, dass den Betroffenen durch die Pandemie-Politik teilweise die Lebensgrundlage entzogen wurde. Zu einer Belastung mit enormer Abschreckungswirkung entwickelte sich dabei die staatliche Bürokratie. Schon im April 2020, mitten im ersten Lockdown, änderten zum Beispiel die Behörden in Nordrhein-Westfalen klammheimlich die Förderkriterien. In den Erläuterungen auf der Internetseite hieß es plötzlich, lediglich betriebliche Fixkosten könnten geltend gemacht werden, die Unterstützungsgelder dienten nicht etwa der Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts. Nach dieser neuen Lesart war keine Rede mehr von “einem Zuschuss, der nicht zurückgezahlt werden muss”: So hatte es der heutige Kanzler und damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz wenige Wochen zuvor bei seinen “Bazooka”-Auftritten vollmundig versprochen.

In penibel nachforschenden Onlineformularen sollten Antragstellende nun ihren “Liquiditätsengpass” belegen, die Ausgaben mussten in der Schlussaufstellung die Einnahmen überschreiten. Sonst hieß es: Geld zurück. Aus der scheinbaren Hilfe wurde so ein Damoklesschwert. Denn viele Soloselbstständige, etwa freiberufliche Dozierende oder Schauspieler*innen, haben kaum Kosten, die sie anrechnen lassen könnten. Große Teile ihrer Arbeit bereiten sie im Homeoffice der eigenen Wohnung vor, die Investitionen in “Betriebsmittel”, wie sie von den Finanzämtern genannt werden, sind gering. Aus der offensichtlichen Unkenntnis darüber, wie Kleinstunternehmen wirtschaften, entstand eine gigantische staatliche Fehlsteuerung. An der Lebenswirklichkeit der Betroffenen gingen die Hilfen völlig vorbei. Die handlungsleitende Maxime lautete: (Zurück)Fordern statt Fördern.

Petition von ver.di

Dieser Praxis hat das Düsseldorfer Verwaltungsgericht nun einen ersten Riegel vorgeschoben. Die Konsequenzen für den Haushalt des bevölkerungsreichsten Bundeslandes sind dennoch überschaubar. Denn alle, die in Nordrhein-Westfalen keinen Widerspruch gegen ihre Rückzahlungsbescheide eingelegt haben - weil sie wegen der absehbar hohen Prozesskosten das Risiko einer Klage nicht eingehen wollten - dürften leer ausgehen. Ihre Anträge sind rechtlich längst abgehakt, im Nachhinein können sie keine Ansprüche mehr geltend machen. Allerdings stehen nach Schätzungen noch mindestens 2000 weitere Verfahren aus. Bei gleichem Ausgang kommen damit auf den NRW-Etat Rückerstattungen beziehungsweise ausbleibende Einnahmen von bis zu 20 Millionen Euro zu.

Unbeeindruckt von den Musterurteilen kann die Landesregierung weiterhin behaupten, Kleinstbetriebe mit 4,5 Milliarden Euro unterstützt zu haben - ohne diese Ausgabe real verbuchen zu müssen. Weniger als ein Prozent der Empfänger*innen habe geklagt, jubelte selbstgewiss Christoph Dammermann, der inzwischen abberufene Staatssekretär von Ex-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP), schon lange vor dem Düsseldorfer Prozess. Doch eine Gleichbehandlung aller Hilfsanträge wäre nach wie vor möglich. Ver.di in NRW hat deshalb jetzt eine Online-Petition gestartet. Die Dienstleistungsgewerkschaft, die auch freiberuflich Tätige organisiert und unterstützt, will Druck ausüben auf Pinkwarts grüne Nachfolgerin Mona Neubaur. Die Kernforderung des Aufrufs: “Die Landesregierung soll die Rückzahlungsforderung der Corona-Soforthilfen stoppen und bereits rücküberwiesene Summen erstatten.” Die neue NRW-Wirtschaftsministerin ist allerdings vorrangig mit der Bewältigung der Energiekrise beschäftigt, besondere Sensibilität für die Nöte von Künstler*innen, Gastwirt*innen oder anderen kleinen Selbstständigen hat sie bisher nicht erkennen lassen.

Fahrlässig wurden Existenzen ruiniert

Auch in anderen Bundesländern wie Hamburg, Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz leiteten die Behörden Prüfungen ein und forderten Geld zurück. Der Vertrauensverlust zwischen Regierenden und Regierten ist enorm. Der Umgang mit den Kleinstunternehmen in der Krise dokumentiert ein politisches Versagen, fahrlässig wurden Existenzen ruiniert. Die Pandemie legte zugleich die Illusionen offen, die sich “Existenzgründer” lange gemacht haben. Die begleitende Ideologieproduktion begann in der Ära der Agenda 2010. Kritiker*innen warnten schon damals, dass viele Ein-Personen-Betriebe scheitern oder auf Tagelöhner-Niveau stagnieren würden. Trotzdem schien das Wirtschaften auf eigene Rechnung für manche die rettende Lösung - zumal es als “cooler” Lebensstil präsentiert wurde.

Wegen der Orientierung der Politik an fester Beschäftigung fehlen bis heute grundlegende Konzepte zur Existenzsicherung von Kleinstfirmen. So hätte der Staat in einer Krisensituation wie Corona die Sozialbeiträge prekärer Selbstständiger zeitweise übernehmen können. Kurzarbeiter profitierten während der Pandemie von dieser Regelung. Angestellte wurden relativ gut versorgt, Selbstständige dagegen getäuscht oder mit Trostpflastern abgespeist. Die daraus entstandenen Interessenkonflikte müssen jetzt die Justizbehörden klären.


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Kurzprofil

Thomas Gesterkamp
Thomas Gesterkamp schreibt seit über 30 Jahren als Journalist über die Arbeitswelt und Familienpolitik.
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DGB/Heiko Sakurai

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