Deutscher Gewerkschaftsbund

23.10.2023

50 Jahre „Steinkühlerpause“: Meilenstein der Tarifgeschichte

Es gibt nur wenige Tarifverträge, die sich dem öffentlichen Gedächtnis dauerhaft eingeprägt haben. Der im Oktober 1973 abgeschlossene Lohnrahmentarifvertrag II für die Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbadens gehört dazu. Vor allem die „Steinkühlerpause“ war ein tarifpolitischer Meilenstein, um die Arbeitswelt humaner zu machen, schreibt Reinhard Bispinck.

Franz Steinkühler

Der spätere Erste Vorsitzende der IG Metall, Franz Steinkühler, war 1973 Bezirksleiter der IG Metall in Baden-Württemberg. In seine Amtszeit als Bezirksleiter fallen zahlreiche harte Tarifverhandlungen in der Metallindustrie. Im Frühherbst 1973, nach einer großen Welle wilder Streiks in der Metallindustrie, organisierte Steinkühler seinen ersten Streik für die Humanisierung der Arbeit, die u. a. die nach ihm benannte „Steinkühlerpause“ für Akkordarbeiter beinhaltete. 1978 folgte im Frühjahr ein erfolgreicher Streik für Rationalisierungsschutz. SWR 1973

Vor 50 Jahren, im Oktober 1973, setzte die IG Metall mit dem Abschluss des Tarifvertrags für die Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbadens* ein unübersehbares Zeichen, dass die humane Gestaltung der industriellen Arbeitswelt erfolgreich zum Gegenstand von Tarifauseinandersetzungen gemacht werden kann. Ein kurzer Rückblick ist daher lohnend.

Tarifkonflikt: durch Streik zum Erfolg

Vor dem Hintergrund eines wachsenden Rationalisierungsdrucks in der Industrie, zunehmender Leistungsverdichtung und immer offener zutage tretenden negativen Folgen von repetitiver Teilarbeit (Fließbandarbeit) hatte die IG Metall in ihrem tarifpolitischen Kerngebiet der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden bereits 1969 ein Forderungspaket mit Regelungen zur Verbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen zur Verhandlung gestellt, das sie im Laufe des Jahres 1972 noch einmal überarbeitete.

Von 1970 bis 1973 fanden 20 Verhandlungsrunden statt, die aber zu keinem erfolgreichen Abschluss führten. Auch der Versuch einer Schlichtung im September 1973 scheiterte an den Arbeitgebern. Nach erfolgreicher Urabstimmung mit 89 Prozent Zustimmung ihrer Mitglieder rief die IG Metall am 16. Oktober zu Schwerpunktstreiks bei Daimler und Bosch auf, an denen sich 57.000 Beschäftigte beteiligten. Bereits nach wenigen Tagen, am 20. Oktober 1973, erzielten die IG Metall und der Arbeitgeberverband VMI ein Verhandlungsergebnis. Es fand in der 2. Urabstimmung die Zustimmung einer großen Mehrheit von 71 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder.

SDR/SWF Abendjournal am 16.10.1973: IG Metall-Debatten zur Humanisierung der Arbeitswelt

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Der vom damaligen Stuttgarter Bezirksleiter und späteren IG Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler und dem baden-württembergischen Metallarbeitgeberchef und späteren BDA-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer unterzeichnete Lohnrahmen II enthielt umfangreiche Bestimmungen zur Arbeitsorganisation, zu Erholzeiten und zu Entlohnungsbestimmungen. Viele Tarifregelungen mussten durch Betriebsvereinbarungen konkretisiert werden. Die Rolle der Betriebsräte wurde dadurch aufgewertet. Im Manteltarifvertrag wurden zudem wichtige Verbesserungen zur Verdienstsicherung und zum Kündigungsschutz vorgenommen. Die Kernbestimmungen umfassten folgende Punkte:

Die Inhalte des Tarifvertrages

Erholpausen

Beschäftigte im Leistungslohn (also zum Beispiel Akkordarbeiter/innen) erhielten einen Anspruch auf 5 Minuten bezahlte Erholungspause je Stunde, die auch als „Steinkühler-Pause“ bekannt wurden. Außerdem wurde ihnen 3 Minuten Bedürfniszeit in der Stunde („Pinkelpause“) zugestanden.

Menschengerechte Arbeitsgestaltung

Als allgemeiner Grundsatz wurde festgeschrieben: Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung sind menschgerecht zu gestalten.

Fließbandarbeit

Bei Fließ-, Fließband- und Taktarbeit soll die Arbeitsgestaltung vorrangig darauf gerichtet sein, die Abwechslungsarmut der Beschäftigung durch Aufgabenbereicherung und Aufgabenerweiterung in ihren ungünstigen Auswirkungen auf den Menschen abzumildern. Das gilt vor allem für Arbeitstakte mit weniger als 90 Sekunden Dauer. Arbeitgeber und Betriebsrat haben alle Möglichkeiten der Aufgabenerweiterung und Aufgabenbereicherung auszuschöpfen. Bestehende Takte dürfen grundsätzlich nicht weiter aufgeteilt werden. Die Anzahl der Springer bei Fließband- und Taktarbeit ist mit dem Betriebsrat zu vereinbaren.

Datenermittlung

Umfangreiche Vorschriften zur Datenermittlung sollen sicherstellen, dass die Akkordbeschäftigten bei menschengerechter Gestaltung der Arbeitsbedingungen ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter und tägliches Schwanken der Arbeitsleistungsfähigkeit wie des Arbeitsergebnisses ohne gesteigerte Anstrengung den Tariflohn ihrer Lohn- oder Arbeitswertgruppe erreichen kann.

Einkommensregelungen

Das tatsächliche Verdienstniveau der Akkordbeschäftigten im Betrieb muss im Durchschnitt mindestens 130 Prozent der tariflichen Akkordlohnsumme betragen. Wird der vorgeschriebene Prozentsatz nicht erreicht, so haben Arbeitgeber und Betriebsrat die Ursachen zu prüfen und Maßnahmen zu deren Beseitigung einzuleiten. Werden Vorgabezeiten bei Akkordarbeit reklamiert, erhalten die Beschäftigten mindestens den Durchschnittsverdienst.

Verdienstsicherung und Kündigungsschutz für Ältere

Im Manteltarifvertrag wurde vereinbart, dass Beschäftigte ab dem 55. Lebensjahr mindestens den Durchschnittsverdienst des vergangenen Jahres erhalten. Wer 53 Jahre alt war und mindestens 3 Jahre dem Betrieb angehörte, konnte nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.

Ein „Meilenstein“ – der alleine blieb

Der Tarifvertrag wird zu Recht als „Meilenstein der Tarifgeschichte“ bezeichnet. Das rückblickende Urteil von Franz Steinkühler lautet: „Der Lohnrahmentarifvertrag II von 1973 hat wie kein anderer Tarifvertrag nach ihm umfassende Verbesserungen in der Existenzmitte der arbeitenden Menschen, am Arbeitsplatz geschaffen." Allerdings hat der Lohnrahmen II so gut wie keine Nachahmer gefunden. Nur vereinzelt wurden Regelungen in anderen Tarifbereichen (z. B. bei Volkswagen) aufgegriffen. Es ist nicht gelungen, diesen Tarifvertrag auf andere regionale Tarifgebiete der Metallindustrie zu übertragen.

Nach Einführung der neuen Entgeltrahmentarifverträge versuchten die Metallarbeitgeber in Baden-Württemberg im Jahr 2005, die Regelungen insbesondere zu den Erholpausen in Frage zu stellen. Die Tarifparteien einigten sich schließlich auf die Wiederinkraftsetzung des Tarifvertrages zur Fortführung von Bestimmungen des Lohnrahmen II. Der Anspruch auf 5 Minuten Erholzeit pro Stunde blieb erhalten für Beschäftigte im Leistungslohn mit überwiegend manuellen Tätigkeiten mit kurzen Arbeitszyklen oder Prüfaufgaben mit kurzen Arbeitszyklen bei permanenter Aufmerksamkeit und hoher Konzentration.

Mehr zur "Steinkühlerpause": Zum Weiterlesen und -schauen

Kay Ohl, Der Kampf um die »Steinkühlerpause« (Fragen an Franz Steinkühler), in: Arbeit und Recht 7/2016

IG Metall (Hrsg.), Werktage werden besser. Der Kampf um den Lohnrahmentarifvertrag II in Nordwürttemberg/Nordbaden, Köln, Frankfurt/Main 1977

Schauer, H. Dabrowski, U. Neumann: Tarifvertrag zur Verbesserung industrieller Arbeitsbedingungen. Arbeitspolitik am Beispiel des Lohnrahmentarifvertrages II, Frankfurt/Main, New York 1984

Videos:

Streik für die „Steinkühlerpause“ (SDR/SWF Abendjournal am 16.10.1973)


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Kurzprofil

Reinhard Bispinck
war bis Mai 2017 Abteilungsleiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und Leiter des WSI-Tarifarchivs.
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