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Wird künstliche Intelligenz Arbeitsplätze vernichten? Christian Kellermann analysiert, wie komplex die Studienlage ist und welche Aussagen über die Zukunft des Arbeitsmarktes möglich sind und welche nicht.
Midjourney / Gegenblende
Jeder größere Entwicklungsschritt der KI wird mit einer gewissen Routine von gesellschaftlichen Verwerfungsszenarien begleitet. Vor zehn Jahren war es das maschinelle Lernen, das uns eine großangelegte technologisch getriebene Arbeitslosigkeit bescheren würde. Heute sind es Chat GPT & Co, die unsere Arbeit verändern oder vielleicht sogar vernichten. Weltweit könnte das Äquivalent von 300 Millionen Jobs, so die aktuelle Studie einer Investmentbank, durch die neuen Sprachmodelle überflüssig werden – eine allzu einladend verhetzbare Zahl, wie man das dystopische Medienecho auf diese Studie interpretieren kann. Dabei ist die Methodik und die Aussage der Studie selbst deutlich differenzierter, denn es geht ihr darum zu zeigen, welches Produktivitätspotenzial in den neuen KI-Modellen steckt. Dafür werden vor allem weltweit Großunternehmen befragt. Erst in einem weiteren Schritt rechnet sie dieses Potenzial auf Arbeit um, aber richtigerweise auf einzelne Bestandteile von Arbeiten, die durch die KI ersetzt oder ergänzt werden können.
Andere Studien, interessanterweise auch direkt aus dem Hause OpenAI, dem Schöpfer von Chat GPT, beziehen sich auf Berufsdatenbanken. Darin finden sich standardisierte Beschreibungen der Tätigkeiten, die einen Job ausmachen. Diese werden dann abgeglichen mit den Fähigkeiten der neuen KI-Modelle um zu vergleichen, ob eine Aufgabe auch durch die KI erledigt werden könnte – rein theoretisch und schematisch nach Schwierigkeitsgraden, die einer Aufgabe beigemessen werden. Hierbei geht es explizit um die brennende Frage, welche Aktivitäten einer KI-Automatisierung ausgesetzt sind.
Die Resarcher:innen von OpenAI stellen mit Hilfe dieser Methode fest, dass rund 80 Prozent der US-Arbeitskräfte zu mindestens 10 Prozent ihrer Arbeitsaufgaben von der Einführung von großen Sprachmodellen betroffen sind. Bei ca. 20 Prozent der Arbeitnehmer*innen sind mindestens 50 Prozent ihrer Aufgaben betroffen. Dabei geht es um die sogenannte Exposure. Also, zu welchem Anteil bin ich der KI „ausgesetzt“, definiert durch eine mindestens 50-prozentige Reduktion der Zeit für die Erledigung einer Aufgabe. Es geht im Kern ebenfalls um Arbeitsproduktivität, die mit den neuen KI-Methoden weiter ausgreift als frühere technologische Levels. Denn diesmal korrelieren vor allem höhere Einkommens- und Qualifikationsgruppen mit der Anwendbarkeit großer Sprachmodelle, was sicherlich einen Teil der Aufregung erklärt.
Die neuen KI-Modelle verfügen über gute maschinelle Fähigkeiten im Bereich Übersetzung, Klassifizierung, dem kreativen Schreiben oder auch der Code-Generierung. Außerdem sind große Sprachmodelle in spezialisierte Anwendungen integrierbar und erweitern so das Anwendungsspektrum. Die Modelle entfalten ihre Wirkung vor allem als „Ko-Piloten“ für den Menschen und gehen dabei in ihrer Funktionalität einen Schritt über das Erledigen (repetitiver) Routineaufgaben hinaus. Auf dieser Beobachtung beruht auch das Neue im Vergleich zu den Szenarien für Arbeit und Beschäftigung von vor zehn Jahren, weil bislang damit kalkuliert wurde, dass ausschließlich Routineaufgaben (vor allem manuelle, aber auch kognitive) durch KI ersetzbar würden. Journalistinnen, Übersetzer, Schriftstellerinnen, Meinungsforscher oder PR-Fachleute gehören folglich zur neuen Zielgruppe der KI.
Das zunehmende Maß an komplementärem Technikeinsatzpotenzial in vielfältigen Arbeitskontexten, das in vielen Studien hochgerechnet wird, gibt die Tendenz der Entwicklung durchaus richtig wieder. Eine belastbare Aussage über den Grad der Substitution von Arbeit können die Studien aber nicht leisten – aus mehreren Gründen:
Am Beispiel der Automatisierbarkeit des Coding lassen sich Potenziale und Risiken der generativen KI gut demonstrieren: Für typische Wettbewerbs-Programmierprobleme erreichen heutige Sprachmodelle häufig Lösungsraten, die auf dem Niveau von oder sogar jenseits von Menschen sind. Allerdings kommt es bei der Verwendung verschiedener Sprachmodelle auch vor, dass Menschen mehr Sicherheitslücken in ihren Code bauen – und gleichzeitig glauben, dass sie weniger Sicherheitslücken produzieren. Ganz zu schweigen von den vielfältigen Fehlern der Modelle, die den professionellen Einsatz heute noch stark einschränken. Ferner existieren Probleme für Spezialanwendungen, da es in der Regel keine Trainingsdaten im Internet gibt. Daraus ergibt sich die Herausforderung, wie man den Kontext einer Spezialanwendung in ein KI-System bekommt, ohne das System mit vielen Daten neu trainieren zu müssen. Die Anwender im Spezialanwendungsbereich sind in Deutschland vor allem KMU, die entsprechende Kontextinformationen für ein Programm bereitstellen müssten. Diese Informationen sind jedoch sensibel. Sofern der User in größeren Prompts arbeiten muss („ich nutze System X, löse Problem Y“), liefert er sein Problem offen dem jeweiligen Systembetreiber aus.
In der Summe geben auch die neueren Modellierungen der Effekte auf Arbeit wenig Aufschluss über zu erwartende Beschäftigungseffekte, weil sie den Arbeitskontext nicht hinreichend erfassen (können). Die Schätzungen der Produktivitätseffekte wiederum sind wichtig, weil sie das Komplementaritätspotenzial der generativen KI einordnen helfen. Hinter dem Indikator steht die qualitative Veränderung von Arbeit durch den vermehrten oder verbesserten KI-Einsatz, welche in der Folge empirisch untersucht werden müsste – im Sinne einer umfassenden Technikfolgenabschätzung, die insbesondere die Beschäftigten und die Mitbestimmungsakteure mit in den Blick nimmt. Sie müssen über das Potenzial und die Grenzen der KI-Modelle informiert werden, um einschätzen zu können, zu welchem Zweck sie konkret eingesetzt werden können: Um die eigene Arbeit aufzuwerten, von leidigen Pflichten zu befreien oder auch um weniger oder flexibler zu arbeiten – bei größtmöglicher Kontrolle über das Endergebnis der eigenen Arbeit mit einem KI-Kopiloten.
Gewerkschaften kommt dabei die elementare die Rolle zu, diesen Bildungsprozess aus der Perspektive der Beschäftigten zu institutionalisieren und der KI die notwendigen Grenzen zu setzen, damit aus dem Idealbild der menschenzentrierten KI keine leere Floskel wird. KI kann und wird ein wesentliches Werkzeug für die optimierte Gestaltung des digitalen Bildungsraums sein. Gewerkschaften sollten dieses Tool so nutzen und mitkonzipieren, dass der Ausgangspunkt eines „Matching“ von Bildungsangebot und -nachfrage nicht nur der Fachkräftemangel oder der konkrete Nutzen für den Praxiskontext im Vordergrund stehen. Sie sollten deutlich machen, dass es auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft um mehr als Qualifikationen geht: der Rationalität der KI stehen in zunehmenden Maßen die Soft Skills des Menschen gegenüber.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.