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Vor 300 Jahren wurde der Philosoph und Aufklärer Adam Smith geboren. Sein Werk wird bis heute von Ideologen, Propagandisten, Parteien und Wirtschaftsverbänden vereinnahmt, meint Rudolf Walther.
Scottish National Gallery, Public domain, via Wikimedia Commons
Wenn es darum geht, den herrschenden Kapitalismus mit seinen Exzessen zu rechtfertigen, Freihandel und den Markt zu preisen, greifen Manager, Politiker und Wissenschaftler gerne auf Adam Smith zurück, der vor 300 Jahren, am 5.6.1723 geboren wurde und am 17.7.1790 starb.
Smith, so die gängige Rede, habe mit seinem Hinweis auf den Bäcker, der nicht aus Wohlwollen Brot verkaufe, sondern aus Egoismus handle, überzeugend bewiesen: wenn jeder und jede nur seinen Interessen nachgehe, führen alle am besten. Smith habe, so der Refrain, den Markt als „die unsichtbare Hand“ gepriesen, die allen zum Vorteil gereiche, gleichsam interessenlos verfahre und folglich zu Recht alles dirigiere. Bis in unsere Tage werden sehr wenige pointierte Zitate dieses genialen Denkers für dubiose Ziele missbraucht – und 99,9 Prozent seines Werkes weggelassen.
Noch heute läuft Adam Smith in der Wirtschaftswissenschaft und vor allem in der Wirtschaftspresse mit einer Schelle am Hals herum, die man ihm vor gut 100 Jahren umgebunden hat. Gerhard Schwarz, der frühere Oberpriester der neoliberalen Sekte in der NZZ-Wirtschaftsredaktion, zitiert ein paar Worte von Smith, die den Gehalt von dessen Werken auf einen Vers verkürzen, der in jedes Poesiealbum passt: „Der Vater der modernen Ökonomie, der Schotte Adam Smith, sah den idealen Staat als einen Player, der sich auf drei Aktionsfelder konzentriert: ‘Peace, tolerable justice and easy taxes‘“. Das gleicht dem Verfahren, Schillers Drama „Wilhelm Tell“ auf den Satz von Ernst Bloch zu verkürzen: „Man schießt auf Obst“.
Rustikale Trivialisierungen von Smiths Theorie sind zwar seltener geworden, nicht zuletzt wegen der seriösen jüngeren Forschung, die die politische Instrumentalisierung von Smith für die liberale und marktradikal-neoliberale Politik überwunden hat.
Adam Smith, Ökonom und Aufklärer, war von 1751 an 12 Jahre lang Professor für Moralphilosophie in Glasgow, danach für zwei Jahre Begleiter eines jungen Adligen auf dessen Kavaliersreise („grand tour“) durch Frankreich und von 1766 an bis zu seinem Tod Rentner und Privatgelehrter – dank der nobel dotierten Leibrente eines adligen Großgrundbesitzers. In dieser Zeit entstand sein Meisterwerk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, das 1776 erstmals erschienen ist und rund 1000 Seiten umfasst.
Dieses Buch machte Smith bekannt und berühmt. Und den Autor zum Begründer der politischen Ökonomie, die später unter dem falschen Namen „Volkswirtschaftslehre“ zum universitären Lehrfach wurde. Die Rezeption des Buches war von Anfang an verwirrend und kompliziert und entwickelte ein „seltsames Eigenleben“, so der Biograf Karl Graf Ballestrem.
Über Smith‘ Werk „Wohlstand der Nationen“ behielten von 1790 bis heute Usurpatoren, Bestatter und Grabschänder die Oberhand und machten aus Kritik der politischen Ökonomie eine Fibel der Plusmacherei oder eine „Bereicherungswissenschaft“ (Friedrich Engels).
Smith begann als Moralphilosoph und veröffentlichte 1759 „The Theory of Moral Sentiments“. In diesem komplexen Werk versuchte Smith, die anthropologischen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens zu klären sowie das paradoxe Zusammenspiel von Eigeninteresse und Sympathie empirisch zu belegen. Das 17 Jahre später erschienene Buch über den „Wealth of Nations“ dagegen handelt nicht von Sympathie und moralischen Urteilen, sondern von Wohlstand, Profit, Lohn und anderen wirtschaftlichen Themen. Insbesondere in der deutschen Smith-Rezeption von Ende des 19. Jahrhunderts an entdeckte man bei Smith einen „Umschwung“: vom Ethik-Buch des Jahres 1759 zum Ökonomie-Buch von 1776. Fortan zirkulierte die Rede vom doppelgesichtigen Smith: dem Menschenfreund und dem berechnenden Ökonomen.
Diese These entpuppt sich bei einer kritischen Lektüre beider Werke als unhaltbar. Sie ist vielmehr der Versuch von Ideologen, Propagandisten, Parteien und Wirtschaftsverbänden, das Werk für ihre jeweils eigenen Interessen in grobianischer Weise zu vereinnahmen. Das beginnt schon bei der Übersetzung: In der „Theory of Moral Sentiments“ bedeutet „Sentiment“ nicht etwa „Gefühl“, sondern „moralische Urteilspraxis“. Sympathie, die emotionale Basis für die Kommunikation von Menschen mit Menschen, meint Smith, bestimme unsere Art und Weise, moralische Urteile zu fällen – denn „Sympathie“ gehöre zur menschlichen Natur und sei in dieser tief verankert: „Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Grundausstattung ein ursprüngliches Verlangen mit, seinen Brüdern zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihnen zu schaden.“ In dieser natürlichen Disposition steckt nach Smith auch der Anspruch auf Gleichheit und Gleichbehandlung aller Menschen. Smith entwickelt seine These jedoch nicht normativ, das heißt mit Rekurs auf Autoritäten oder Regelkanons, er beobachtete vielmehr empirisch-pragmatisch, d.h. das Alltagsleben. Die Unwägbarkeit und Unsicherheit des von ihm gewählten Verfahrens eben Alltagsbeobachtungen schützt Smith vor moralischem Rigorismus.
Smith‘ Argumentation im „Wealth of Nations“ beruht gerade nicht auf einem ichbezogenen Prinzip, sondern auf dem Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit und Sympathie von Menschen untereinander als genuin soziale Wesen. Smith stützt sich eben nicht – wie ihm Neoliberale unterstellen – auf borniert-egoistische Interessen- und Profitkalküle der Einzelnen. Seine grundlegende Einsicht lautet: „Nicht von dem Wohlwollen der Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Rücksicht auf ihr eigenes Interesse („but from their regard to their own interest“). „Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe („but to their self-love“) und reden nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.“ Die beiden Sätze werden meistens sehr verkürzend-verfälschend interpretiert – nämlich im Horizont des „Ego-Kapitalismus“ (FAZ vom 24.8.2013) und der in diesem Kontext immer herzitierten Metapher der „unsichtbaren Hand“, die in seinem ökonomischen Hauptwerk genau einmal vorkommt ebenso wie der Begriff „Eigeninteresse“ („self-interest“).
Die Verfälschung besteht darin, dass Interpreten aus dieser ebenfalls vielzitierten Stelle des Riesenwerks darauf schließen, Smith sehe Eigenliebe oder Egoismus als erstes Motiv wirtschaftlichen Handelns. Das meint Smith an keiner Stelle seines dicken Buches. Es geht ihm nie um die Motive, sondern um die Fundamente menschlichen Handelns und Zusammenlebens. Der Schlüssel zum Verständnis der oben zitierten zentralen Passage ist nicht das Interesse oder Motiv des Fleischers oder Bäckers, sondern die existentielle Voraussetzung jeden Lebens: die Selbsterhaltung. „Give me that which I want, and you shall have this which you want“. Der Fortschritt der Zivilisation besteht für Smith gerade darin, dass nicht jeder selbst herstellen muss, was er zum Überleben benötigt, sondern dass alle auf rational konzipierte Arbeitsteilung vertrauen können. Diese erfordert Koordination, Kooperation und gegenseitige Hilfe und Absprache. Sie erwachsen nicht aus egoistischen Kalkülen, sondern bilden die gemeinschaftliche Basis von Tauschgesellschaften.
Das zweite Feld, auf dem die Theorie von Smith trivialisiert und verfälscht wurde – insbesondere von Propagandisten der sozialen Marktwirtschaft und des Liberalismus nach 1945 –, ist das Verständnis von Markt. Unbestritten ist, dass Smith die Wirtschaft vom Korsett staatlicher Bevormundung etwa des Außen- und Devisenhandels unter dem Merkantilismus ebenso befreien wollte wie von der feudalen Tradition, dem Adel wirtschaftliche Privilegien und andere Exklusivrechte einzuräumen. Aber entgegen dem liberalen und neoliberalen Marktradikalismus wollte Smith den Staat und die staatliche Regelungskompetenz nicht beseitigen, sondern nur „Höflingen, Geldleuten und Gutsbesitzern“ ihre Vorrechte streichen. Im Gegensatz zu den Vorstellungen von Apologeten, die den Markt als „spontane Ordnung“ (Friedrich A. Hayek) anpreisen und Smith‘ Theorie von Markt, Wettbewerb und Privateigentum vereinfachen, sollte der Markt in Smith‘ „commercial society“ nicht regieren – schon gar nicht spontan. Nach den Vorstellungen von Smith lebte in der von krassen Formen der Unterdrückung befreiten „kommerziellen Gesellschaft ... jedermann vom Tauschen und wird in gewisser Hinsicht ein Händler“. Smith war obendrein klar, dass eine reine Marktwirtschaft unfähig ist, für eine gerechte Verteilung zu sorgen, denn „im Hinblick auf das Produkt von Arbeitskraft in einer großen Gesellschaft gibt es niemals so etwas wie eine faire und gleiche Verteilung“. So können beispielsweise für Smith Gesellschaften keinen Bestand haben, in denen der größte Teil der Bevölkerung arm ist. Er meint vielmehr: Weil die forcierte Arbeitsteilung dazu führe, dass Menschen, die nur einfache Arbeiten ausführen, „dumm und beschränkt“ blieben, müsse der Staat kompensatorisch eingreifen und sich beispielsweise um die Bildung aller kümmern.
Smith war ein engagierter Vertreter des Freihandels und plädierte für ein „natural system of liberty“. Über dessen Funktionieren sagte er zwar wenig, dafür umso mehr Kritisches über dessen Defizite. An einer einzigen Stelle spricht Smith von „einer unsichtbaren Hand“, die dafür Sorge, dass über den Marktmechanismus Zwecke erfüllt würden, die nicht vom Handelnden selbst beabsichtigt seien, aber sowohl dem Eigen- wie auch dem Allgemeininteresse entsprächen. Der Markt könne seine technische Koordinationsfunktion nur dann erfüllen, so Smith weiter, wenn die Regeln und Mechanismen, nach denen er funktioniert, politisch reguliert und staatlich überwacht würden. Kurzum: Wäre diese Bedingung von Smith heute erfüllt, befänden sich viele Manager und Banker und Unternehmer nicht auf freiem Fuß.
Seit über zweihundert Jahren wird „die unsichtbare Hand“ jedoch mit dem Ziel zitiert, den Denker Adam Smith für eine Politik zu vereinnahmen, die den Staat abwertet und den Markt über alles stellt. Die gängige These lautet: Der Markt zeitige automatisch optimale Ergebnisse, wenn er nur vom Staat nicht „gestört“ und von Gewerkschaftsforderungen nicht „bedrängt“ werde.
Während die herrschende Wirtschaftswissenschaft die Wirtschaft als ein quasi über der Gesellschaft stehendes und von ihr losgelöstes, nach eigenen Regeln funktionierendes System begreift, war die Ökonomie für Smith als eine genuin politische Ökonomie, eingebunden in ein Moral- und Rechtssystem. Sein „natürliches System der Wirtschaftsfreiheit“ war Teil des „großen Systems der öffentlichen Verwaltung“, das dem „natürlichen Streben nach Gerechtigkeit“ Geltung gegen die „natürliche Selbstsucht und Raubgier“ der Reichen verschafft, denn „alle Menschen, selbst die dümmsten und gedankenlosesten verabscheuen Betrug, Gemeinheit und Ungerechtigkeit und freuen sich, wenn diese bestraft werden“.
Smith verteidigte den Freihandel, aber nicht die damalige Parole des „Laissez faire“ , als exklusive Freiheit für Getreidehändler und Großgrundbesitzer. Smith‘s Antwort: „Das Interesse der Händler (…) widerspricht dem öffentlichen Interesse.“ Er verteidigte auch das Privateigentum: „Das Eigentum, das jedermann an seiner eigenen Arbeit hat, ist die ursprüngliche Grundlage von allem anderen Eigentum, und so ist es das heiligste und unverletzlichste“. Aber Smith war kein Fanatiker, sondern blieb Kritik und Aufklärung verpflichtet. Er fügte diesem Satz deshalb hinzu: Den Arbeiter „daran hindern zu wollen, seine Kraft und Geschicklichkeit so anzuwenden, wie er es, ohne seinen Nächsten zu kränken, passend findet, ist geradezu eine Verletzung dieses heiligsten Eigentums“. Und Smith wusste: „Wo auch immer viel Eigentum ist, da ist auch große Ungleichheit. Für einen sehr reichen Mann muss es wenigstens fünfhundert Arme geben, und der Überfluss bei den Wenigen setzt die Dürftigkeit der Menge voraus.“ Smith war kein Sozialist. Aber noch weniger als mit dem Sozialismus hatte er mit jenen Apologeten gemein, die den Kapitalismus als Marktwirtschaft verklären und den Sozialstaat als „komfortable Stallfütterung“ denunzieren, wie Wilhelm Röpke (1899-1966) es als einer der geistigen Väter des Neoliberalismus tat. Smith erinnerte die Reichen immerhin daran, dass sie vom „Schutz einer bürgerlichen Obrigkeit“ abhängen, „damit sie nur eine Nacht ruhig schlafen können“. Er erkannte den Staat als Institution „zur Verteidigung der Reichen gegen die Armen“; also „jener, die einiges Eigentum haben, gegen jene, die gar nichts haben“. Die politische Ökonomie hatte seiner Meinung nach aber noch nicht die Aufgabe, Rezepte feilzubieten, wie die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht werden konnten, sondern „erstens, den Menschen reichlich Einkommen, und zweitens, dem Staat genügend Einnahmen zu verschaffen, um öffentliche Dienste zu erfüllen“. Mit dem intellektuell plumpen FDP—Liberalismus und seinen trivialen Slogans „schlanker Staat“, „keine Steuererhöhung“, „Schuldenobergrenze“, „Markt, Markt, Markt“ , hat Adam Smith‘ Theorie gar nichts zu tun.
DGB/Heiko Sakurai
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