Die deutsche Arbeiterbewegung ist ohne ihre jüdischen Protagonisten kaum denkbar. Dem Verhältnis zwischen Judentum und Arbeiterbewegung spürt eine aktuelles Buch der Friedrich-Ebert-Stiftung nach. Eine Rezension von Gunter Lange.
Friedrich Ebert Stiftung
Die deutsche Arbeiterbewegung ist ohne ihre jüdischen Protagonisten kaum denkbar, denn sie haben sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mitgestaltet. Für viele von ihnen war es ein Weg zwischen Assimilierung und Diskriminierung. Dem Verhältnis zwischen Judentum und Arbeiterbewegung haben 22 Autorinnen und Autoren am Beispiel mehr oder weniger prominenter Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung nachgespürt und ihren Befund in einem Band „Beiträge aus dem Archiv der sozialen Demokratie“, Band 18, der Friedrich-Ebert-Stiftung publiziert. Ein Beitrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.
Es erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich: Die jüdischen Protagonisten der Arbeiterbewegung kommen in der Regel nicht aus der Arbeiterschaft, sondern aus bürgerlichen Kreisen, gar Fabrikantenfamilien. Hilfreich ist ein Blick auf das 19. Jahrhundert. Religiöse Aspekte spielen dabei keine nennenswerte Rolle. Es waren zunächst die bürgerlich-liberalen politischen Bewegungen und Parteien, die jüdisches Bürgertum als Wählerschaft ansprachen. Soziale Auseinandersetzungen im Zuge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19, Jahrhunderts leiteten einen Wandel ein. „Das Aufkommen der Sozialdemokratie bot dagegen einen geeigneten Raum für Jüdinnen und Juden, um selbst politisch in Aktion zu treten, positionierte sich die Bewegung doch inhaltlich in völliger Opposition zu den völkisch-nationalen Kräften in der Gesellschaft. Insofern stellte sie auch einen Gegenentwurf zum grassierenden Antisemitismus dar. Als religiös indifferent ausgerichtete Bewegung war eine jüdische Herkunft hier nicht von Relevanz. Umso deutlicher zeichnet sich der überproportionale Anteil an jüdischen Personen ab, die von Beginn an politische Schlüsselpositionen in der deutschen Arbeiterbewegung eingenommen hatten“, skizziert der Herausgeber der Schrift, der Politikwissenschaftler Jacob Hirsch, in der Einleitung.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Das Grundmotiv der Französischen Revolution hatte im Bürgertum die politische Restauration in der nachnapoleonischen Ära überdauert und leitete die frühen sozialen Bewegungen. Zu Recht wird auf Moses Hess (1812-1875), er stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Bonn, verwiesen. „Die jüdische Hinwendung zur Arbeiterbewegung war auch dem Umstand geschuldet, dass in diesen Organisationen, die später Parteien werden sollten, das Postulat der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit rassistischen und antisemitischen Ideologien der Mehrheitsgesellschaft von Militär, Adel und reaktionärem Bürgertum gegenüberstand“, formulierte Jürgen Wilhelm bezogen auf Hess. Der Frühsozialist sah im Antagonismus zwischen Arm und Reich zugleich den Widerspruch zwischen Demokratie und Aristokratie. Der junge gelernte Buchdrucker Stephan Born (1824-1898); dessen jüdische Eltern sich dem Reformjudentum angeschlossen hatte, verfolgte eigene Vorstellungen zur Selbstorganisation der Arbeiter. Prägenden Einfluss auf die Arbeiterbewegung hatte auch Hugo Sinzheimer (1875-1945). Aus einer jüdischen Fabrikantenfamilie stammend hatte er als Jurist maßgeblich die Anfänge des Tarifvertragsrechts geformt sowie soziale Gerechtigkeit als staatliche und gesellschaftliche Aufgabe als Staatsziel für die Weimarer Verfassung formuliert. Gegen Ende der Weimarer Republik waren Persönlichkeiten wie Toni Sender (1888-1964) und Siegfried Aufhäuser (1884-1969) als Gewerkschafter, sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Juden besondere Zielscheiben für Hetzkampagnen. Beide überlebten 1933 die NS-Verfolgung nur durch Flucht ins Exil.
Exkurs: Die antisemitische Verfolgung in Deutschland wie auch in den Nachbarländern hatte Juden seit Beginn des 20. Jahrhunderts veranlasst, nach Palästina auszuwandern; nach der Machtübernahme der Nazis besonders zahlreiche jüdische Akteure der Arbeiterbewegung. Sie trugen u.a. dort zum Aufbau der Gewerkschaftsbewegung Histadruth bei. Ein prominentes Beispiel ist Fritz Naphtali (1888-1961), Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, Journalist und Wirtschaftsexperte des ADGB, er hatte Mitte der 1920er Jahre maßgeblich das Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ geprägt.
Nach dem Ende der NS-Herrschaft beteiligten sich aus dem Exil zurückgekehrte jüdische Protagonisten der Arbeiterbewegung am Wiederaufbau der Arbeiterbewegung in der Sozialdemokratie wie in den Gewerkschaften. Beispiel Siegfried Aufhäuser, einer der führenden Köpfe der Angestelltenbewegung. Jeanette Wolff, vor 1933 in der Sozialdemokratie wie im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens aktiv, brachte sich nach mehr als dreijähriger Tortur in Konzentrationslagern wieder in die Arbeiterbewegung ein, beteiligte sich am Aufbau der Deutschen Angestelltenbewegung, war sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete und zehn Jahre Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. „Die festgelegte soziale Ethik des Judentums ist so fortschrittlich, dass sie für die heutige Zeit richtungsweisend sein kann“, formulierte sie in der frühen Nachkriegszeit als eigenes Credo. Auch Ludwig Rosenberg, DGB-Vorsitzender von 1963 bis 1969, während der Weimarer Republik Gewerkschafter in der Angestelltenbewegung, hatte Wurzeln im liberalen Judentum und knüpfte intensive Verbindungen zwischen DGB und Histadruth.
„Nicht denkbar ist die Kohäsion von jüdischen Menschen und der Arbeiterbewegung allerdings ohne die Diskriminierungen, denen Jüdinnen und Juden nicht erst in der Neuzeit ausgesetzt waren“, schreibt Herausgeber Hirsch in seiner Einleitung. Einen besonderen Aspekt liefert die Angestelltenbewegung: Der 1893 gegründete Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (DHV) war die Speerspitze des Antisemitismus und zielte auf die Ausgrenzung der Juden aus den Angestelltenberufen. Gerade dies war für Aufhäuser als junger Angestellter sich zunächst bei der liberalen Angestelltenbewegung und ab 1912 der freien Angestelltenbewegung anzuschließen. Ausgrenzende Diskriminierung erfuhr er 1933 ausgerechnet aus dem ADGB. Tatsächlich kamen prägende Persönlichkeiten der Angestelltenbewegung in der Weimarer Republik aus dem Judentum wie o. g. Aufhäuser und Rosenberg, so auch Hans Gottfurcht, Benno Marx und Bruno Süß. Besonders verdienstvoll ist in dieser Publikation die Bandbreite der skizzierten Persönlichkeiten, sie rückt weitgehend Vergessene ins Blickfeld und thematisiert in dankenswerter Weise u. a. die Tradition der jüdischen Arbeitersportvereine.
DGB/Heiko Sakurai
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