In der Corona-Krise arbeiten viel mehr Menschen zuhause. Etliche werden auch in Zukunft öfter von dort arbeiten und bräuchten größere Wohnungen. Gleichzeitig steigen die Mieten vor allem in den Stadtzentren. Die Stadtentwicklung bedarf daher der politischen Intervention, um innovative und soziale Konzepte durchzusetzen.
Von Thomas Gesterkamp
In Jacques Tatis Film "Playtime" wird die neue Bürowelt der Sechzigerjahre karikiert. Die Idee des Großraumbüros ist schon lange umstritten, seit der Corona-Krise mehr denn je, denn nun ist das Homeoffice der neue Hit. DGB/dah
Hej, Homeoffice!: Unter diesem Motto bewirbt ein Kaffeeröster in seinem Verkaufskatalog das "Pure nordic living". Das Geschäftsprinzip der Firma besteht darin, neben dem Kernprodukt im ständigen Wechsel viele andere, zum Zeitgeist passende Artikel anzubieten – um damit die Kunden in seine Filialen oder auf das eigene Onlineportal zu locken. Aktuell ist zum Beispiel ein Esstisch mit integriertem Arbeitsplatz zu haben. Der ist praktischerweise "auf- und zuklappbar" und enthält zudem eine "Stauraum-Bodenplatte". In dieser, so illustriert das Werbefoto, kann die Heimarbeiterin blitzschnell Tablet, Unterlagen oder Smartphone verschwinden lassen, um gleich nach der Videokonferenz am selben Platz das Mittagessen zu servieren.
Die Bekämpfung des Corona-Virus hat Teile der Arbeitswelt und des Bildungssystems in die privaten Wohnungen verlagert. Doch diese sind für ständiges Homeoffice und Homeschooling oft wenig geeignet. Die vielfältiger und zeitlich umfangreicher gewordenen Aktivitäten zu Hause stoßen an räumliche Grenzen. Denn gerade in Großstädten mit hohen Mieten leben die Menschen auf eher kleinen Flächen. Notgedrungen werden diese dann verschiedenartig genutzt. Sie dienen zugleich als Ess- und Arbeitsplatz, sind Küche und Klassenraum in einem. Mit "Officeschränken" für das Wohnzimmer, rückenfreundlichen Stühlen oder "Vorhangschals" als Raumteiler bietet nicht nur der Kafferöster die passenden Accessoires. Die ganze Möbelindustrie stellt sich um, entwickelt neue Produkte.
Nur zwölf Prozent der Beschäftigten arbeiteten vor der Pandemie zeitweise von zu Hause aus. Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 wuchs die Zahl sprunghaft auf bis zu 40 Prozent, um danach wieder zu sinken. Das Potenzial des mobilen Arbeitens ist überschaubar, selbst digitalisierbare Tätigkeiten erfordern gelegentliche persönliche Treffen und Abstimmungen. Automobilwerker, Altenpflegekräfte, Busfahrer oder Verkäuferinnen können ihr Geld ohnehin nicht in den eigenen vier Wänden verdienen. In welchem Umfang sich das Homeoffice als Erwerbsform dauerhaft etabliert, lässt sich derzeit noch nicht seriös abschätzen.
Viele Unternehmen haben die neue Möglichkeit erkannt, Produkte zu verkaufen, die für das Homeoffice vonnöten sind. DGB/Archiv
Spürbar aber sind die Folgen bereits jetzt auf dem Immobilienmarkt: Die Mieten und Kaufpreise für das private Wohnen steigen und steigen. Die gewerbliche Vermietung von Ladenlokalen hingegen bereitet wegen des lange zugesperrten Einzelhandels Probleme. Auch Büroflächen gibt es derzeit im Überfluss, weil sich viele Betriebe räumlich eher verkleinern wollen. Schon seit Jahren experimentieren Unternehmen mit Nutzungskonzepten, in denen es keine persönlich zugeordneten Schreibtische mehr gibt. Die Arbeit von zu Hause erspart ihnen erhebliche Kosten, die sie auf ihre Beschäftigten abwälzen. Denn auch Zusatzleistungen wie Diensthandys oder Firmenlaptops gleichen keineswegs aus, was eine optimierte, den Anforderungen des Gesundheitsschutzes genügende Einrichtung des Heimarbeitsplatzes verschlingen würde. Die neu eingeführte "Homeoffice-Pauschale" in der privaten Steuererklärung von maximal 600 Euro pro Jahr kompensiert die Mehrausgaben für zusätzliche Investitionen nur symbolisch. Mit dieser Summe lässt sich gerade mal eine ergonomische Sitzgelegenheit finanzieren.
Onlinevertrieb, Paketlieferungen an die Haustür und Streamingangebote verändern die Stadtlandschaften. Es kommt zu einer Entflechtung urbaner Räume, an manchen Orten, etwa in Vierteln mit geringer Kaufkraft, auch zur Verödung. Das Stadtzentrum verliert an Bedeutung, was nicht unbedingt Anlass zur Klage sein muss. Billigketten in liebloser und fantasieloser Architektur waren schon in der Vergangenheit alles andere als ein städtebaulicher Magnet. Nach dem Ende der Dauerschließungen dürften hier die Folgen der ruinösen Corona-Politik besonders sichtbar werden. Vor allem den Innenstädten in strukturschwachen Regionen drohen zugenagelte Geschäfte, insolvente Cafés und aufgegebene Kaufhäuser.
Eine Ursache sind die astronomischen Mieten. 30 oder gar 50 Euro pro Quadratmeter gelten in guten Lagen als durchaus üblich. Die Objekte gehören häufig spekulierenden Hedgefonds, privaten Großinvestoren oder großen Versicherungskonzernen, denen zeitweise Leerstände relativ egal sind. Hier bedarf es staatlicher Regulierung, etwa einer bundesweiten Obergrenze für die Preise von Gewerbeimmobilien. Nur so könnten Stadtplaner neue Nutzungsideen realisieren, die sich von der einseitigen Fixierung auf das Einkaufen lösen - durch die Umwidmung von Ladenlokalen und Büros zu Wohnungen, durch mehr Kulturangebote und nichtkommerzielle Treffpunkte in den sich überall gleichenden, uniform gestalteten Fußgängerzonen.
Meist werden in den letzten Jahren schicke und teure Eigentumswohnanlagen gebaut, die für viele Menschen unerschwinglich sind. Sie müssen auf kleinem Raum leben und derzeit oft genug auch arbeiten und ihre Kinder unterrichten. DGB/ahfotobox/123rf.com
Eine Stadtflucht aufs Land hat der erhöhte Platzbedarf im Privaten bisher nicht ausgelöst. Dieser angebliche Trend wird zwar von einigen Feuilletons herbeigeschrieben, ist aber statistisch nicht belegbar. Noch immer wollen junge und gut ausgebildete Menschen meist in den Großstädten leben. Die Wohnungskrise könnte sich hier noch verschärfen, weil für das mobile Arbeiten und wegen der stärkeren Präsenz zu Hause größere Objekte mit mehr Zimmern nachgefragt werden – am besten auch noch mit Balkon oder Terrasse. Mieten, Bodenrichtwerte und Immobilienpreise drohen daher weiter in die Höhe zu gehen.
Das unterstreicht die Notwendigkeit einer öffentlichen Steuerung, um die Städte sozial ausgewogen zu gestalten – trotz der notorischen Proteste der Lobbyisten gegen jede Intervention. Der Berliner Mietendeckel war ein Schritt in diese Richtung, die erfolgreiche Klage beim Verfassungsgericht dagegen ein Rückschlag. Eine staatliche Politik gegen die Wildwest-Ökonomie auf dem Immobilienmarkt ist wichtiger denn je. Bezahlbarer Wohnraum für kleine und mittlere Einkommen dürfte ein Thema des kommenden Bundestagswahlkampfs werden, ebenso wie das Ankurbeln des sozialen Wohnungsbaus. Helfen könnte das gerade beschlossene Baulandmobilisierungsgesetz, dass die Rechte der Kommunen beim Bereitstellen der dringend notwendigen Zusatzflächen gestärkt hat.
Im günstigen Fall könnten die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie als Korrektiv für eine lebenswertere Umgebung wirken. Die Zukunft gehört nachbarschaftlichen und multifunktionalen Stadtquartieren, in denen zugleich gewohnt, gearbeitet und eingekauft werden kann. Nötig sind dabei kreative Lösungen auch im kleinen Maßstab. Baugruppen oder Wohngenossenschaften haben längst sogenannte "Co-Housing"-Konzepte vorgelegt, die durch gemeinschaftliche Nutzung von Gärten, Küchen, Gästezimmern, Werkstätten oder auch Büros den individuellen Wohnbedarf reduzieren. Zwar werden solche Ideen bei manchen städtischen Entwicklungsprojekten in begrenztem Umfang gefördert oder als Vergabekriterien in Architekten-Wettbewerben mitberücksichtigt. Meist jedoch übersteigt die Nachfrage nach neuen Wohnformen das Angebot deutlich. Bestimmt allein der Markt, wem teure Grundstücke verkauft werden, haben innovative und sozial orientierte Initiativen kaum eine Chance.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.