Hunderttausende Französinnen und Franzosen demonstrieren vor allem gegen die Art und Weise, wie Staatspräsident Emmanuel Macron seine Rentenreform durchgesetzt hat. Dieser spricht den Demonstrierenden nun die Legitimität ab. Für die moralisch-politische und soziale Seite des Legitimitätsanspruchs hat der ehemalige Investmentbanker und Wirtschaftsfachmann Macron weder ein Gespür noch ein Ohr, schreibt Rudolf Walther.
Privat
Von Rudolf Walther
Um herauszufinden, wie „Frankreichs Uhren gehen“, braucht es die stille und vernünftige Reflexion und Beobachtung, wie sie der Schweizer Historiker Herbert Lüthy in seinem zwar zwiespältigen, aber doch zu Unrecht völlig vergessenen Buch „Frankreichs Uhren gehen anders“ von 1954 demonstriert hat. In Teilen der deutschen Presse dagegen dominieren in schnellfingerigen Berichten und Kommentaren zu den aktuellen Massenstreiks gegen Präsident Macrons Rentenreform zwei Trends von grobianischem Zuschnitt: In der „Süddeutschen Zeitung“ wurden die Träume von Teilen der Pariser Bohème-Linken vom einfachen Leben auf dem Lande und einem „Zurück in eine monochrome Vergangenheit“ als Zukunft und Vision „der“ Helden und Heldinnen der französischen Gegenwart hochgejazzt, während die unbescheidenen Frankreich-Experten der Wochenzeitung Der Freitag die Protestwelle im Handstreich zum Vorboten der „Revolution“ erklären.
Letzte Woche verteidigte Präsident Macron seine Reform mit dem Hinweis auf das notorisch „höhere Interesse der Nation“, ohne auch nur mit einem Wort auf die Kollateralschäden und Kosten der Reform für die Beschäftigten in unterbezahlten Tätigkeiten im Dienstleistungssektor sowie im Bildungs- und im Gesundheitswesen einzugehen. Dafür erlaubte er sich völlig überzogene Vergleiche der Protestwelle in seinem Land mit dem Sturm des Trump-Mobs auf das Kapitol in Washington und der Schläger-Rotten Bolsonaros auf das Parlamentsgebäude in Brasilien. Er belebte dafür die Legende, wonach für die Reform „der normale demokratische Weg“ beschritten worden sei. Formaljuristisch ist das richtig. Aber Macron vergaß zu erwähnen, dass die Berufung auf den notstandsähnlichen Artikel 49,3, mit dessen Hilfe die Reform am Parlament vorbei verabschiedet wurde, bei Licht und nüchtern gesehen, alles andere als eine demokratische Normalität darstellt.
Das 2008 erneuerte Privileg des ohne Zweifel demokratisch gewählten und legitimierten Präsidenten, der „der Masse“ schlicht jede „Legitimität“ für ihren Protest kategorisch absprach, obwohl die Nationalversammlung – die legitime Instanz des Volkes – bei der eben verabschiedeten Reform, einfach und formal korrekt ausgebremst wurde. Macron kaschiert mit dieser in der autoritären Tradition des Steinzeit- „Gaullismus“ verwurzelten Position die nicht-hintergehbare Doppelnatur der Legitimität in jeder Demokratie. Auch in der französischen Präsidialdemokratie kann nicht der Präsident allein Legitimität für seine verfassungsmäßig zulässigen Rechte und Entscheidungen beanspruchen, obwohl die präsidialen Befugnisse der „königlichen bzw. kaiserlichen Machtvollkommenheit“ (lat. „plenitudo potestatis Caeserea“ (Karl V.) und (franz.:,“pouvoir principal du Roy“,( Joachim Du Bellay 1559), wie sie seit dem 16. Jahrhundert in europäischen Monarchien konzipiert und praktiziert wurden, nahe kommen.
Der Präsident in der republikanischen Präsidialdemokratie bleibt auch in Frankreich im Prinzip an die Form der Entscheidungen gebunden. Denn die demokratischen Verfahren – und damit die Mitwirkung der parlamentarischen Volksvertretung bei den Entscheidungen bürgen ebenfalls erst gemeinsam für die Legitimität einer demokratischen Lösung. Und damit kommen essentielle Rechte des Volkes oder der „Masse“ auf Protest ins Spiel, die Macron in der Rechtfertigungsrede seiner Reform demagogisch und pauschal als illegitim denunzierte.
Der französische Historiker Pierre Rosanvallon widersprach in seinem Interview, das eigentlich ein Essay in historischer Perspektive ist, (Le Monde v. 25.2.2023) Macrons sehr eigensinniger Deutung der Doppelnatur der Legitimität in der Demokratie, insbesondere in ihrer präsidialen Variante. Macron berief sich auf das schlichte Argument, er sei, im Unterschied zu den Protestierenden auf der Straße, demokratisch gewählt. Faktisch waren das nur rund 40 Prozent der Wahlberechtigten, wovon nur ein Bruchteil zu jenen gehören, die von der Reform unmittelbar betroffen sein werden, also die Lasten der Reform tragen müssen. Die Gewerkschaften bestreiten Macrons Anspruch auf Legitimität natürlich nicht, wie Rosanvallon aber deutlich macht und historisch belegt. Aber die Gewerkschaften betonen die zweite Natur des Problems: die politisch-moralische und soziale Facette von Legalität und besonders von Legitimität. Für die moralisch-politische und soziale Seite des Legitimitätsanspruchs der vereinigten Gewerkschaften hat der ehemalige Investmentbanker und Wirtschaftsfachmann Macron weder ein Gespür noch ein Ohr.
Seine Reform löst kein einziges der Probleme der Strukturdefizite der französischen Wirtschaft und Gesellschaft: Die katastrophal schwache Quote von beschäftigten älteren Männern und Frauen, die hohe Zahl von prekären Jobs und Teilzeitstellen, deren miese Entgelte niemandem helfen, einigermaßen über die Runden zu kommen. Auch das Defizit in der Rentenkasse und im Staatshaushalt wird dadurch nicht kleiner – all das und noch einiges mehr an drängenden sozialen Problemen auf den hinteren und unteren Plätzen der Gesellschaft ignoriert Macrons Reform. Oder sie kaschiert diese mit haltlosen Versprechen, wie dem der Mindestrente von 1200 Euro für jeden, der oder die 43 Beitragsjahre nachweisen kann, was mit Sicherheit einer großen Zahl von lebenslang nur prekär Beschäftigten und Entlohnten gar nicht gelingen kann. Die Zahl von zwei Millionen Begünstigten, die die Premierministerin in die Debatte einführte, musste sie ganz schnell widerrufen, weil ihr alle Sachverständigen substanz- und empiriefreie Spekulation ohne jede erkennbare Evidenz vorwarfen.
Jürgen Habermas hat in seinem demokratietheoretischen Standardwerk „Faktizität und Geltung“ (1992) im abschließenden Abschnitt über „Volkssouveränität als Verfahren“ das Grundproblem konkurrierender Legitimitätsansprüche in der Demokratie in systematisch-philosophischer Perspektive deutlich benannt: „Letztlich gründet also die normative Erwartung vernünftiger Ergebnisse auf das Zusammenspiel zwischen der institutionell verfassten politischen Willensbildung mit den spontanen, nicht-vermachteten Kommunikationsströmen einer nicht auf Beschlussfassung programmierten, in diesem Sinne nicht-organisierten Öffentlichkeit. (…) Kommunikative Macht wird ausgeübt im Modus der Belagerung. Sie wirkt auf die Prämissen der Urteils- und Entscheidungsprozesse des politischen Systems ohne Eroberungsabsicht ein, um in der einzigen Sprache, die die belagerte Festung versteht, ihre Imperative zur Geltung zu bringen. Sie bewirtschaftet den Pool von Gründen, mit denen die administrative Macht zwar instrumentell umgehen kann, ohne sie aber, rechtsförmig verfasst, wie sie ist, ignorieren zu können“.
Macron dagegen schwieg zu seinen Motiven und den wirklichen Gründen für die Reform und verweigerte sogar das Gesprächsangebot des Chefs der moderatesten der am Streik beteiligten Gewerkschaften.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.