Es ist nicht bemerkenswert, dass es in der Bundesrepublik eine Unterschicht gibt. Besorgniserregend sollte allerdings sein, dass sich die soziale Polarisierung seit 1989/90 quantitativ wie qualitativ erheblich verschärft hat.
Von Christoph Butterwegge
DGB/Thomas Plaßmann
Ungefähr seit dem Jahrtausendwechsel hat sich in Deutschland ein breiter Niedriglohnsektor herausgebildet, der fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst. Seinem zahlenmäßigen Umfang nach wird er oft unterschätzt, obwohl er mittlerweile beinahe US-amerikanische Dimensionen erreicht. Während man in den Vereinigten Staaten von "Working Poor" spricht – ein Begriff, der im Deutschen ebenso heimisch werden dürfte wie Job, Jobcenter und Freelancer –, stammt der Begriff "Prekarität" (prekarité) aus dem Französischen. Pierre Bourdieu (1930-2002), einer der prominentesten Wissenschaftler unseres Nachbarlandes, hat ihn weit darüber hinaus bekannt gemacht, als er in einem Vortrag unter dem Titel "Prekarität ist überall" die These vertrat: Prekarität gehört zu einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum Dauerzustand gemachten Unsicherheit fußt und soll die Arbeitnehmer/innen zur Unterwerfung, also zur willfährigen Hinnahme ihrer Ausbeutung zwingen.
Prekarität bezeichnet eine Art sozialen Zwitterzustand zwischen Armut und Wohlstand. Den prekär Beschäftigten fehlt die Möglichkeit einer verlässlichen Lebensplanung. Obwohl von einer allgemeinen sozialen Entgrenzung der Prekarität kaum gesprochen werden kann, schlug der Düsseldorfer Soziologe Oliver Marchart den Begriff "Prekarisierungsgesellschaft" vor. Er will damit ausdrücken, dass es sich bei der Prekarisierung nicht (mehr) um ein marginales oder partikulares Phänomen handelt: "In der Prekarisierungsgesellschaft sind alle – bis auf eine schmale Schicht von finanziell Superabgesicherten – existenzieller Verunsicherung ausgesetzt, und das schon allein deshalb, weil die sozialen Sicherungssysteme an Erwerbsarbeit gekoppelt sind und deren Status zunehmend prekär wird."
Zwar franst die Mittelschicht derzeit in erster Linie nach unten aus, ihr wohlständiger Kern besteht aber trotz solcher Unkenrufe fort, ist auch deutlich größer als das Prekariat in engeren Sinn und bildet weiterhin das Gravitationszentrum der bürgerlichen Gesellschaft. Das saturierte Besitzbürgertum muss auf absehbare Zeit kaum fürchten, im Status der Prekarität zu enden. Wer die unbestreitbare Tendenz zur Prekarisierung von wachsenden Teilen der Lohnarbeit verabsolutiert, verliert leicht das prägende Phänomen unserer Gesellschaftsstruktur aus dem Blick: die sozio-ökonomische Polarisierung.
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Die entfremdete Arbeit zieht drastische Ermüdungs- und Erschöpfungszustände der prekär Beschäftigten nach sich, von denen auch enge Bezugspersonen wie (Ehe-)Partner/innen und Kinder nicht unberührt bleiben. Denn zwischen prekären Arbeits- und entsprechenden Lebensbedingungen besteht eine Wechselwirkung: Mobbing-Erfahrungen, Überforderung im Job und Angst vor Entlassung beeinträchtigen das Privat-, Familien- und Eheleben, so wie dieses seinerseits auf die Leistungsmotivation im Berufsleben zurückwirkt.
Durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes ist der Niedriglohnsektor enorm gewachsen und zum Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- und Kinderarmut geworden. Später kommt noch die Altersarmut hinzu. Der im Januar 2015 eingeführte, heute 9,19 Euro brutto pro Stunde betragende Mindestlohn hat daran kaum etwas geändert, weil er zwar ein Fortschritt, aber viel zu niedrig ist. Zudem sind die Reallöhne vor allem im unteren Einkommensbereich zum Teil drastisch gesunken und die Lohnquote ist erheblich gefallen. Daher können sich immer mehr Gesellschaftsmitglieder immer weniger von dem leisten, was für andere in einem so reichen Land als normal gilt.
Zusammen mit den Cloud- sowie Clickworkern der digitalen Plattformökonomie bilden Multijobber*innen, Paketbot*innen, Fahrradkuriere und Callcenter-Beschäftigte ein Prekariat. Dessen Mitglieder sind einem modernen Subproletariat vergleichbar. Sie leben oft genug von der Hand in den Mund und trotz Vollzeittätigkeit und vielen Überstunden am Rande der Armut. Insofern haben manche Beobachter/innen den Eindruck, das Prekariat löse das Proletariat als unterste Schicht ab. Das hat wohl vor allem einen Grund: Den Prekarier*innen oder Prekarisierten fällt es viel schwerer als den Proletarier*innen im „klassischen“ Industriekapitalismus, sich als Kollektiv mit gemeinsamen Interessen zu begreifen, ein gesellschaftskritisches Bewusstsein zu entwickeln und sich zu organisieren. Deshalb gelingt es ihnen bisher trotz gewerkschaftlicher Unterstützung höchstens ansatzweise, basale Arbeitnehmerrechte, Tarifverträge, Sozialstandards, bessere Arbeitsbedingungen und einen höheren Lohn durchzusetzen; zumal die Rückendeckung durch Parlamente, Regierungen und Verwaltungen weitgehend fehlt.
Erheblich zu denken geben muss, dass sich unter den (relativ) Armen hierzulande inzwischen mehr prekär Beschäftigte als Erwerbslose befinden. Prekäre und/oder atypische Beschäftigungsverhältnisse, unter denen Mini- und Midijobs, Leih- und Zeitarbeit, (Zwangs-)Teilzeit, Scheinselbstständigkeit sowie befristete Werk- und Honorarverträge dominieren, sind längst keine Randerscheinung in Deutschland mehr. Das bisherige Normalarbeitsverhältnis befindet auf dem Rückzug. Bad Jobs oder McJobs sind an die Stelle tariflich entgoltener, sozialversicherungspflichtiger Vollzeitstellen getreten.
Darüber hinaus ist eine wachsende Lohnungleichheit festzustellen, die mit höherer Beanspruchung durch Schicht-, Nacht- und Sonntagsarbeit vornehmlich im unteren (Dienstleistungs-)Segment des Arbeitsmarktes einhergeht. (Zwangs-)Teilzeit, von der insbesondere Frauen betroffen sind, hat ebenfalls stark zugenommen. Gleichzeitig weitete sich jener Sektor aus, in dem totale Perspektivlosigkeit, Not und Verelendung die Lebenslagen der Menschen bestimmen. Bemerkenswert ist also nicht, dass es in der Bundesrepublik eine Unterschicht gibt, sondern dass sich die soziale Polarisierung seit 1989/90 im Sinne einer doppelten Spaltung quantitativ wie qualitativ erheblich deutlicher ausgeprägt hat.
Unter dem anhaltenden Trend zur Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen litt zwangsläufig der gesellschaftliche Zusammenhalt. Millionen Menschen haben kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mehr, das ihnen Schutz vor elementaren Lebensrisiken bietet. Wenn dieser halbwegs gegeben ist, leisten sie vielfach Leiharbeit oder (Zwangs-)Teilzeit. Zwar hat sich die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit seit dem Krisenjahr 2005 halbiert, was fälschlicherweise auf die „Agenda“-Politik und die Hartz-Gesetzgebung zurückgeführt wurde. Rechnet man die Zahl der „Unterbeschäftigten“ und die „Stille Reserve“-Armee des Arbeitsmarktes mit, erscheint seine Entwicklung nach einer fast zehn Jahre währenden Konjunkturphase allerdings in einem weniger rosigen Licht.
Beltz Verlag
Der Beitrag ist ein redaktionell bearbeiteter Vorabdruck aus Christoph Butterwegges Buch "Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland", das am 20. November im Verlag Beltz Juventa erscheint.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.