Wozu gibt es noch die SPD? Das fragen sich viele seit einer Weile. Doch die Sozialdemokraten werden heute dringender denn je gebraucht. Sie könnten die Industriearbeiter mit der Digitalisierung versöhnen – und so die soziale Marktwirtschaft stabilisieren.
Von Ursula Weidenfeld
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Wenn man sich fragt, wozu die Welt die SPD braucht, fällt einem auf Anhieb nicht mehr so viel ein. Soziales kann die Linke besser. Bei Umwelt und Klima sind die Grünen vorn. Die CDU kommt bei den Alten auf dem Land besser an, die FDP bei den leistungsorientierten künftigen Rechtsanwälten. Wozu also noch Sozialdemokratie? Zugegeben, es klingt gewagt: aber die Sozialdemokraten sind für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert zur Zeit wichtiger als alle anderen zusammen.
Ausgerechnet die SPD soll eine Wirtschaftsordnung garantieren, die sie jahrelang bekämpft und erst 1959 in ihrem Godesberger Parteiprogramm murrend akzeptiert hat? Eine Wirtschaftsordnung, mit der viele Mitglieder wie Juso-Chef Kevin Kühnert immer noch offen fremdeln? Gerade deshalb! Nur die Sozialdemokraten könnten die Industriearbeiter*innen mit dem 21. Jahrhundert versöhnen. Vorausgesetzt, die Partei erinnert sich wieder an sie.
Arbeiter*innen sind für die deutsche Wirtschaft wichtiger als man denkt. Fast ein Drittel des deutschen Bruttoinlandsproduktes wird von Industrieunternehmen erwirtschaftet. Auch ein großer Teil der Dienstleistungen – die machen rund zwei Drittel des Bruttoinlandsproduktes aus – hängt direkt von Bestellungen der Industrie ab. Im Jahr 2013 beispielsweise lebten rund 3,8 Millionen Beschäftigte im Dienstleistungssektor von den Bestellungen der Industrie, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnet.
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Die produzierenden Unternehmen aber stehen gewaltig unter Druck: Sie ächzen unter den höchsten Strompreisen der Welt. In einem klimaneutralen Land - das will Deutschland 2050 sein - ist für Stahlkocher, Autohersteller, Chemie-Raffinerien oder Maschinenbauer eigentlich gar kein Platz mehr. Die Klimagase, die bei der Produktion unvermeidlich sind, müssen von anderen Bereichen überkompensiert werden. Andere Wirtschaftssektoren wie die Immobilienwirtschaft, die Software-Industrie, die Banken oder der Verkehr müssten also mehr CO2 absorbieren, als sie verbrauchen. Wie sie das tun sollen, wer das bezahlt, ist völlig unklar.
Dazu kommt: Die Arbeitsplätze in der Industrie sind nicht nur von einer klimabedingten Verlagerung an preiswertere Standorte bedroht. Auch die Digitalisierung wird viele klassische Industriejobs betreffen. Wenn es gut läuft, werden daraus Stellen im Dienstleistungsbereich, für die sich die bisherigen Angestellten aber erst einmal qualifizieren müssen. Diese Entwicklung braucht politische Leitplanken. Leitplanken, wie sie die soziale Marktwirtschaft liefert: Die deutsche Wirtschaftsordnung birgt das große Versprechen, dass sie einen Ausgleich zwischen den Gewinnern und Verlierern des technischen Umbruchs herstellt.
Die Grünen ignorieren den Konflikt, der in anderen Ländern längst zur offenen Spaltung der Gesellschaft führt. Ihre Wähler stammen im Wesentlichen aus der urbanen Welt gehobener Dienstleistungen, aus Beamten-Familien, oder aus dem öffentlichen Dienst. Klimasteuern und Digitalisierung sind für diese Gruppen eher ein Versprechen als eine Bedrohung. Sie hoffen darauf, dass Deutschland aus beiden Trends neue Stärke gewinnt. Industriebeschäftigte dagegen beäugen sie nur aus sicherer Distanz. Die CDU spürt diese Spannung nicht. Sie verlässt sich auf die Werte des 20. Jahrhunderts und hofft darauf, dass Fleiß, Intelligenz und gute Bildung die Sache spätestens in der Generation U30 richten werden. Der neuzeitsüchtigen FDP indes sind Industrie-Facharbeiter genauso fremd wie einem Mittelstufenschüler "Die Weber" von Gerhart Hauptmann. Und bei der Linkspartei sammeln sich die Vorruheständler und Pensionäre, die von dem Wandel nicht mehr betroffen sind.
IG BCE
Bleiben die AfD, die bei der klassischen Arbeiterschaft tatsächlich deutlich besser abschneidet als beim Rest der Bevölkerung – und die SPD. Die Sozialdemokraten haben einen entscheidenden Vorteil. Sie glauben an den Fortschritt, jedenfalls taten sie das früher. In den Sechzigerjahren feierten sie Rationalisierung als Arbeitserleichterung, freuten sich an neuen Erfindungen und Produktionsmethoden. Wie keine andere Partei war die SPD davon überzeugt, dass der menschliche Erfindungsgeist am Ende die Probleme der Menschheit lösen kann. Der technische Fortschritt war kein Feind. Er war Genosse.
Diese Haltung wurde ihr in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts als naive Fortschrittsgläubigkeit angekreidet – Deutschland demonstrierte gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Atomkraft. Heute ist die Tradition in der Partei nahezu verschüttet. Doch sie ist noch da, zum Beispiel in Gewerkschaften wie der IG Bergbau Chemie Energie. Dort könnte die SPD wieder anknüpfen. Sie würde nicht nur einen großen Teil der Industriebeschäftigten ansprechen, deren politische Heimat heute eine Wüste ist. Die SPD würde zu sich selbst zurückfinden.
Damit würde sie der sozialen Marktwirtschaft den wichtigsten Dienst erweisen. Denn eine Partei, die der Zukunft optimistisch und offen entgegensieht und gleichzeitig faire Bedingungen für den dramatischen Wandel in der Arbeitswelt erstreitet, gibt es heute nicht. Sie wäre nötiger denn je.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.