Deutscher Gewerkschaftsbund

09.07.2019

Die EU schadet Italiens Demokratie

Die italienischen Rechtspopulisten bekommen noch mehr Zulauf, weil sich die EU im Haushaltsstreit von neoliberalen Ideen leiten lässt. Ist Italiens Lage schwierig? Gewiss. Doch ein Blick nach Japan zeigt, wie Regierung und Nationalbank die Wirtschaft erfolgreich am Laufen halten können.

 

Von Yanis Varoufakis

Ein blauer Maserati Granturismo auf einer Hafenpromenade.

Italiens Industrie ist wie die von Japan stark exportorientiert und produziert Leistungsüberschüsse. DGB//Massimiliano Clari/123rf.com

Die Frontlinie im Kampf des Euro ist derzeit Italien. Dessen stellvertretender Ministerpräsident Matteo Salvini erhält momentan politischen Rückenwind, der seine Fähigkeit, der Europäischen Union nach den Wahlen zum Europaparlament schweren Schaden zuzufügen, steigern könnte. Sowohl faszinierend wie beängstigend ist dabei, dass die Fremdenfeindlichkeit, auf die sich Salvinis immer weiter zunehmende Autorität stützt, durch die fehlerhafte Architektur der Eurozone und das dadurch bedingte Schwarzer-Peter-Spiel hervorgerufen wird.

In ihrem jüngsten Bericht über die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, unter denen die einzelnen EU-Mitgliedstaaten leiden, wirft die Europäische Kommission der italienischen Regierung Versäumnisse bei der Schuldenbegrenzung vor, die, so die Kommission, zu einem schwachen Einkommenswachstum führen. Das Zögern der Regierung, ihr Haushaltsdefizit zu verringern, habe die Zinsen in die Höhe getrieben und so die Investitionen verringert.

Italiens Rechtspopulist Salvini kritisiert nicht zu Unrecht die EU-Sparpolitik

Salvini könnte gar nicht erfreuter sein. Der Bericht stellt für ihn eine wunderbare Gelegenheit dar, der Kommission selbst die Schuld für Italiens Nöte zu geben. Er kann argumentieren, dass es in Wahrheit die Sparpolitik der EU sei, die das Wachstum begrenzt, die Wirtschaft an den Rande einer neuen Rezession gebracht und zur Wahl der heute von Salvini dominierten populistischen Regierung geführt habe. Und damit nicht genug seien es die Drohungen der Kommission gewesen, Italien zu bestrafen, wenn es nicht eine noch striktere Sparpolitik verfolge, die den Händlern am Rentenmarkt Angst gemacht und die Zinsen in die Höhe getrieben hätten.

Italiens Tragödie besteht darin, dass die Kommission und auch Salvini zugleich Recht und Unrecht haben. Es stimmt, dass Salvinis Ankündigung, die Regierung würde ihr Versprechen eines vorab vereinbarten Niveaus an Sparmaßnahmen zurücknehmen, die Anleger in Sorge versetzte, die italienischen Schulden weniger tragbar machte und eine Kapitalflucht verursachte. Doch stimmt auch, dass die Haushaltsregeln der Kommission bei vollständiger Umsetzung eine Rezession verursacht hätten, die die italienischen Schulden auch so weniger bezahlbar gemacht hätte.

Matteo Salvini mit weißem Hemd und Mikro spricht vor Anhängern.

Die restriktive EU-Sparpolitik erlaubt es Matteo Salvini, Italien als Opfer der EU darzustellen. DGB/Fabrizio Annovi/123rf.com

Wenn zwei sich widersprechende Erklärungen desselben Phänomens irgendwie korrekt sind, müssen sie unvollständig sein, selbst wenn sie unterschiedliche Aspekte der beobachteten Realität erfassen. In derartigen Fällen ist es nützlich, einen anderen Blickwinkel einzunehmen, der eine neue Sicht auf das Problem erlaubt. Was den Konflikt zwischen Brüssel und Rom angeht, so lohnt es sich das Problem aus fernöstlicher Perspektive zu betrachten: aus Tokio.

Italien ist, in einem wichtigen Sinne, das europäische Japan. Beide Volkswirtschaften sind sich ähnlich: durch einen starken exportorientierten industriellen Sektor, einen Leistungsbilanzüberschuss, vergleichbare Terms-of-Trade, eine schreckliche demografische Entwicklung und, nach jahrelanger unbedachter Kreditvergabe, zombieartige Banken. Zudem ähneln sie sich, was die Zusammensetzung ihrer finanziellen Verbindlichkeiten angeht: Beide Länder weisen relativ geringe private und sehr hohe öffentliche Schulden auf.

In Japan stabilisierten Notenbank und Regierung die Wirtschaft

Anders als in Italien hält in Japan die politische Mitte nach wie vor stand, weil die Medianeinkommen leicht gestiegen sind. Der Grund: Die Notenbank stabilisierte die Volkswirtschaft über die Notenpresse als gäbe es kein Morgen und die Regierung kurbelte die Konjunktur ständig an. Hätte Japans Regierung mit Beschränkungen von der Art zu kämpfen gehabt, die Italien durch die EU-Verträge und die Haushalts- und geldpolitischen Regeln der Eurozone auferlegt werden, wäre die japanische Gesellschaft heute in Aufruhr.

Wenn die Volkswirtschaft und das Bankensystem Japans von einer externen Notenbank finanziert würden, die eine Sparpolitik unter Androhung des Liquiditätsentzugs erzwingt, wäre unvermeidlich gewesen, dass ein Teufelskreis insolventer Banken, steigender Anleiherenditen und Rezession eintritt. Ein politisch toxischer Populismus wäre dann nicht weit. Die Folge wäre dieselbe Art von einander widersprechenden, aber kompatiblen Narrativen, wie wir sie nun von der Europäischen Kommission und der italienischen Regierung vernehmen.

Schokoladenfabrik in Tokyo, Blick von oben auf Arbeiter an Produktionsbändern.

Ohne den Rückhalt von Staat und Notenbank wäre Japan ins Chaos gestürzt; eine Schokoladenfabrik, wie diese in Tokyo, wäre gewiss Pleite gegangen. DGB/Chitsanupong Chuenthananont/123rf.com

Ein innereuropäischer Vergleich wirft zusätzliches Licht auf das Problem, vor dem Italien und die Eurozone stehen. Spanien und Italien haben nahezu identische Schuldenquoten (298,3 bzw. 301 Prozent). Warum also reden alle über Italiens Schulden und nicht über Spaniens? Die Antwort lautet, dass 67 Prozent der spanischen Schulden private Schulden sind, während 64 Prozent der italienischen Schulden öffentliche Schulden sind.

In der Theorie (und laut Gesetz) ist es der Europäischen Zentralbank untersagt, Schulden irgendwelcher Art – öffentliche oder private – zu monetisieren. In der Praxis jedoch war die EZB in der Lage und willens, private Schulden komplett zu monetisieren. Sie akzeptierte einfach private Schuldverschreibungen als Sicherheiten, obwohl die das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sind – etwa notleidende italienische Hypothekenkredite und Schuldscheine griechischer Banken. Im Gegensatz dazu hat sich die EZB jahrelang geweigert, Staatsanleihen zu kaufen. Als sie es dann tat, entschied sie sich, große Mengen davon von ihrem Wertpapier-Ankaufsprogramm auszuschließen. Vereinfacht gesagt: Allen Ländern, deren Schulden eher beim privaten Sektor lagen, wie Irland und Spanien, erging es viel besser als Ländern wie Italien.

Marktfundamentalisten glauben irrtümlich private Schulden seien besser als öffentliche

Die Verteidiger der Eurozone werden antworten: Es muss möglich sein, dass Länder bestraft werden, wenn sie einen hohen Anteil an öffentlichen Schulden zulassen. Die ideologische Voreingenommenheit gegen alles, was mit dem Staat zu tun hat, ist nicht auf Versorger und Eisenbahnen beschränkt. Die Bereitschaft der Rating-Agenturen, die Anleihen eines Landes herabzustufen, dessen Regierung die herkömmliche Weisheit in Frage stellt, bekräftigt die neoliberale Annahme, dass private Schulden per definitionem weniger problematisch sind als öffentliche.

Doch selbst Marktfundamentalisten sollten erkennen, auf welch tönernen Füßen diese Annahme steht. Falls die Finanzkrise von 2008 uns irgendetwas gelehrt hat, dann dass etliche Risiken systembedingt sind. Selbst ohne Korruption werden Kreditratings und geldpolitische Entscheidungen von den gleichen Faktoren bestimmt: Wenn die Rating-Agenturen irgendwie zu Ohren kommt, dass die EZB Italien die Liquidität abdrehen wird, sind sie ihren Kunden gegenüber verpflichtet, italienische Anleihen herunterzustufen. Und wenn die EZB glaubt, dass italienische Anleihen heruntergestuft werden, ist sie durch ihr Regelwerk verpflichtet, die Liquidität im italienischen Bankensektor zu verringern.

Warum sollte es, wenn ein Infrastrukturprojekt gebaut wird, eine Rolle spielen, ob der Staat oder private Bauträger die zu seiner Finanzierung nötigen Kredite aufnehmen? In der Eurozone tut es das, weil die EZB viel mehr Freiraum hat, notleidende private Schulden zu refinanzieren als öffentliche Schulden. Doch das ist eine politische Entscheidung und keine wirtschaftliche Notwendigkeit. Die Tatsache, dass Italiens öffentliche Schulden ein schlechteres Kreditrating haben als private Schulden, liegt nicht an der Staatsanleihen eigenen Minderwertigkeit, sondern ist eine Entscheidung der europäischen Politik. Und diese Entscheidung fällt – indem sie nun einem autoritären Politiker Auftrieb verleiht – jetzt auf Europa zurück.

 


Aus dem Englischen von Jan Doolan / © Project Syndicate, 2019


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Kurzprofil

Yanis Varoufakis
lehrt an der Universität in Athen Wirtschafts- wissenschaften. Er war 2015 Finanzminister in Griechenland. Heute ist er aktiver Blogger und Autor mehrerer Sachbücher. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch "Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment" (Kunstmann Verlag, 2017).
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