Deutscher Gewerkschaftsbund

21.10.2022
Oliver Nachtwey und Caroline Amlinger

Staatskritik und die Paradoxien des Fortschritts

Studie über Querdenken

Der Soziologe Oliver Nachtwey und die Literatursoziologin Caroline Amlinger untersuchen in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ das Milieu der Querdenker und dokumentieren die Drift von vormals gefestigten Demokraten ins Autoritäre. Der Text ist ein Kapitel aus ihrem Werk und fasst die Ergebnisse der Studie zusammen.

Corona-Testzentrum mit Querdenken-Sprayer

wikimedia commons / Rainer Halama / cc by-sa 4.0

Die libertären Autoritären richten ihren Zorn auf den modernen Staat. Dieser ist kein Klassenstaat bismarckscher Prägung mehr, er ist ein komplexer Interventionsstaat: ein Instrument zur Durchsetzung sozialer Fortschritte. Gleichzeitig reproduziert er Ungleichheiten, Klassenlagen und Ausschlüsse. Die Rolle des Staates hat sich in den letzten zwanzig Jahren noch einmal erheblich verändert. Zwar hat er auch weiterhin die strategische Funktion, den Kapitalismus am Laufen zu halten und die ihn tragenden Klassenstrukturen zu stabilisieren.

In ihm verdichten sich aber auch die Konflikte um normative Fortschritte, und gerade angesichts wachsender globaler Risiken ist er nicht mehr nur der ideelle „Gesamtkapitalist“ (wie Friedrich Engels ihn nannte), sondern auch der reale „Gesamtvergesellschafter“ – er sieht sich verantwortlich für die gelungene Reproduktion sozialer Beziehungen. In der Pandemie haben sich beispielsweise die Ungleichheiten nicht verringert, mitunter sogar verschärft, aber der Staat hat eine Politik des universellen Gesundheitsschutzes betrieben. In der Vergangenheit zielte die Kritik am Staat (vor allem von links) insbesondere darauf, dass er letztendlich nichts gegen die Ungleichheiten unternehme, ja sie am Leben erhalte und sogar noch steigere.

"Einige soziale Gruppen, darunter Männer höheren Alters, büßen ihre unangetastete Machtposition ein – und deuten dies als Freiheitsverlust. Die normative Demokratisierung, Inklusion und Egalisierung der Gesellschaft beschränkt die subjektiven Freiheiten, die sie zuvor in ihrer Klassen- und Hierarchieposition genossen."

Oliver Nachtwey & Caroline Amlinger

In der Wahrnehmung klassischer Neoliberaler stellte er hingegen eine Bedrohung für die Funktionsfähigkeit der Märkte und der Wettbewerbsfähigkeit dar. Für die libertären Autoritären der letzten Jahre erscheint er nun als Maschine, die individuelle Freiheiten einschränkt, sei es durch Inklusionspolitik, Multikulturalismus oder durch das Erzwingen von Solidarität in der Pandemie. Einige soziale Gruppen, darunter Männer höheren Alters, büßen ihre unangetastete Machtposition ein – und deuten dies als Freiheitsverlust. Die normative Demokratisierung, Inklusion und Egalisierung der Gesellschaft beschränkt die subjektiven Freiheiten, die sie zuvor in ihrer Klassen- und Hierarchieposition genossen.

An der staatlichen Macht und ihrer Kritik kristallisieren sich die meisten Fragen: Libertäre Autoritäre sehen sich durch den Staat in der Ausübung ihrer unveräußerlichen Freiheiten eingeschränkt. Viele von ihnen betrachten sich als Opfer vermeintlicher progressiver Usurpatoren (»linksliberale Kosmopoliten«), die sich des Staates, der Universitäten und der Medien bemächtigt haben. So entsteht aus ihrer Sicht eine neue Frontstellung: der Antagonismus zwischen einer illiberalen Herrschaft linksliberaler Eliten und einer demokratischen Mehrheit, zwischen einem universitär gebildeten Zentrum und einer hart arbeitenden Peripherie. Wobei die Kosmopolit:innen in urbanen Milieus angeblich auf Letztere herabblicken. Wir würden nicht bestreiten, dass es unangenehme, als herablassend wahrnehmbare Wortmeldungen von Linksliberalen gibt. Dass solche Konflikte real häufiger auftreten, halten wir allerdings nicht für ausgemacht.

"Dass damals viele Dinge gesagt oder getan werden konnten, die heute als anstößig gelten, hat weniger mit einem Verfall der Meinungsfreiheit als vielmehr damit zu tun, dass damals niemand die Macht hatte, solchen Äußerungen zu widersprechen."

Oliver Nachtwey & Caroline Amlinger

Wechselseitige Ressentiments zwischen Stadt und Land, Arbeiter:innen und Angestellten etc. hat es schon immer gegeben. Real sind allerdings die Machtverschiebungen im Staat. Exklusionen und Ungleichheiten in den Statusordnungen wurden sukzessive verringert. In diesem Sinne ist es genau umgekehrt, als von der sentimentalen Freiheitsnostalgie („Früher konnte man noch alles sagen!“) suggeriert. Frauen beispielweise konnten in den retrospektiv idealisierten Zeiten eben keineswegs alles sagen oder tun, dazu hatten sie weder die Macht noch die notwendigen Sprechpositionen. In der Schweiz wurde das allgemeine Frauenwahlrecht, wie erwähnt, erst 1971 eingeführt, in Deutschland galt bis 1977 die Hausfrauenehe, das heißt, Ehemänner hatten beispielsweise das Recht, die Arbeitsstellen ihrer Gattinnen zu kündigen.

Dass damals viele Dinge gesagt oder getan werden konnten, die heute als anstößig gelten, hat weniger mit einem Verfall der Meinungsfreiheit als vielmehr damit zu tun, dass damals niemand die Macht hatte, solchen Äußerungen zu widersprechen. Und dass außerdem damals eine Art Schere im Kopf existierte: Viele kamen gar nicht erst auf die Idee, gegen sexistische Konventionen oder rassistische Bezeichnungen aufzubegehren. Auch heute existieren Diskriminierungen fort, etwa in den Haushalten, bei der Vergabe von Führungspositionen und vor allem beim Einkommen. Aber zumindest normativ war der Anspruch auf Gleichheit nie so weit fortgeschritten wie in der Gegenwart.

Die affektiven Aufladungen aktueller Konflikte resultierten nicht aus einer neuen Empfindlichkeit, sondern aus Machtfragen, die im Register der Moral ausgetragen werden. Die erkämpften Fortschritte haben sich kumuliert und ein neues Tocqueville-Paradox hervorgebracht. Die Verringerung der Ausschlüsse hat dazu geführt, dass Diskriminierung, Nicht-Repräsentation und Nicht-Berücksichtigung aufgrund von Geschlecht oder Ethnie nicht länger als akzeptabel betrachtet werden.

Soziale Bewegungen holen sie aus der gesellschaftlichen Latenz (denn das war der zentrale Mechanismus der Exklusion) in die Sichtbarkeit. Die Ausweitung von demokratischer Inklusion und Egalisierung hat jedoch einen Preis, der die Freiheitskonflikte der Gegenwart befeuert. Zum einen wurden parallel zu demokratischen Inklusionen, aber nicht ursächlich damit zusammenhängend, soziale Rechte abgebaut. Insbesondere für Arbeitnehmer:innen, Arbeitslose und Arme bedeutete dies eine Reduzierung individueller positiver Freiheitsrechte. Für die etablierten Eliten liefen die Egalisierung und die Inklusion bisher exkludierter Gruppen auf einen Machtverlust hinaus. In diesem neuen Machtkampf verhalten sich Linksliberale nicht selten genau wie diejenigen, die ihre Privilegien nun teilweise eingebüßt haben: wie Eliten.

"Die traditionelle Herrschaftskritik ist schwach und orientierungslos, sie weist so viele blinde Flecke auf, dass sie im Dagegensein keine Orientierung und keinen Halt mehr bietet."

Oliver Nachtwey & Caroline Amlinger

Sie bekämpfen die Konkurrenz und gehen dabei nicht zimperlich vor. Indem der Linksliberalismus, wenn er als »progressiver Neoliberalismus« auftritt, jedoch materielle soziale Fragen ignoriert, hat er es nicht nur den libertären Autoritären erlaubt, sich als Vertreter der »kleinen Leute« zu gerieren. Von dieser Gelegenheit machen auch Rechtspopulisten eifrig Gebrauch.

Libertäre Autoritäre kämpfen aus ihrer Sicht gegen eine Diktatur, sie sehen sich als Heroen im Namen der Demokratie, unterlaufen jedoch demokratische Normen. Das ist zuweilen verwirrend. Zur Unordnung unserer Tage gehört ein gewisses babylonisches Sprachgewirr: Auch diejenigen, die Demokratie und Freiheit subversiv zersetzen wollen, tun dies im Namen von Demokratie und Freiheit. Die häufig anzutreffende Sprache der Emanzipation und Herrschaftskritik, die jedoch in ihrer Bedeutung verkehrt wird, reflektiert auch die Schwäche traditioneller progressiver Bewegungen, die sich entweder deradikalisiert haben oder in die staatlichen Institutionen eingezogen sind – oft sogar beides zugleich.

Ältere emanzipatorische Bewegungen zogen ihre Kraft aus dem gemeinsamen Kampf gegen Stände, Hierarchie und Herrschaft, gegen Könige und die Kirche. Sie stritten für eine allgemeine Befreiung, für eine demokratische Gesellschaft der Bürger:innen, für eine Demokratie, die sich selbst konstituierte, regierte und kontrollierte. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts glaubten viele Beobachter, Freiheitsbewegungen hätten diese Kraft eingebüßt, da die große Disruption – die Konstitution von Bürgerrechten und Demokratie – bereits passiert war. Ab jetzt ging es eher um die inkrementelle Ausdehnung individueller Rechte. Damit veränderte die Kritik aber ihren Standort, ging es ihr doch nicht länger um die Transformation der kapitalistischen Totalität, sondern allein um ihre Korrektur. Grundsätzliche und umfassende Kritik an der kapitalistischen Moderne ist kaum noch vernehmbar – und wenn doch, dann praktisch ohne jede Chance auf praktische Umsetzung.

Die traditionelle Herrschaftskritik ist schwach und orientierungslos, sie weist so viele blinde Flecke auf, dass sie im Dagegensein keine Orientierung und keinen Halt mehr bietet. Da die progressiven Kräfte sich nach dieser Metamorphose nicht länger gegen den Staat, gegen die doxa der Medien (wo sie nun selbst einflussreiche Positionen bekleiden), gegen die biopolitischen Regierungsmaßnahmen zur Wehr setzen und da sie aus der Sicht zahlreicher Menschen nicht länger gesellschaftskritisches Denken, ja den "Volkswillen" repräsentieren, haben linke Parteien oder soziale Bewegungen, die für ein kollektives Realitätsprinzip stehen, als Stimme der Herrschaftskritik ihre Glaubwürdigkeit verloren.


Der Text ist ein Kapitel aus folgendem Buch:

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus, Suhrkamp Verlag, 480 Seiten, 28 Euro


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Kurzprofil

Caroline Amlinger
Carolin Amlinger, geboren 1984, ist Literatursoziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel.
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Oliver Nachtwey
Oliver Nachtwey, geboren 1975, ist Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel.
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Gegenblende Podcast

Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

DGB/Heiko Sakurai

Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.

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