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Moral predigen im Dienste des Kapitalismus: Die US-amerikanische Autorin Catherine Liu kritisiert linksliberale „Tugendpächter“. Deren im Predigerton vertretene Moral werde zum persönlichen „Accessoire“ und diene dazu, die eigene Überlegenheit gegenüber den angeblich minderwertigen Arbeiter*innen zu demonstrieren.
DGB/lithian/123rf.com
Eine Rezension von Thomas Gesterkamp
Das Umfragehoch der AfD vor allem in den neuen Bundesländern zeigt drastisch: Es knirscht im Verhältnis von Regierenden und Regierten. Die politische Elite im Raumschiff Berlin-Mitte und die einfachen Leute “da draußen” leben offenbar in verschiedenen Welten, Stadt und Land fremdeln, West und Ost sowieso. Ob bei der Rechtfertigung der Corona-Maßnahmen, der Legitimation von Aufrüstung oder der Bewältigung der Energiekrise: Stets misslang, und offensichtlich bei nicht Wenigen, der Versuch mit moralischen Argumenten umstrittene Entscheidungen zu begründen: Gegen das Virus müssen wir jetzt alle zusammenstehen! In der Ukraine werden auch unsere Werte verteidigt! Ihr sollt Waschlappen benutzen und weniger duschen, und eure Heizungen müsst ihr austauschen!
Catherine Liu, Professorin an der University of California in Irvine und einst Unterstützerin der Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders, hat ihr Buch über linksliberale „Tugendpächter“ noch während der Amtszeit von Donald Trump geschrieben. Die erst jetzt erschienene deutsche Übersetzung ist deshalb aber keineswegs uninteressant. Lius vorwiegend auf die Vereinigten Staaten bezogene Darstellung einer „neuen Klasse“, die sich „mit Moral tarnt und Solidarität verrät“, weist an vielen Punkten Ähnlichkeiten zur Situation in Deutschland auf.
Tugendpächter: Verachtete Unterschicht
Zentraler Ausgangspunkt in Lius Argumentation ist die sogenannte Professional Managerial Class (PMC) – ein Begriff, den das US-amerikanische Autorenpaar Barbara und John Ehrenreich schon 1977 prägte. Sie wollten damit ein Milieu charakterisieren, das im klassischen marxistischen Denken einst als Kleinbürgertum bezeichnet wurde, die Soziologie würde heute eher von der „oberen Mittelschicht“ sprechen. Die PMC besteht aus erfolgreichen, gut qualifizierten Angestellten mit Hochschulabschluss, die aber keine Rentiers oder Kapitalisten sind. „Sie müssen arbeiten, also ihre Arbeitskraft verkaufen, aber sie unterscheiden sich sehr von der Arbeiterklasse, deren Körper während des Arbeitstages Schaden nimmt“, schreibt Liu. Es handele sich um Fachleute mit spezialisierter Ausbildung, die von zumeist ständisch organisierten Verbänden zertifiziert und reguliert wird. Gemeint sind zum Beispiel die akademischen Berufe in Forschung und Lehre, in Verlagen, Zeitungen oder Sendern, im höheren öffentlichen Dienst, in Beratung und Jurisprudenz.
Das Ehrenreich-Buch wies schon Ende der 1970er Jahre darauf hin, dass die Werte und Weltanschauungen der PMC die Priorität der sozialen Frage und die Anliegen der Arbeiterklasse in der Demokratischen Partei der Vereinigten Staaten immer mehr verdrängten. Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer größer gewordene Beschäftigtengruppe führe eine neue Art des Klassenkampfes, lautet die Kernthese Lius. Dieser wende sich „nicht etwa gegen Kapitalisten oder den Kapitalismus selbst, sondern gegen die Arbeiterklasse“. Letztere habe es nicht verdient, gerettet zu werden, weil sie sich, gemessen an PMC-Maßstäben, nicht anständig benimmt. Stattdessen sei sie „entweder politikverdrossen oder zu wütend, um höflich zu sein“.
Die liberale Elite verachte die Unterschichten, halte sie für hoffnungslos rückständig und reaktionär. Immer dann, wenn der Kapitalismus eine politische und wirtschaftliche Krise verursacht, verwandele die PMC „den Kampf um politische Kurswechsel und wirtschaftliche Umverteilung in individualisierte Passionsspiele“. Die im Predigerton vertretene Moral werde zum persönlichen „Accessoire“ und diene dazu, die eigene Überlegenheit gegenüber den angeblich minderwertigen Arbeiter*innen zu demonstrieren.
Das PMC-Milieu, so Liu, sei heute einer der stärksten Treiber der sich progressiv gebenden globalisierten Wirtschaft und ihrer brutalen Leistungsideologie. Es rede „lieber über Vorurteile als über Gleichheit, über Rassismus als über Kapitalismus, über Sichtbarkeit als über Ausbeutung“. Liu kritisiert die einseitige Fixierung auf identitätspolitische Konzepte wie Gender und Race, die Kategorie Class werde dagegen vernachlässigt. Sie bezieht sich auf marxistische Autoren wie Fredric Jameson, der eine „kulturelle Wende“ im Verständnis sozialer Gegensätze konstatiert: Wirtschaftliche Rahmenbedingungen träten besonders an den Universitäten zugunsten von “Geschmäckern und Affekten” in den Hintergrund.
Ähnlich hatte nach dem Wahlsieg Trumps 2016 schon Mark Lilla in der New York Times argumentiert. Der Politikwissenschaftler versuchte damals zu erklären, warum so viele Deklassierte, aus seiner Sicht nur scheinbar überraschend, einen rechten Populisten gewählt hatten. Lilla verwies auf das offensichtliche Bündnis der Demokratischen Partei mit der Wall Street und dem Digitalkapital im Silicon Valley. Er kritisierte die abwertenden, die Arbeiterklasse beleidigenden Äußerungen der unterlegenen Kandidatin Hillary Clinton, die zu ihrem Misserfolg beigetragen hätten. Vor allem die „Angry white men“, verunsicherte männliche Wähler aus ländlichen oder deindustrialisierten Regionen liefen in Scharen zu den Republikanern über.
Vergleichbar abschätzige Töne sind manchmal auch hierzulande zu vernehmen – etwa wenn es um die AfD, um Pegida-Anhänger oder Impfgegner geht. Der Höhenflug der deutschen Rechtspopulisten ist sicher kein rein hausgemachtes Problem der Ampelkoalition, auch wenn CDU-Chef Friedrich Merz das gebetsmühlenartig wiederholt. Dennoch zeigte etwa der große Unmut über das „Heizungsgesetz“ wie unter dem Brennglas, was passiert, wenn die sozialen Folgen einer moralisch angetriebenen und auch so begründeten Politik vernachlässigt werden. Wer irgendwo in der Provinz in einem vielleicht geerbten, aber mangelhaft renovierten Haus lebt, ist damit zwar Immobilienbesitzer, hat aber noch lange nicht 50.000 Euro für eine Wärmepumpe auf dem Konto. Die grünliberale Öko-Blase interessierte das zu wenig.
Catherine Liu hat eigens ein Vorwort zur deutschen Ausgabe ihres Buches geschrieben. Doch viele Details in ihrem Essay bleiben US-spezifisch und wirken etwas insiderhaft. Die Autorin findet immer wieder treffende Formulierungen, sie neigt aber auch zur steilen These – etwa, wenn sie der (in der Tat von Bürgerkindern dominierten) „Occupy“- Bewegung kurzerhand eine Geistesverwandtschaft zum neoliberalen Denken unterstellt. Ihre scharfe (Selbst)Kritik der Linken und Linksliberalen kann man, wenn auch nicht eins zu eins, durchaus auf die urban-grün geprägte Klasse der „oberen zehn Prozent“ in Deutschland übertragen. Liu fordert die globale PMC auf, sich endlich wieder an Prinzipien wie Gerechtigkeit und Solidarität zu orientieren. Sie will, wie von Bernie Sanders einst propagiert, die soziale Frage ins Zentrum der Politik zurückholen. Weder bei der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten noch bei den Grünen in Deutschland ist davon derzeit viel zu erkennen.
Catherine Liu: Die Tugendpächter. Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät. Westend Verlag, Frankfurt/Main 2023, 128 Seiten, 18 Euro.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.