Deutscher Gewerkschaftsbund

18.01.2019
100 Jahre Frauenwahlrecht

Abschied vom ewigen Biedermeier

Es ist nicht egal, wie viele Frauen sich für Politik interessieren. Denn Männer repräsentieren die Ansichten und Interessen von Frauen nicht einfach mit. Jetzt ist daher nicht irgendeine Quote, sondern Parität im Parlament nötig.

 

Von Heide Oestreich

Karikatur zum Frauenwahlrecht: Im Bundestag stehen viele Männer und gratulieren einer Frau zu 100 Jahre Frauenwahlrecht.

DGB/Thomas Plaßmann

Der Vati blättert in der Zeitung, die Mutti macht das Schulbrot. Was sich hier so biedermeierlich liest, ist in deutschen Familien noch oft genug Lebensrealität am Frühstückstisch. Studien über die Zeitverwendung von Vätern und Müttern zeigen, wer in der Regel das Schulbrot macht. Und Umfragen zeigen immer wieder, was zuletzt Forsa 2017 bestätigte: Um die Zwei Drittel aller Männer interessieren sich für Politik. Von den Frauen ist es weniger als die Hälfte. Vor hundert Jahren erkämpften die mutigsten von ihnen das Wahlrecht für ihr Geschlecht. Und doch scheint es immer noch das unpolitischere zu sein.

Den Spiegel zum Beispiel hatten 2018 laut Mediaanalyse 12,2 Prozent aller Männer in der Hand, aber nur 4,7 Prozent aller Frauen. Auch die Zeit findet fast doppelt so viele männliche wie weibliche Interessenten, die Bild mehr als doppelt so viele. Tatsächlich zeigt sich in Untersuchungen, dass Frauen über das politische Geschehen schlechter informiert sind als Männer. Und fragt man Frauen, ob sie sich politisch engagieren möchten, hört man nicht selten: "Um Himmels Willen, das tu ich mir nicht an!"

Der Frauenanteil im Bundestag dümpelt um 30 Prozent herum

Das Politikverständnis von Frauen ist anders als das von Männern, so argumentieren Wissenschaftlerinnen nun. Es geht mehr um Beziehungen, Umwelt, Lokales und direkt Spürbares: Bürgerinitiativen, Gemeinden, Stadtteilarbeit. Formale Politik? Pöstchen in Parteien? Nö, Danke. Um diese "weibliche" Art der Politik aufzuwerten, haben Differenzfeministinnen ihr den Namen "primäre Politik" gegeben, die formale ist dann die "sekundäre Politik", die, so der Vorschlag, von der primären ja etwas lernen könnte.

In der Praxis ist von diesem Lernprozess bisher wenig zu spüren. Jeder macht Seins und der Frauenanteil im Bundestag dümpelt um die 30 Prozent herum. Na und?, fragen nun viele. Scheint ja nicht so schlimm zu sein. Warum das Gequäl, um Frauen in die Politik zu bewegen, wenn sie doch gar nicht wollen?

20-Pfennig-Briefmarke mit dem Kopf von Marie-Elisabeth Lüders.

Marie-Elisabeth Lüders wurde als erste Frau an einer deutschen Universität die Doktorwürde Dr. rer. pol. verliehen. 1918 war sie Gründungsmitglied der DDP, 1919 Lüders die erste Abgeordnete der DDP in der Weimarer Nationalversammlung und danach im Reichstag. DGB/Archiv

Der hundertste Geburtstag des Frauenwahlrechts ist ein guter Anlass, auf dieses "Na und?" zu antworten. Dass Frauen sich "nun mal" mehr für primäre Politik interessieren, ist ja kein Zufall und keine biologische Konstante, sondern Resultat einer sehr alten und langlebigen Zurückweisung. "Geh ins Haus (…), die Rede ist Sache der Männer, vor allem die meine," bescheinigt Telemachos seiner Mutter (!) Penelope, der ewig wartenden Gattin des Odysseus bei Homer. Nur wenige geschichtliche Augenblicke später hieß es: "Das Weib schweige in der Kirche". Das Narrativ mündete im neunzehnten Jahrhundert im unübertroffenen Argument der AntifeministInnen: Gebildete, gar politisierende Frauen zerstören die natürliche Ordnung der Geschlechter und des Staates. Sie werden krank und unfruchtbar und das führt zum Untergang des Menschengeschlechts. Nach der Revolution von 1848 wurde in Preußen sogar ein Politikverbot für Frauen eingeführt, das bis 1908 wirksam war. "Dem Mann der Staat, der Frau die Familie", so der Schlachtruf der AntifeministInnen im Kaiserreich.

Über den Grund dieser Zurückweisung kann man nun spekulieren. Eine alte Sorge des männlichen Geschlechts gilt zum Beispiel der Tatsache, dass der Fortbestand seiner Herrlichkeit auf empfindliche Weise von der Gunst der Frauen abhängt. Frauen zu kontrollieren ist erheblich einfacher als diese Gunst immer wieder aufs Neue erwerben zu müssen. Diese Kontrolle der Sexualität und Gebärfähigkeit der Frau ist von Adam und Eva bis hin zum Streit um Paragraf 219a heute zumindest ein wesentliches Motiv männlicher Herrschaft. Frauen, die sich "die Hosen anziehen" und öffentlich mitbestimmen wollen, könnten auch daheim unbotmäßig werden, so die weit verbreitete Befürchtung des 19. Jahrhunderts, als Frauen zu fragen begannen, warum sie eigentlich Bürgerinnen zweiter Klasse seien.

Vor allem die Männerparteien AfD, FDP und CSU wollen Frauen nicht unbedingt in der Politik

Diese Frage ist einhundert Jahre nach der Anerkennung der Frau als Staatsbürgerin nicht erledigt. Das "Geh ins Haus" des Telemachos äußert sich heute etwa in der weit verbreiteten Teilzeitarbeit der Frauen und ihrer stärkeren politischen Abstinenz. In Deutschland arbeiten 71 Prozent der Mütter, die einen Partner haben, auch im Jahr 2018 in Teilzeit. Nur 6 Prozent der Väter tun es ihnen gleich. Natürlich hat niemand mehr gewagt, sie ins Haus zu schicken wie einst Telemachos. Aber sowohl unsere Arbeits- als auch die Familienkultur funktionieren nach wie vor nach diesem Muster - und wer dagegen ankämpft, wird mit Dauerstress bestraft. Die Frauen in der DDR hatten es zwar besser, aber auch nicht gut. Ihre Vollzeiterwerbstätigkeit war zwar akzeptiert, die Kinder hatten Betreuungsplätze, aber der Haushalt und die Abendbetreuung der Kinder waren trotzdem oft genug Muttis Aufgabe.

Und deshalb ist das Ausruhen auf der Ansicht, dass die Frauen ja nicht an der formalen Politik partizipieren wollen, geschichtsvergessen und kurzsichtig. Eine Ansicht, die übrigens vor allem in den Männerparteien AfD, FDP und CSU zuhause ist. Sie übergeht, dass viele 50-Jährige, die heute an den gesellschaftlichen Schaltstellen sitzen sollten, mit Müttern aufwuchsen, die Hausfrauen waren. Ein Ausstieg aus diesem Lebensentwurf ist für viele Frauen ähnlich schwer wie für Arbeiterkinder der Aufstieg in eine höhere Schicht. Er bedeutet wiederum Stress.

Reichtstagsgebäude in Berlin vor nachtblauem Himmel.

Der Weg für Frauen in die Politik ist immer noch weit schwieriger als für Männer, vor allem wenn es um den Bundestag geht. DGB/Iakov Kalinin/123rf.com

Und heute? Ist alles ganz anders? Heute wachsen Kinder vielleicht mit Teilzeit-Müttern auf. Zusammen mit einer Sozialisation mit Barbie und Heidi Klum auch keine optimale Ausgangsbedingung für eine steile Karriere.

Es gibt einen weiteren Grund, warum diese Ansicht so schädlich ist. Es ist nicht egal, wie viele Frauen sich für Politik interessieren. Denn Männer repräsentieren die Ansichten und Interessen von Frauen nicht einfach mit. Die noch heute unabgeschlossene Emanzipation der Frauen kam zumindest in der Bundesrepublik immer nur voran, wenn Frauen sich dafür stark machten. Ohne die Proteste der Frauen hätte es 1949 keine wirkliche Gleichheit im Grundgesetz gegeben. Ohne ihre Proteste hätten sie nicht das bisschen Souveränität über ihren schwangeren Körper, das sie heute noch haben. Erst als eine nennenswerte Zahl von Frauen im Bundestag saß, wurde Gewalt in der Familie überhaupt ein politisches Thema. Ohne eine überparteiliche Frauenkoalition gäbe es kein Quötchen für Aufsichtsräte.

Parität von Männern und Frauen im Parlament lässt sich nur per Gesetz erreichen

Eine Quote brauchen auch die Parlamente hundert Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts, ist heute immer öfter zu vernehmen. Nicht irgendeine Quote, Parität ist nun gefordert, fifty/fifty. Das Unverständnis für diese Forderung wird vielleicht kleiner, wenn man sich bewusst macht, welches Frauenbild uns immer noch unbewusst prägt. Und wenn man bedenkt, dass wir uns in einer Art Teufelskreis befinden. Die Politik ist männerdominiert und männerzentriert, ein immer noch fremdes Feld für die typisch weiblich sozialisierte Frau. Deshalb haben es Frauen schwer, deshalb haben sie keine Lust, sich zu engagieren, deshalb werden es nicht mehr.

Einen Teufelskreis zu durchbrechen, verlangt immer ein Opfer. Die Parität verlangt das Opfer, die Wahl- und Parteienfreiheit etwas einzuschränken. Und sie verlangt von den Männern, die sich nach Posten drängeln, zu akzeptieren, dass Frauen eine Weile lang der rote Teppich ausgerollt wird. Bei vergleichbarer Qualifikation, versteht sich.

Aber dieses Opfer könnte es wert sein, wenn der Gewinn das Brechen des Teufelskreises ist. Nur wo mehr Frauen sind, ändert sich die männerzentrierte Kultur. Und die Knappheit an politisch engagierten Frauen, die durch die Quote sichtbar würde, zwänge die Parteien dazu, den Arbeitsplatz Politik so zu gestalten, dass Frauen ihn haben wollen. Brachial, ja. Aber sogar mit 50-Prozent-Quote bleiben Parteien oft noch männerdominiert, wie man bei den Grünen beobachten kann. Einfach, weil viele Männer ihr Leben lang dominieren üben. Insofern wird mit Parität nicht das Matriarchat ausbrechen. Aber vielleicht wird sie dazu beitragen, dass sich die deutsche Demokratie hundert Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen zumindest in dieser Hinsicht endlich vollendet - regiert und kontrolliert gleichermaßen von Männern und Frauen.


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Kurzprofil

Heide Oestreich
Heide Oestreich ist Redakteurin bei rbb-Kultur. Davor war sie Redakteurin für Geschlechterfragen bei der tageszeitung taz.
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Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

DGB/Heiko Sakurai

Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.

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