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Industriepolitik ist wieder in aller Munde und weit über die deutschen Grenzen zum zentralen Handlungsfeld vieler Regierungen geworden. Dieser Trend ist jedoch oft einem reinen volkswirtschaftlichen Pragmatismus geschuldet. Eine zukunftsorientierte Industriepolitik hingegen benötigt eine nachhaltige, soziale und ökologische Dimension.
Am 18. Februar treffen sich Gewerkschaften, Arbeitgeber und das Bundeswirtschaftsministerium zur nationalen Industriekonferenz im Rahmen des Bündnisses „Zukunft der Industrie“. Hier wird über die industriepolitischen Herausforderungen Deutschlands und Europas diskutiert. Industriepolitik wird wieder als wichtiges politisches Handlungsfeld wahrgenommen und die IG Metall ist dabei ein zentraler Dialogpartner der Politik in wirtschafts- und innovationspolitischen Fragen. Die IG Metall versteht sich aber nicht als bequemer Wegbereiter eines „business as usual“, sondern als Treiber eines eigenen sozial-ökologischen Industriekonzepts. Denn angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung, Energiewende und der Globalisierung steht ein wirklich grundlegender Kurswechsel für einen sozial-ökologischen Umbau der Industrie noch aus. Die deutsche Industrie besitzt zwar beste Voraussetzungen – wie zum Beispiel die Entwicklung neuer Antriebsformen in der Automobilindustrie oder der hohe Standard an Energieeffizienz -, aber aus Sicht der IG Metall reichen sie nicht für den notwendigen Umbau der Industriegesellschaft aus. Schon jetzt ist es zweifelhaft, ob der unabänderliche Anstieg der durchschnittlichen Temperatur um 2 Grad begrenzt werden kann. Die Bundesrepublik Deutschland muss als wichtiges Industrieland „Vorreiter für gute Lösungen“ weltweit sein.
Der notwendige Strukturwandel kann nur gelingen, wenn er im Gleichklang ökonomische, ökologische und soziale Aspekte berücksichtigt. Ohne einen neuen Ansatz in der Industriepolitik, wird das nicht zu bewältigen sein. Er muss von einem starken, gesellschaftlichen Bündnis getragen werden, das auch die Umsetzung begleitet. Die Bedeutung der Industrie für eine nachhaltige Gestaltung unserer Wirtschaft wird mittlerweile auch von vielen NGOs anerkannt. Insofern kann es nur von Vorteil sein, wenn die IG Metall und ihre Betriebsräte verstärkt die Kooperation mit Organisationen der Zivilgesellschaft suchen. Schnittmengen für ein gemeinsames Vorgehen beim ökologischen Umbau der Industriegesellschaft sind vorhanden und wurden bereits in der Vergangenheit in guter Zusammenarbeit genutzt[1].
Die IG Metall wird ihre Forderungen an eine „Gute Industriepolitik“ im politischen Prozess einbringen. Sie geht davon aus, dass der notwendige ökologische Umbau zu grundlegenden Veränderungen in der Produktionsweise und damit zu neuen Strukturen in den Wertschöpfungsketten führt. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Veränderungen neue Chancen für die deutsche Industrie im globalen Wettbewerb bieten. Hierbei dürfen keinesfalls die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „unter die Räder“ geraten. Deshalb sind für die IG Metall folgende Eckpunkte von großer Bedeutung:
1. „Gute Industriepolitik“ heißt: Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen und Qualifikationsmöglichkeiten sowie einer entsprechenden Bezahlung. Prekäre Beschäftigung hat in diesem Konzept keinen Platz. „Low Road“ ist in jedem Fall der falsche Weg. Notwendig ist vielmehr eine nachhaltige, industriepolitische Modernisierungsstrategie im Sinne einer „High Road“, um den verschärften Anforderungen im globalen Wettbewerb gerecht zu werden. Hierfür sind qualitativ hochwertige Produkte, Systemlösungen und starke industrielle Cluster notwendig. Damit ist keineswegs nur eine Hightech-Förderung durch Forschungs- und Innovationspolitik gemeint. Denn gerade die Lowtech-Industrien sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Wertschöpfungsketten in Deutschland und damit in die Förderung einzubeziehen.
Andererseits hat es die deutsche Industrie in der Vergangenheit versäumt, sich den Zugang zu Schlüsseltechnologien wie dem IT-Bereich oder der Batterietechnik zu verschaffen. Diese technologischen Lücken müssen durch eine nachhaltige Industriepolitik ausgefüllt werden. Die IG Metall-Betriebsräte sind dabei wichtige Innovationstreiber in den Unternehmen. Sie pflegen einen engen Kontakt zu den Beschäftigten, wodurch wichtiges Erfahrungswissen in die Innovationsprozesse einfließt. Darüber hinaus engagiert sich die IG Metall auf Bundes- und Länderebene in zahlreichen industriepolitischen Innovationskreisen und Innovationsräten.
2. Zu einer „guten Industriepolitik“ gehört der ökologische Umbau unserer Industrie. Die Umsetzung der Energiewende ist ein zentraler Schritt auf diesem Weg. Konkret betrifft das den Umbau der Energieversorgung durch mehr erneuerbare Energien und den Ausstieg aus der Atomenergie. Die Industrie ist wichtigster Technologielieferant für die Energiewende. Zum Beispiel eröffnet die Windindustrie in den von der Krise des Schiffbaus gebeutelten Küstenregionen neue Beschäftigungsperspektiven. Die Industrie kennt aber nicht nur Gewinner. Industrieunternehmen, bei denen bisher die konventionelle Energieversorgung im Mittelpunkt ihres Geschäftsmodells stand, sind nun auf der Verliererseite. Dasselbe gilt für einzelne Regionen, in denen etwa der Braunkohletagebau dominiert. Hierfür liegen gewiss keine einfachen Lösungen auf der Hand, sie können nur mit langfristig angelegten Konzepten und unter Einbeziehung der Betroffenen bearbeitet werden. Die IG Metall sieht das Spannungsfeld der Industriepolitik zwischen den sozialen und ökologischen Herausforderungen. Deshalb entwickelt sie mit Betriebsräten und Wirtschaftsverbänden ein gemeinsames Konzepte für zukunfts- und beschäftigungssichernde Perspektiven, wie zuletzt mit dem 5-Punkte-Plan zur Zukunftssicherung des Energie- und Anlagenbaus[2]. Es muss auch Aufgabe einer nachhaltigen Industriepolitik sein, sich um die vom industriellen Strukturwandel Betroffenen zu kümmern, mit regionalpolitischen Instrumenten die Umstellung auf alternative Geschäftsmodelle zu gestalten und Arbeitsplätze zu sichern.
3. „Gute Industriepolitik“ muss mit einer langfristigen Perspektive ausgestattet sein. Damit steht sie in direktem Widerspruch zum finanzmarktgesteuerten Shareholder- Kapitalismus. Der Finanzmarktkapitalismus hat in vielen Ländern zu einer immens wachsenden Ungleichverteilung zwischen Einkommen und Vermögen geführt. Diese Entwicklung widerspricht nicht nur den Wertvorstellungen von Gerechtigkeit, sondern verstärkt auch die Krisenanfälligkeit durch negative Auswirkungen auf die Nachfrage. Die Finanzmärkte müssen wieder auf ihre eigentliche Funktion ausgerichtet werden: die Realwirtschaft mit frischem Geld auszustatten. Leider weist Deutschland eine gravierende Investitionslücke auf, sowohl was private als auch öffentliche Investitionen betrifft. Marode Straßen, Brücken, Schleusen und Schulen sind die Folge dieses Defizits, ebenso sinkt die Investitionsquote der Privatwirtschaft stetig. Die öffentliche Finanzpolitik hat den Schuldenabbau als oberstes Ziel erklärt. Ökonomisch sinnvolle, schuldenfinanzierte Investitionen werden durch die „schwarze Null“ verhindert. Als Auswege werden häufig öffentlich-private-Partnerschaftsprojekte angepriesen. Zuletzt im Rahmen des Berichts der Expertenkommission „Stärkung von Investitionen in Deutschland“ zu dem die Gewerkschaften ein Sondervotum abgegeben haben, in dem sie deutlich machen: Alternative Investitionsquellen sind auf Grund der Renditeerwartungen privater Anleger viel teurer als herkömmliche schuldenfinanzierte Investitionen, weil der deutsche Staat sich heute so günstig wie noch nie Geld am Kapitalmarkt leihen könnte. Im Sinne eines qualitativen Wachstums ist der Weg über private Investoren, die öffentliche Infrastruktur zu finanzieren, weder ökonomisch sinnvoll noch sozial gerecht. Die Position der IG Metall war es bisher immer, mindestens die vorhandenen finanziellen Spielräume zu nutzen und nicht zu Lasten künftiger Generationen an der schwarzen Null festzuhalten.
4. Die Mitbestimmung ist eindeutig ein Pluspunkt im deutschen System und leistet ihren Beitrag zur nachhaltigen Gestaltung unserer Industrie. Eine derartige Kooperation für eine Stärkung der Industrie und der industriellen Beziehungen ist nicht nur in den Betrieben, sondern auch in Branchen bzw. Clustern erforderlich. Eine Ausweitung der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten auf betrieblicher Ebene ist deshalb dringend erforderlich. Auf Unternehmensebene müssen endlich die Schlupflöcher zur Umgehung der Mitbestimmungsgesetze geschlossen werden. Erfreulich ist die verstärkte Beteiligung der Gewerkschaften an industriepolitischen Dialogen im Bundeswirtschaftsministerium. Diese müssen jedoch auch über die derzeitige Legislaturperiode hinaus Bestand haben. Neben der Ausweitung der Mitbestimmung sind deshalb dauerhaft fest institutionalisierte industriepolitische Gremien auf Bundes- und Bundesländerebene unter Beteiligung der Gewerkschaften notwendig.
5. In vielen europäischen Ländern steckt die Industrie in einer tiefen Krise. Wenn ein „Turnaround“ nicht bald erreicht wird, erübrigt sich die Forderung nach einer nachhaltigen Industriepolitik. Während Deutschland seinen Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt seit 2005 bei ca. 22 % halten konnte, liegt er im EU-Durchschnitt mittlerweile nur noch bei etwa 15 % – mit stetig sinkender Tendenz. Insbesondere in vielen der ehemals starken Industriestaaten Mittel- und Westeuropas beobachten wir einen dramatischen Verfall des Industrieanteils (siehe Tabelle). Diese Entwicklung hat die Austeritätspolitik der vergangenen Jahre in erheblichem Maße befeuert. Das von Jean-Claude Juncker vorgelegte europäische Investitionsprogramm ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings fehlen bisher noch klar ausformulierte Strategien, die Investitionen in ökologisch und sozial nachhaltige Projekte lenken. Die Aufgabe einer nachhaltigen Industriepolitik wird es sein, auf europäischer wie nationaler Ebene solche strategischen Ansätze für einen sozialökologischen Strukturwandel einzubringen.
Tabelle 1
„Gute Industriepolitik“ hat eine Renaissance der Industrie in Europa zum Ziel. Die europäischen Institutionen haben das Problem zwar erkannt – wie die Diskussion über eine Re-Industrialisierungsstrategie zeigt –, aber der Weg zu einer intensiven und nachhaltigen Zusammenarbeit in Europa ist noch sehr weit. Ähnliches lässt sich auf die EU-Handelspolitik übertragen. Bilaterale Freihandelsabkommen können als Instrumente entwickelt werden, mit denen sich Europa den Herausforderungen des globalen Wettbewerbs stellen kann. Aber gesellschaftliche Verantwortung ist die Basis für nachhaltiges Wirtschaften auch im globalen Kontext. Deshalb muss Handel nicht nur frei, sondern vor allem fair sein. Für die TTIP-Verhandlungen heißt das: wenn die Politik sich tatsächlich auf Nachhaltigkeit verpflichtet, müssen – anders als bisher geschehen – die roten Linien auf gesellschaftspolitische, strategische Ziele ausgerichtet werden.
Zu allen genannten Eckpunkten hat die IG Metall in den letzten Jahren Konzepte entwickelt und sich immer wieder in den öffentlichen und politischen Diskurs eingebracht. Im Rahmen der diversen Initiativen (Bündnis „Zukunft der Industrie“, Plattform „Industrie 4.0“, Plattform „Innovative Digitalisierung der Wirtschaft“, Expertenkommission „Stärkung von Investitionen in Deutschland“ und diverse Branchendialoge) wurde ein umfassender Dialogprozess auf den Weg gebracht, an dem IG Metall und Betriebsräte umfassend beteiligt sind. Das von mir herausgegebene Buch „Welche Industrie wollen wir?“ soll ein weiterer Schritt sein, um Wissenschaftler, Politiker, Vertreter von Umweltorganisationen, Gewerkschafter und Betriebsräte zusammenzubringen, Widersprüche zu diskutieren, aber auch Handlungsanleitungen in Richtung einer nachhaltigen Industriepolitik zu formulieren.
“Gute Industriepolitik“ ist machbar! Zu ihrer Realisierung ist sie jedoch auf starke Partner in der Politik, in der Zivilgesellschaft und nicht zuletzt in den Betrieben angewiesen. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Entwicklungen steht die Politik in der Pflicht, ihr Primat in der demokratischen Gesellschaft ist gefordert. Anders sind die kommenden Herausforderungen nicht zu meistern. Die IG Metall wird hierzu ihren produktiven Beitrag leisten!
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[1] Beispiele hierfür bilden der Kurswechselkongress aus dem Jahr 2012 unter Beteiligung von Hubert Weiger als Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland sowie das breite Bündnis von NGOs und Gewerkschaften gegen das Freihandelsabkommen TTIP.
[2] Mit dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), Unternehmen und Betriebsräten.
Der jüngst erschienene Band „Welche Industrie wollen wir? Nachhaltig produzieren – zukunftsorientiert wachsen“ von Wolfgang Lemb (Hg.), 2015 | 1. Auflage, 288 Seiten, Campus Verlag, 978-3-593-43248-9 (ISBN):
IGM
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.