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Im ganzen Land kam es nach der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 zu Gewaltexzessen gegen politisch Andersdenkende. Ein besonders brutales Kapitel ist die „Köpenicker Blutwoche“. SA-Trupps verschleppten, folterten und ermordeten im Berliner Südosten mindestens 24 Gewerkschafter*innen, Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, mehr als 100 wurden Opfer des Exzesses. Der Historiker Gunter Lange erinnert an sie.
SPD bei einer Demonstration in Friedrichshagen, Bannerträger ist der von SA-Leuten im Juni 1933 ermordete Paul von Essen. Heimatmuseum Köpenick
Der 21. Juni 1933 hätte im Berliner Südosten mit einem schönen langen Frühsommerabend enden können, Arbeiter spielen Fußball oder entspannen sich in Gartenlokalen nahe der Spree. Es kam anders. „Vierfacher marxistischer Mord in Köpenick“ titelte zwei Tage später das NSDAP-Blatt „Völkischer Beobachter“. Die Wahrheit: Hinter dieser Schlagzeile steht ein Gewaltexzess der Nazis gegen Akteure der Arbeiterbewegung.
Dem Aufstieg der Nationalsozialisten war eine Schwächung der Arbeiterbewegung gefolgt: Im Zuge der Weltwirtschaftskrise war die Arbeitslosigkeit exorbitant gestiegen, und die Gewerkschaften verloren ein Drittel ihrer Mitglieder. Seit der Machtübernahme der Nazis Ende Januar 1933 richtete sich deren Repression vor allem gegen Sozialdemokrat*innen, Kommunist*innen und Gewerkschafter*innen. Die schon 1925 gegründeten Sturmabteilungen (SA) der NSDAP verwüsteten Gewerkschaftsbüros, überfielen und misshandelten Gewerkschafter*innen. Die Gewerkschaftszentralen intervenierten beim Reichspräsidenten Paul von Hindenburg – vergeblich.
Hermann Göring, seinerzeit kommissarischer Innenminister in Preußen, ermunterte mit einem Dekret zum militanten Handeln gegen die „Gegner“ des neuen Regimes und empfahl allen staatlichen Stellen Nachsicht gegenüber den SA-Schlägern. Er ernannte die SA-Männer zu Hilfspolizisten, gekennzeichnet mit einer weißen Armbinde – ein Freibrief für Gewalt, vor allem nach dem Reichstagsbrand. Zwei Beispiele: Am 15. März 1933 kam der Gewerkschafter Wilhelm Reupke in Braunschweig durch SA-Männer zu Tode, am 22. März 1933 wird im sächsischen Löbau ein Gewerkschafter von der SA erschossen. Gewaltexzesse der Nazis gegen ihre politischen Gegner blieben an der Tagesordnung.
Noch am 15. April 1933 riefen die Gewerkschaften ihre Arbeiter auf, sich am 1. Mai 1933 an den von der NS-Regierung organisierten Mai-Feiern zu beteiligen; am Morgen des 2. Mai 1933 besetzten SA-Trupps die Gewerkschaftsbüros und verwüsteten sie. Führende Gewerkschafter wurden verhaftet, in Konzentrationslager verbracht und schwer misshandelt. Alle Gewerkschaften waren nunmehr verboten. Zu lange hatten die Gewerkschaftsspitzen von ihrer Basis „ruhiges Blut“ verlangt, ständig bemüht, die Legalität durch Anpassung zu sichern.
Einige Opfer der Köpenicker Blutwoche Heinrich-Wilhelm Wörmann: Widerstand in Köpenick und Treptow
Der Stadtteil Köpenick im Südosten Berlins schließt sich an das Industriegebiet der Oberspree an, ist während der Weimarer Republik von 57 000 auf mehr als 88 000 Einwohner gewachsen; gut 46 Prozent sind Arbeiter, 25 Prozent Angestellte und Beamte, knapp 10 Prozent sind Selbstständige. Anfang 1933 sind 27,5 Prozent der Erwerbstätigen arbeitslos. Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 stimmten 38,3 Prozent für die NSDAP, 23,6 Prozent für die KPD, 20,3 Prozent für die SPD, 11,8 Prozent für die rechte DNVP; die christliche Zentrumspartei kam auf drei Prozent. Erste Hausdurchsuchungen durch SA-Trupps gab es bereits im Februar 1933. Im März 1933 ist die Köpenicker Wohlfahrtsvorsteherin und Berliner Stadtverordnete Marie Janowski (SPD) von SA-Leuten in deren Sturmlokal „Demuth“ schwer misshandelt worden, ihre Strafanzeige gegen die Täter wurde Monate später eingestellt. Willkürliche Verhaftungen und Folterungen hielten in den Folgemonaten an.
Zur Durchsetzung und Absicherung ihrer Macht hatte die NSDAP mit ihren Sturmabteilungen ein gewalttätiges Instrument geschaffen, bereit Gegner zu vernichten. Die örtlichen Gruppierungen verfügten über Treffpunkte in ihnen nahestehenden Gastwirtschaften, den „Sturmlokalen“, so in Köpenick die SA-Sturmlokale „Demuth“, „Seidler“, „Gerichtsklause“ und das einstige SPD-Wassersportlerheim „Wendenschloß“, im März von der SA beschlagnahmt. In den Sturmlokalen hielt die SA ihre Gegner gefangen, hier folterten sie, auch mit tödlichem Ausgang. Als politischer Machtfaktor hatte die SA freie Hand. So traf sich am Abend des 20. Juni 1933 im Verwaltungsgebäude des Amtsgerichts Köpenick der SA-Sturm 15 unter Führung ihrer Sturmbannführer Herbert Gehrke und Friedrich Plönzke, um eine neue Verhaftungswelle vorzubereiten, denn für den 22. Juni 1933 hatte Reichsinnenminister Wilhelm Frick das Verbot der SPD und anderer Organisationen der NS-Gegnerschaft beschlossen.
In den Fokus war die sozialdemokratische Familie Schmaus geraten. Sie wohnte in der Arbeitersiedlung Elsengrund nahe dem Bahnhof Köpenick. Am Vormittag des 21. Juni 1933 versuchte der SA-Sturm 1/15 Johann Schmaus, langjähriger Vorstandssekretär des Landarbeiterverbandes sowie die beiden Söhne Anton und Hans festzunehmen, doch die drei waren außer Haus. So nahm der SA-Sturm am späten Abend desselben Tages einen neuen Anlauf und drang gewaltsam in das Haus ein. Anton Schmaus forderte die sechs SA-Leute auf, das Haus zu verlassen. Als sie dem nicht nachkamen, schoss Schmaus in Notwehr auf sie. Zwei von ihnen waren tödlich getroffen, ein Dritter geriet in die Schusslinie der eigenen SA-Leute und kam um. Vor dem Haus trafen Kugeln den Kommunisten Erich Janitzky, auch er starb. Anton Schmaus konnte fliehen, stellte sich am folgenden Tag der Polizei im Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz. Ihm schossen SA-Leuten in den Rücken. Anton Schmaus starb Monate später an der Schussverletzung. Sein Vater, Johann Schmaus, fiel im Hause den SA-Leuten in die Hände und wurde von ihnen im Gartenhaus erhängt, um einen Selbstmord vorzutäuschen.
Am 21. Juni 1933 und den folgenden Tagen nahm die SA in Köpenick mehrere Hundert NS-Gegner fest, zum Teil im Gefängnis des Amtsgerichts inhaftiert. Dort wie in den SA-Sturmlokalen waren sie schwersten Misshandlungen ausgesetzt. Zwei Dutzend der Inhaftierten überlebten die Misshandlungen nicht und wurden erschossen: unter ihnen der ehemalige Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin, Johannes Stelling (SPD), die Reichsbannerführer Paul von Essen, Richard Aßmann und Paul Pohle, von der KPD Karl Lange, Karl Pokern, die Brüder Josef und Paul Spitzer und aus den Reihen der Juden in Köpenick Georg Eppenstein. Einige dieser Opfer wurden von der SA in Säcken verschnürt und in Gewässer geworfen. Den getöteten drei SA-Männern bereitete die NSDAP am 26. Juni 1933 in Köpenick ein Staatsbegräbnis unter Führung von Joseph Goebbels.
In der Künster- und Arbeitersiedlung Elsengrund in Berlin Köpenick hat der SA-Terror im Juni 1933 begonnen. Im Wohnhaus der Familie Schmaus (hinter der Laterne) sollten Vater Johann und seine Söhne Anton und Hans festgenommen werden. Anton schoss aus Notwehr. In den kommenden Tagen wurden aus Rache Gewerkschafter*innen, Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen gefangengenommen, gefoltert und ermordet. Heute sind die Straßen in der Umgebung nach vier Opfern der Köpenicker Blutwoche benannt. Schmausstraße, Stellingdamm, Paul-von-Essen-Platz, Jarnetzkystraße. DGB
Opfer und Täter der Köpenicker „Blutwoche“ kannten sich, waren zumeist Nachbarn in Köpenick. Zuweilen ging der politische Riss quer durch Familien. Das Denunziantentum trieb Blüten. Auch Gewerkschafter wandten sich in diesen Wochen dem NS-Regime zu, wurden mit Arbeit belohnt.
Gegen Angehörige des SA-Sturms in Köpenick wurde nach Kriegsende Anklage erhoben. Ein erstes Urteil gab es 1948. Das Landgericht in Ost-Berlin verhängte 1950 gegen 55 Angeklagte langjährige Haftstrafen sowie 15 Todesurteile, davon wurden sechs im Februar 1951 in Frankfurt/Oder vollstreckt, darunter einer der Hauptverantwortlichen der „Köpenicker Blutwoche“, Friedrich Plönzke. Einige SA-Männer konnten sich durch Flucht nach Westdeutschland der Strafverfolgung entziehen und blieben unbehelligt.
Eine Gedenkstätte im Hafttrakt des Köpenicker Amtsgerichts, Gedenktafel und Gedenksteine erinnern in Köpenick an die Gräueltaten der SA im Jahr 1933. Dem Gewaltexzess vom Juni 1933 folgte zwölf Jahre eine beispiellose Verfolgung der Gegner des NS-Regimes.
DGB/Heiko Sakurai
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