Ist die Industriepolitik der Ampel als Fortsetzung der Deutschland AG mit neuen Instrumenten zu begreifen? Peter Kern hat sich mit ihrem Vermächtnis befasst. Grundlage ist ein aktuelles Buch über diese Epoche der deutschen Wirtschaftsgeschichte.
pexels
Deutschland AG? Wer vor dem Millennium einmal jung und politisch interessiert war, dem dürften diese Hieroglyphe noch geläufig sein. Gemeint ist eine durch enge Kapital- und Personalverflechtung geprägte deutsche Ökonomie, von den Kritikern damals staatsmonopolistischer Kapitalismus oder umgangssprachlich Deutschland AG genannt. Letztere Wortprägung geht auf einen in den siebziger Jahren veröffentlichten Artikel der Financial Times zurück, wie man in dem hier besprochenen Buch erfährt. Stamokap, das war keine wirklich ambitionierte Theorie der Gesellschaft, und dennoch erhärten das umfangreiche empirische Material dieser Untersuchung, die Managerbiografien und die Fallstudien einzelner Konzerne die Kernthese dieser Theorie: Demnach waren die Konzerne der Industrie und des Handels mit den drei damals dominierenden Banken und den beiden großen Versicherungen aufs engste verbandelt.
Wer einmal Krösus in der Unternehmenslandschaft war und Preussag, Horten, Mercedes, Thyssen, Veba, VW oder RWE hieß, der war mit seiner Hausbank per wechselseitiger Beteiligung verbunden, ein Old Boys Club, der die ausländische Konkurrenz draußen hielt, wie die Financial Times treffend analysierte. Die jeweilige Bundesregierung waren kooptiertes Mitglied des Clubs. Das Prinzip des Ankeraktionärs galt ihr als Garant politischer und ökonomischer Stabilität. Die Steuerpolitik war danach. Wer mehr als ein Viertel Konzernanteile hielt, musste für die erzielte Dividende keine Steuern zahlen. Es galt also Matthäus 25/29: Wer hat, dem wird gegeben. Das Matthäus-Prinzip galt aber auch im Umkehrschluss; denn Aktiendepots sollten gehalten und nicht veräußert werden. Wer gegen diesen ökonomischen Imperativ verstieß, dem wurde ein Steuersatz von über 50 Prozent abverlangt.
Den Clubmitgliedern ging es gut. Sie mussten wenig Eigenkapital vorhalten, hatten sie doch ihren Ankeraktionär im Kreuz. Sie durften konservativ bilanzieren, was ein Euphemismus war für die durch die Bilanzierungsvorschrift gedeckte und stille Reserve genannte Praxis, realisierte Gewinne vor gierigen Dividendenjägern und übereifrigen Steuerbehörden zu verstecken. Über die wirkliche Konstitution eines Konzerns wussten nur seine Insider Bescheid; die Publizitätsvorschriften verdienten den Namen nicht. Auf der Hauptversammlung sah man sich keinen kritischen Fragen ausgesetzt. Ein in dem Buch zitierter Vorstand wehrte die Nachfrage eines Kleinaktionärs mit der Bemerkung ab: Stille Reserven heißen so, weil über sie Stillschweigen zu wahren ist. Die Hauptversammlung war in ihrer Hauptsache ein rituelles Schnittchen essen.
Dieses Biedermeier kam an sein Ende, als es mit dem sogenannten Realsozialismus zu Ende ging und die Ökonomien der Sowjetunion und ihrer Satelliten kollabierten. Des einen Leid, des anderen Freud, resümieren die Autoren nüchtern. Denn plötzlich und zum ersten Mal war der Weltmarkt wirklich vorhanden. Die weitere Öffnung Chinas und Lateinamerikas hatte dem Westkapital einen Zuwachs von drei Milliarden potentieller Arbeitskräfte und Konsumenten beschert. Zum Hindernis war die verknöcherte Deutschland AG geworden. Denn Fabrikstandorte und Vertriebsgesellschaften aufzubauen, kostete ein immenses Geld, was das Potential der kreditgebenden Hausbanken überstieg, und die Notwendigkeit sich von gebundenem Kapital zu trennen, für die Industrieunternehmen zur unabweisbaren Pflicht machte.
Als die Regierung Schröder den Unternehmen und den Kreditinstituten im Jahr 2000 erlaubte, sich von den bis dato gehaltenen wechselseitigen Beteiligungen zu trennen, ohne dass ihnen für die Veräußerungsgewinne eine müde Mark an Steuern abverlangt wurde, führte Rot-Grün nur fort, was Schwarz-Gelb mit seiner Idee vom schlanken Staat in die Welt gesetzt hatte. Die Deutschland AG war in Konkurs gegangen, die Ära von Private Equity, Hedge Fonds und Investmentgesellschaften begann. Einem gewissen Friedrich Merz war die deutsche Geschäftsführung von BlackRock anvertraut, dem das Mehrfache des deutschen Haushaltsbudgets verwaltenden, weltweit größten Fonds.
Wie erlebten die Gewerkschaften das Ende der Deutschland AG? Mit gemischten Gefühlen. Die ersten Erfahrungen stimmten pessimistisch. Gesellschafter traten auf, die ihr Kapital bündelten, einen Kredit aufnahmen, damit ein Unternehmen kauften um ihrem Neuerwerb die Bedienung des Kredits wie die Lieferung reichlicher Profite abverlangten. Oder es wurden Unternehmen tranchiert, die Filets verkauft und das durchwachsene Geschäft blieb sich solange selbst überlassen, bis es vergammelte und der Markt sein Urteil sprach. Auch gegenteiligen Erfahrungen waren zu machen: So mit dem Konzern, im Hauptgeschäft Produzent von Industriegasen, der sein Nebengeschäft, die Sparte Gabelstapler, an Finanzinvestoren abgab. Die Tochter war an die Börse gebracht, florierte und das ehemalige Mutterhaus florierte auch. Wohl ließ sich das Private Equity-Management keine Jobgarantien abhandeln, aber das Festhalten an Tarifvertrag, Betriebsrente und zugesagter Investition durchaus.
Das Buch schließt mit einem wenig überraschenden Fazit: Das deutsche Modell der industriellen Beziehungen hat sich den internationalen Standards angepasst und hinter diese Standards geht es nicht mehr zurück. Die Autoren der Studie haben im Hauptberuf einen Lehrstuhl für strategisches Management inne. Von ihnen kann man keine strategischen Hinweise für die Gewerkschaften erwarten. In ihrer Geschichte der Deutschland AG kommen die Gewerkschaften gar nicht vor und ein Ausblick auf deren künftige Rolle unterbleibt. Spielen sie denn eine gewichtige Rolle in der vom amtierenden Kabinett verantworteten Industriepolitik, die man doch als Fortsetzung der Deutschland AG mit neuen Instrumenten begreifen muss?
Mit ihrer Förderpolitik will die Ampelregierung die Transformation der auf fossiler Energie fußenden deutschen Industriegesellschaft moderieren, und in den dazu einberufenen Expertenrunden sind der DGB und die Einzelgewerkschaften mit dabei. Um die Versorgung mit Microchips und mit Batteriezellen, den für den Strukturumbruch kritischen Technologien, zu gewährleisten, sponsort die öffentliche Hand privatwirtschaftliche Unternehmen gegenwärtig mit Milliardensummen. Die öffentliche Hand: ein altfränkisches Wort für das Geld der Bürger:innen. Der Staat gibt es den Konzernen, damit diese ihren Kapitalstock modernisieren. Wer Geld gibt, bekommt Anteile und die mit den Anteilen verbunden Mitspracherechte. So funktioniert das Privatrecht. Kann dieses Recht ausgehebelt sein, ausgerechnet, wenn der demokratische Souverän der Geldgeber ist? Ein Demokratiedefizit tut sich auf, und die Gewerkschaften sollten dieses Defizit thematisieren.
Thomas Hutzschenreuter, Sebastian Jans: Eigentum, Governance und Strategie. Von den Ursprüngen der Deutschland AG zur Neuorientierung börsennotierter Unternehmen, Berlin/Boston 2022, 292 Seiten, 34,95 Euro.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.