Deutscher Gewerkschaftsbund

14.06.2021

Das verdammte Olympia wird doch stattfinden

Japan braucht bestimmt keine Olympischen Spiele. Trotzdem marschiert die Olympische Armee weiter und verdient gewaltige Summen, während viele Länder kurz vor dem Bankrott stehen. Die Spiele sind vor allem ein gigantisches Geschäft für das IOC, Sponsoren, Bauunternehmer – und manchmal für korrupte Politiker.

 

Von Ian Buruma

Fünf Frauenfiguren aus Drahtgeflecht mit wehenden Kleidern und olympischen Fackeln in der Hand.

Von Ausnahmen abgesehen lassen sich Olympische Spiele nur schwer rechtfertigen. Diese Treffen marschierender, Flaggen schwingender, uniformierter Athleten ist ein Anachronismus - trotz hübscher Denkmäler. DGB/Sam Bayle/unplash

Sie war die erste japanische Judo-Weltmeisterin und hat bei den Olympischen Spielen 1988 eine Bronzemedaille gewonnen: Kaori Yamaguchi. Heute ist sie Mitglied des japanischen olympischen Komitees und erklärte kürzlich etwas sehr Ungewöhnliches – zumindest für ein Vorstandsmitglied des japanischen Olympischen Komitees. Sie schrieb in einem Kommentar, Japan sei dazu gedrängt worden, die diesjährigen Spiele während einer Pandemie abzuhalten: "Wozu gibt es diese Olympischen Spiele und für wen? Die Spiele haben ihre Bedeutung schon verloren und werden nur um ihrer selbst willen abgehalten. Ich glaube, wir haben die Gelegenheit zur Absage verpasst (…) Wir sind in eine Situation gedrängt worden, in der wir nicht einmal mehr aufhören können. Wir sind verdammt, wenn wir es tun, und verdammt, wenn wir es nicht tun."

Finden die Spiele nur für japanische Politiker zur Imagepflege statt?

Yamaguchi ist nicht die einzige, die so denkt. Ein führender japanischer Mediziner warnte: Wenn die Spiele wie geplant stattfänden, werde zu neuen Corona-Infektionen führen und sei „nicht normal“. Über 80 Prozent der Japanerinnen und Japaner wollen, dass die Spiele entweder verschoben oder abgesagt werden. Die zweitgrößte Zeitung des Landes, Asahi Shimbun, ist zwar offizielle Sponsorin der Spiele, hat aber dennoch die Regierung dringend aufgefordert, das Vorhaben aufzugeben. Wenn die Spiele tatsächlich stattfinden, was äußerst wahrscheinlich ist, werden die Wettkämpfe in zum größten Teil leeren Stadien stattfinden, die zu hohen Kosten gebaut wurden.

Yamaguchis Frage ist mithin mehr als berechtigt: Für wen werden die Olympischen Spiele veranstaltet? Die Athleten konnten sich schon in allen möglichen internationalen Meisterschaften messen. Und die Japaner sollten nicht den Preis für die Unterhaltung des globalen Fernsehpublikums zahlen müssen. Finden die Spiele nur für japanische Politiker statt, die mit dem Spektakel ihr Image aufpolieren wollten, oder für die Bonzen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), jene aufgeblasenen Würdenträger, die glauben, dass die Interessen ihrer Maschinerie wichtiger seien als alles andere?

Die Frage, wofür die Olympischen Spiele wirklich gut sind, verfolgt die Spiele schon seit Pierre de Coubertin sie 1896 in Athen „wiederbelebt“ hat. Nach der Niederlage im Krieg gegen Preußen im Jahr 1871 sorgte sich der Baron, wie andere französische Konservative seiner Zeit, um die Wehrhaftigkeit der Nation. Er dachte, dass Leistungssport die Antwort auf die Unzulänglichkeiten der französischen Männlichkeit sein würde.

Blick von der Kopfseite in das neue, noch leere Olympia-Stadion in Tokio

Die Anlagen für die Olympischen Spiele in Japan sind seit letztem Jahr fertig. Doch die Pandemie ist in dem Land noch längst nicht überwunden, das Impfen geht nicht so schnell voran wie bei uns. Bleiben die Stadien daher so leer wie bisher? DGB/IOC

Coupertin wollte aber nicht nur die Manneskraft der Franzosen wiederherstellen, sondern hatte auch die Hoffnung, ein internationales Sportereignis könne die Völker der Welt zusammenbringen und den Frieden fördern. Genau wie Weltausstellungen und Pfadfindertreffen würden die Spiele internationale Freundschaften und zugleich den Patriotismus fördern. Nach einem sauberen und fairen Wettkampf sollten die gesündesten Exemplare vieler Nationen gemeinsam einer besseren Zukunft entgegen gehen.

Olympische Spiele haben seit 1945 auch Gutes bewirkt, gerade für Japan

Der rechte Ideologe Charles Maurras, der sich der ultra-nationalistischen Action française angeschlossen hatte, macht sich zunächst über Coubertins Idealismus lustig. Denn er verachtete die Idee der internationalen Freundschaft. Später jedoch änderte er eine Meinung, weil er annahm, der Wettkampf auf Aschenbahn und Spielfeld würde den Hass zwischen den Nationen weiter anfachen – und genau das hätte ihm gefallen.

Am Ende gewannen weder Coubertins Idealismus noch Maurras’ Zynismus die Oberhand. Der Weltfriede kam nicht, für die Kriege konnte man aber kaum den nationalen Taumel im Sportstadium verantwortlich machen. Die Hohlheit von Coubertins Ansprüchen wurde spätestens dann auf erbärmliche Weise klar, als seine zittrige Stimme bei den Olympischen Spiele 1936 in Berlin die Tugenden der Freundschaft und des Fairplay beschwor, während Hitler und Göring grinsend in ihren Logen saßen.

Man kann nicht leugnen, dass die Spiele seit Ende des Zweiten Weltkriegs auch Gutes bewirkt haben. Die Spiele in Tokio 1964 waren für die Japaner enorm wichtig und symbolisierten nicht nur den wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch politische Anerkennung. Japan war nicht mehr das militaristische Monster, das in Asien für Millionen grausame Tode verantwortlich war, sondern eine blühende weltoffene Demokratie.

Der Deutsche Olympische Sportbund feiert regelmäßig die Sportler*innen, die sich für Olympia qualifizieren. Bedenken wegen Corona hat man nicht.

Etwas Ähnliches lässt sich für die Olympischen Spiele von Seoul 1988 sagen. Nach Jahrzehnten der eisernen Unterdrückung durch das japanische Kaiserreich, dem verheerenden Koreakrieg und weiteren Jahrzehnten als Militärdiktatur hatte sich Südkorea zu einer relativen offenen Gesellschaft entwickelt. Es gibt freie Wahlen, eine aufmüpfige freie Presse und eine junge Bevölkerung, vor Stolz und Optimismus strotzt. Die Koreaner hatten das internationale Rampenlicht redlich verdient. Die Spiele von Seoul waren ein Freudenfest.

Putins Winterspiele von 2014 waren eine Hommage an seine autoritäre Herrschaft

Von diesen wenigen Fällen abgesehen, lassen sich die Olympischen Spiele jedoch nur schwer rechtfertigen. Diese Treffen marschierender, Flaggen schwingender, uniformierter Athleten ist ein Anachronismus aus dem 19. Jahrhundert. Das lieben vor allem die Länder, in denen die Menschen nicht wählen dürfen, sondern ihren Anführern huldigen müssen. Altmeister in dieser Disziplin ist Nordkorea, doch auch Wladimir Putins Winterspiele von 2014 waren nichts anderes als eine Hommage an seine autoritäre Herrschaft. Und gewiss hätte der Nationalismus, den China 2008 bei den Spielen in Peking zur Schau stellte, dem Reaktionär Maurras besser gefallen als Coubertin.

Ärmeren Ländern, wie Griechenland 2004, bleibt nach den Spielen nur ein riesiger Schuldenberg und leere Stadien, die langsam von Unkraut überwuchert werden. Reiche Länder brauchen extravagante Shows – wie in Atlanta 1996 oder London 2012 – eigentlich nicht oder höchstens als Vorwand für Investitionen in Infrastruktur, die sowieso gebaut worden wäre.

Tokio im Jahr 2021 braucht bestimmt keine Olympischen Spiele. Und trotzdem marschiert die Olympische Armee weiter und verdient gewaltige Summen, während viele Länder kurz vor dem Bankrott stehen. Mit den Spielen von Athen hat das IOC hübsche 985 Millionen Euro verdient. Ich erinnere mich noch gut, wie die olympischen Funktionäre durch Seoul stolziert sind. Je ärmer das Land, das sie repräsentierten, umso größer schienen ihre Platinuhren zu sein.

Die Spiele sind ein gigantisches Geschäft für das IOC, Sponsoren, Bauunternehmer – und manchmal für korrupte Politiker. Dafür sind sie gut. Dieses Jahr werden sich tausende Funktionäre in den Lobbys teurer Tokioter Hotels drängeln. Wenn sie wieder abreisen, werden die großen Stadien meistens leerstehen und von einem Event zeugen, das nie hätte stattfinden dürfen.

 


Aus dem Englischen Daniel Haufler / © Project Syndicate, 2021


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Kurzprofil

Ian Buruma
ist ein niederländischer Schriftsteller und Essayist. Kürzlich erschien von ihm das Buch "The Churchill Complex: The Curse of Being Special, From Winston and FDR to Trump and Brexit".
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