Die Migrationskrise in der Türkei verschärft sich. Das Land ist das größte Aufnahmeland von Geflüchteten in der Welt. Das Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei bedroht die Menschenrechte der Geflüchteten und legitimiert autoritäre Regime, meint unser Autor und türkischer Gewerkschaftssekretär.
Mit der Ankunft von Menschen aus Afghanistan, die im vergangenen Jahr nach der Machtübernahme der Taliban flohen, verschärft sich die Migrationskrise in der Türkei. Laut UNO Flüchtlingshilfe ist die Türkei mit über 3,6 Millionen Geflüchteten, hauptsächlich Syrer*innen, das größte Aufnahmeland der Welt. Zählt man nicht erfasste und Migrant*innen ohne Papiere mit ein, ist die Zahl sogar noch höher.
Zu Beginn der Krise 2016, hat die Türkei die Verordnung zum vorübergehenden Schutzstatus (Temporary Protection Regulation – TPR) erlassen, die Geflüchteten Aufenthalt und Arbeit erlaubt und damit über einen reinen Flüchtlingsstatus hinausgeht. Allerdings haben Migrant*innen, die illegal ins Land kommen, keinen Anspruch auf diesen Schutzstatus. Wenige Menschen mit Papieren haben die Chance, einen Arbeitsplatz zu finden und zumindest den Mindestlohn zu verdienen.
Die überwiegende Mehrheit der Migrant*innen ohne Papiere erhält jedoch nur einen Bruchteil des Mindestlohns und hat keinen Zugang zu sozialen Rechten, einschließlich in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO verdienen syrische Arbeitnehmer*innen rund 30 Prozent weniger als Einheimische, obwohl sie mehr Stunden arbeiten. Die Migrationspolitik der Türkei hat dazu geführt, dass am Rand von Europa die billigsten Arbeitskräfte zu finden sind.
Migrantische Arbeiter*innen sind meist nicht gewerkschaftlich organisiert, da sie hauptsächlich im informellen Sektor tätig sind. In vielen Fällen werden sie gar nicht für ihre Arbeit bezahlt, sind illegal beschäftigt, rassistischer Gewalt und sexueller Belästigung ausgesetzt oder werden vereinzelt ermordet. Da ihnen die Regierung zudem mit Abschiebung droht, verzichten Migrant*innen darauf, Beschwerde einzulegen.
Die Migrationskrise trifft auf die Wirtschaftskrise, die durch die Abwertung der türkischen Lira seit 2018 ausgelöst wurde. Zunehmende Armut und Arbeitslosigkeit im Land verhalf der einwanderungsfeindlichen Agenda der Rechten an Einfluss. Die Migrationskrise spaltete die Arbeiterklasse in zwei Lager und Gewerkschaften sahen sich gezwungen, auf die Arbeitsbedingungen der Migrant*innen zu reagieren. Die Spaltung wurde zu einer Schwachstelle der Gewerkschaften, welche die Regierung ständig für sich ausnutzt.
Als Reaktion auf die massenhafte Einwanderung von Menschen aus Syrien im Jahr 2015 bot die EU der Türkei sechs Milliarden Euro, um Geflüchtete an der Weiterreise aus der Türkei zu hindern. Das Migrationsabkommen wurde im März 2016 geschlossen und wie angedacht, reduzierte es den Druck auf die EU-Außengrenzen. Das Abkommen nutzt aus, dass die Türkei nicht Teil der EU ist, sondern an sie angrenzt. Es legitimiert prekäre Arbeitsbedingungen für Geflüchtete, indem diese weniger als den Mindestlohn verdienen, keinen Zugang zu sozialen Rechten haben und sogar von Kinder- und Zwangsarbeit bedroht sind.
Bis Ende 2020 zahlte die EU der Türkei insgesamt sechs Milliarden Euro. Darüber hinaus wurde von den EU-Ländern für 2021 ein neues Hilfspaket in Höhe von drei Milliarden Euro gebilligt, obwohl die türkische Regierung bislang nicht bereit war, offenzulegen, wie diese Gelder eingesetzt werden sollen. Geht es um die Sicherheit ihrer Grenzen, scheint die EU keine Hemmungen zu haben, autoritäre Regime zu finanzieren und Erdogans Regierungsstil politisch anerkennt.
Die Bereitschaft, jeden Preis zu zahlen, um Migrant*innen von der Einreise in EU-Hoheitsgebiet abzuhalten, schafft eine Situation, die sich autoritäre Regime zunutze machen. Im März 2020 wurden tausende Migrant*innen in türkische Städte nahe der Grenze zu Griechenland geschickt, nachdem die türkische Regierung das Gerücht verbreitete, die Grenzen würden geöffnet. In der Folge versuchten tausende Menschen nach Griechenland einzureisen und sahen sich der Gewalt griechischer Grenzpatrouillen ausgesetzt.
Den Schutz ihrer Grenzen auf autoritäre Regime zu übertragen, droht zu einem Muster der EU-Politik zu werden und setzt Menschen massiver Gewalt aus. Im Februar 2022 wurden 22 Migrant*innen von griechischen Soldaten verprügelt und in den Fluss Maritsa zurückgetrieben, nachdem ihnen die Kleidung abgenommen worden war. 19 von ihnen erfroren. Die türkische Regierung hat ihre unmenschlichen Praktiken mittlerweile in andere autoritäre Regime exportiert, um Europa zu erpressen, was kürzlich an der belarussischen Grenze zu Polen deutlich wurde. Die Migrationspolitik der EU ermöglicht es autoritären Regimen, Menschen zu instrumentalisieren und legitimiert menschenverachtende Praktiken zur Grenzsicherung.
Der EU-Türkei-Deal hat sich als Hindernis für die gewerkschaftliche Organisierung im Land erwiesen und Migrant*innen in der Türkei nichts als Elend gebracht. Doch betrifft die Migrationskrise nicht mehr nur die Türkei. Ein solch autoritäres Regime und ein billiger Arbeitsmarkt werden auch die Arbeitsbedingungen in Europa verschlechtern. Die türkische Regierung verfolgt eine Strategie der Schaffung von Wirtschaftswachstum durch wettbewerbsfähige Wechselkurse, billige Arbeitskräfte und nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen. Das könnte zu einer massiven Abwanderung von Investitionen aus Europa führen und die Befürchtung, dass „Migranten uns die Arbeitsplätze wegnehmen“ auf ganz andere Weise bewahrheiten.
Der Europäische Gewerkschaftsbund fordert deswegen die sofortige Kündigung des Abkommens und eine neue Migrationspolitik. Da sich in den vergangenen Jahren eine große Zahl von Migrant*innen in der Türkei niedergelassen hat, muss jede Lösung nicht nur ihre Umverteilung, sondern auch ihre Integration vorsehen. Die Menschen müssen in gleichem Maße von Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen profitieren und fairen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Die türkische Regierung muss gezwungen werden, Migrant*innen dauerhaften und sicheren Flüchtlingsstatus zu gewähren, anstatt sie nur vorübergehend zu schützen. Die EU muss die Verantwortung dafür übernehmen, die Probleme zu lösen, die sich aus dem Abkommen ergeben.
Dafür braucht es ein Handelsabkommen zwischen EU und Türkei. Angemessene Überwachungs- und Sanktionsmaßnahmen könnten verhindern, dass türkische Zulieferer europäischer Unternehmen Arbeitsmigrant*innen ausbeuten. Die Zulieferer müssen das Recht auf Tarifverhandlungen und gewerkschaftliche Organisierung zwingend einhalten. Die Zusammenarbeit zwischen europäischen und türkischen Gewerkschaften kann dazu beitragen, Beschäftigte dieser Unternehmen zu organisieren.
Obgleich europäische Gewerkschaften im Hinblick auf die Krise anfangs eine progressive Haltung eingenommen hatten, blieben ihre Maßnahmen letztlich hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Polarisierung unter den Mitgliedern der türkischen Gewerkschaften lässt sich auch an ihrer Basis beobachten. Das Zögern der europäischen Gewerkschaftsbewegung könnte dem Kontinent aber einen noch größeren Schaden bescheren. Wenn europäische Gewerkschaften nicht aktiv werden, wird ein bedeutendes Thema im Bereich der Arbeitnehmerrechte zunehmend der migrationsfeindlichen Propaganda der extremen Rechten überlassen. Die Arbeiterbewegung kann ihren Weg nur mit internationaler Solidarität finden.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.