Bei der Bundestagswahl im Herbst könnten die Grünen erstmals stärkste Partei werden. Doch selbst wenn das nicht klappt, werden sie wohl die Politik der nächsten Bundesregierung wesentlich mitbestimmen und Deutschland verändern. Das können sie, weil sie aus ihren Fehlern gelernt haben.
Von Mark Leonard
Seit dem Mittelalter kennt man den Spruch "Grün ist die Hoffnung". Heutzutage ist die grüne Partei für viele Hoffnungsträger nach 16 Jahren unionsgeführter Bundesregierungen und zu viel Stagnation. DGB/dah
In den letzten 50 Jahren sind Deutschland drei Wunder widerfahren. Es hat auch seine Vergangenheit weitgehend bewältigt. Und es baute eine politische und wirtschaftliche Union auf, in der aus ehemaligen Feinden allmählich Freunde geworden sind. Doch nun zerfällt die bequeme Welt, die diese Wunder geschaffen hat, und lässt die CDU wie ein Reh gelähmt in Scheinwerferlicht starren.
Die Deutschen sind zu Recht stolz auf das, was sie erreicht haben, und nehmen nur ungern Lektionen von anderen Europäern an, insbesondere von denen, die sich eher schlecht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Doch in diesem entscheidenden Wahljahr kommt die von der scheidenden Kanzlerin Angela Merkel bevorzugte Methode des Durchwurstelns an ihre Grenzen. Da die CDU und ihre bayerische Schwesterpartei, die Christlich-Soziale Union (CSU), über Merkels Nachfolge im Grunde zerstritten sind, haben die Grünen plötzlich eine historische Chance.
Während die CDU/CSU ihre eigenen Wähler überstimmt hat, indem sie den neuen CDU-Chef Armin Laschet als Kanzlerkandidaten nominierte, kandidiert bei den Grünen ihre energische, 40-jährige Co-Chefin Annalena Baerbock. In einem Land, das zutiefst veränderungsresistent ist, verspricht Baerbock Reformen ohne Brüche, ja eine samtene Revolution. Im Programmentwurf der Grünen zur Bundestagswahl heißt es: "Wir werden manch gute Tradition auf neue Weise zum Tragen bringen, manch Neues begründen, manch Gewohntes ablösen, aber wir schaffen Sicherheit im Übergang."
Die Grünen haben es tatsächlich geschafft, sich zu wandeln. Vor nicht allzu langer Zeit galten sie als Verbotspartei, die vor allem dafür bekannt war, die Deutschen zu beschämen und sie über die Vorzüge des Vegetarismus zu belehren. Jetzt sind sie die Partei, die voller Optimismus für das steht, was Deutschland sein könnte. Statt zu fordern, dass die Deutschen ihren gewohnten Lebensstil aufgeben, versprechen die Grünen nun, Deutschland zu einer besseren Version seiner selbst zu machen, indem sie neue Wege zum Wohlstand eröffnen, um diejenigen zu ersetzen, bald überholt sein dürften.
Im Deutschen Ledermuseum von Offenbach ist dieses Paar weiße Turnschuhe ausgestellt, das Joschka Fischer am 12. Dezember 1985 bei seiner Vereidigung als hessischer Umweltminister trug. Der spätere Außenminister und Vizekanzler war der erste grüne Minister des Landes. DGB/ratopi/CommonsWikimedia
So stellen die Grünen eine grüne Industriepolitik vor, um Deutschlands wirtschaftliche Basis neu zu erfinden. Sie soll das Land in einer Welt wettbewerbsfähig machen, die sich von fossilen Brennstoffen verabschiedet. Wie mir die grüne Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner erklärt hat, lägen diesem Prozess Klima- und Digitalstrategien zugrunde. "Wenn wir diesen Zug nicht nehmen", warnt sie, "werden wir für ein verlorenes Wirtschaftsmodell stehen. Das alte Modell war großartig. Es ermöglichte uns, mit allen Handel zu treiben, viel Geld zu verdienen, ohne auch nur annähernd einen Beitrag zu unserer Sicherheit zu leisten. Es war großartig, kann aber leider nicht von Dauer sein."
Die Grünen haben verstanden, dass die deutsche Autoindustrie nur überleben kann, wenn sie sich auf emissionsfreie Autos konzentriert. Daher hat die Partei den Plan, Deutschland zu einem führenden Land in der Energiezellenproduktion zu machen. Sie will auch die gefährliche Abhängigkeit Deutschlands von Exporten nach China sowie von Erdöl- und Erdgasimporten aus Russland reduzieren. Zudem soll in Programme zur Förderung von Hightech-Start-ups und Cloud-Computing-Infrastruktur investiert werden.
Die Grünen haben zudem die traditionelle linke Skepsis gegenüber dem Patriotismus aufgegeben. Der Titel des Programmentwurfs der Grünen zur Bundestagswahl lautet daher: "Deutschland. Alles ist drin". Deutschland hat also alles, was es braucht, um sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.
In einem Telefoninterview betonte der ehemalige Parteivorsitzende Cem Özdemir die Notwendigkeit, sich mit Debatten über nationale Identität auseinanderzusetzen. „Angesichts von Zuwanderung und Globalisierung müssen wir eine Diskussion darüber führen, was es heißt, deutsch zu sein Es war ein Fehler, dass die Progressiven die Diskussion während der Flüchtlingskrise weitgehend ignoriert haben. Das hat anderen erlaubt, das Terrain zu übernehmen.” In krassem Gegensatz zur Vergangenheit verwenden die Grünen heute häufig Ausdrücke wie Heimat und diskutieren offen darüber, was die Vorstellung von Deutschsein erneuert werden kann.
In Sachen Europa wollen die Grünen weg von Merkels Politik des „Nein, Nein, Nein” und hin zu aktivem Engagement. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wies Baerbock kürzlich darauf hin, dass Deutschland nur dann eine starke Außenpolitik betreiben könne, wenn es mit den anderen Staaten Europas einvernehmlich handelt. Sie will mithelfen, eine Europäische Union aufzubauen, die souverän und ihren Werten verpflichtet handelt - auch im Verhältnis zu China.
"Heimat" heißt diese Aufnahme Boris Thaser aus dem Kunstprojekt "Zweisichtig", das er mit Tilo Schaffrik durchführte. Von Heimat sprechen auch die Grünen heute mehr als früher, allen voran Robert Habeck. DGB/Boris Thaser/Flickr
Brantner ihrerseits hofft, dass Deutschland die seiner Europapolitik zugrunde liegenden „zwei Generationenlügen“ überwinden kann. Die erste Lüge bestehe darin, dass sich Deutschland nur auf die Wirtschaft konzentrieren kann, während es Investitionen in die Sicherheit ignoriert: „Wir können nicht weiterhin mit allen Handel treiben, große Gewinne machen und hoffen, dass andere unsere Souveränität sichern. Wenn wir nicht mit allem einverstanden sind, was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagt, sollten wir unsere eigenen Ideen einbringen."
Die zweite Lüge ist, dass Europa ohne gemeinsame Investitionspolitik oder gemeinsames Budget eine gemeinsame Währung haben kann, indem man sich dabei einfach auf die Europäische Zentralbank verlässt. Brantner glaubt, dass es an der Zeit ist, "darüber in Deutschland eine echte Debatte zu führen". Die Grünen haben mittlerweile verstanden, dass Deutschlands Position nach Jahrzehnten des bemerkenswerten Erfolgs prekär geworden ist. Im Wettstreit zwischen China und Amerika droht die Globalisierung zurückgedrängt zu werden - und das in einer Zeit, in der dank der digitalen Revolution die traditionellen wirtschaftlichen Stärken Deutschlands an Bedeutung verlieren.
Darüber hinaus bietet Deutschlands bemerkenswerte Auseinandersetzung mit seiner eigenen Geschichte kein Modell für die Integration einer multikulturellen und religiös vielfältigen Bevölkerung. Auch haben mehrere aufeinanderfolgende Regierungen es versäumt, die deutsche Öffentlichkeit mit den Details der europäischen Politik vertraut zu machen. Das erschwerte es, Zustimmung zu jenen Maßnahmen auf EU-Ebene zu erlangen, die Deutschlands eigenen Interessen dienen würden.
Sigmund Freud berichtete einst von Patienten, der an seinem Erfolg zerbrach. Diese Beschreibung lässt sich auf das heutige Deutschland übertragen. In den Grünen könnte das Land allerdings genau das richtige Heilmittel gegen dieses Leiden gefunden haben. Es mag seltsam anmuten, dass eine Partei mit revolutionären Wurzeln und Ambitionen nun mit dem Versprechen vorsichtiger, ausgewogener Reformen ins Rennen um das Kanzleramt geht. Doch genau das passiert, wenn sich eine Partei ernsthaft regieren will, statt ewig Wahlkampf zu betreiben.
Bis zur Bundestagswahl im September kann noch viel passieren. Noch nie jedoch haben sich die Grünen aus einer so starken Position in einen Wahlkampf begeben.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier und Daniel Haufler / © Project Syndicate, 2021
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.