Nationalistische Populisten in westlichen Ländern konstruieren einen Gegensatz zwischen sozialem Ausgleich in den eigenen Staaten und der Notwendigkeit, ärmeren Ländern zu einem höheren Lebensstandard zu verhelfen. Doch den gibt es nicht. Die Ziele mögen widersprüchlich erscheinen, doch sie lassen sich beide erreichen.
Von Dani Rodrik
Was denken Studenten in Harvard, wem es besser geht: Armen in den USA oder Reichen in Nigeria? Der Ökononom Dani Rodrik fragt sie das jedes Jahr in seiner Vorlesung. DGB/Archiv
Zu Semesterbeginn im Herbst ärgere ich meine Studenten jedes Mal mit der einer Frage: Ist es besser, in einem reichen Land arm zu sein oder in einem armen Land reich? Diese Frage führt in der Regel zu einer umfassenden, aber ergebnislosen Diskussion. Doch können wir eine strukturiertere und begrenztere Version dieser Frage entwickeln, für die es eine eindeutige Antwort gibt.
Wir wollen dabei den Fokus auf das Einkommen verengen und davon ausgehen, dass die Menschen nur am eigenen Konsumniveau interessiert sind. Soziale Ungleichheit und andere gesellschaftliche Rahmenbedingungen bleiben dabei unbeachtet. "Reich" und "arm" beschreibt dabei die obersten und die untersten 5 Prozent der Einkommensverteilung. In einem typischen reichen Land erhalten die ärmsten 5 Prozent der Bevölkerung rund 1 Prozent des Volkseinkommens. Für arme Länder liegen deutlich weniger Daten vor, aber es so sein, dass die reichsten 5 Prozent dort circa 25 Prozent des Volkseinkommens erhalten.
Wir wollen zudem annehmen, dass das reiche Land zu den 5 Prozent der reichsten Länder gehört und das arme zu den 5 Prozent der ärmsten, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen. In einem typischen armen Land (wie Liberia oder Niger) beträgt dieses Einkommen rund 1.000 US-Dollar pro Jahr, verglichen mit 65.000 US-Dollar in einem typischen reichen Land (wie der Schweiz oder Norwegen). Diese Einkommen sind um Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten, also bei der Kaufkraft, bereinigt, so dass sie unmittelbar vergleichbar sind.
Wir können nun berechnen, dass ein reicher Mensch in einem armen Land ein Einkommen von 5.000 US-Dollar (1.000 Dollar x 0,25 x 20) hat, während ein armer Mensch in einem reichen Land 13.000 US-Dollar verdient (65.000 Dollar x 0,01 x 20). Gemessen am materiellen Lebensstandard geht es einem armen Menschen in einem reichen Land mehr als doppelt so gut wie einem reichen Menschen in einem armen Land.
Die globale Ungleichheit ist vor allem in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Auf diese Herausforderung müssen vor allem die reichen Länder reagieren. DGB/Dani Rodrik
Dieses Ergebnis überrascht meine Studenten; die meisten von ihnen hätten das Gegenteil erwartet. Wenn sie an reiche Menschen in armen Ländern denken, stellen sie sich Wirtschaftsmagnaten vor, die in Landhäusern leben – mit einer Entourage von Dienstboten und einer Flotte teurer Autos. Doch auch wenn es derartige Personen mit Sicherheit gibt, ist ein Repräsentant der obersten 5 Prozent in sehr armen Ländern eher ein Staatsangestellter der mittleren Verwaltungsebene.
Der wesentliche Punkt bei diesem Vergleich besteht darin, die Bedeutung von Einkommensunterschieden zwischen Ländern im Verhältnis zu den Ungleichheiten innerhalb von Ländern zu unterstreichen. Zu Beginn des modernen Wirtschaftswachstums vor der Industriellen Revolution beruhte die globale Ungleichheit fast ausschließlich auf der Ungleichheit innerhalb von Ländern. Die Einkommensunterschiede zwischen Europa und den ärmeren Teilen der Welt waren gering. Doch mit zunehmender Entwicklung des Westens im 19. Jahrhundert erlebte die Weltwirtschaft eine „große Divergenz“ zwischen dem industriellen Kern und der Primärgüter produzierenden Peripherie. Während eines großen Teils der Nachkriegszeit entfiel der größte Teil der globalen Ungleichheit auf die Einkommensunterschiede zwischen reichen und armen Ländern.
Ab den späten 1980er-Jahren begannen zwei Trends, dieses Bild zu verändern. Zum einen erreichten viele der rückständigen Regionen, angeführt von China, erstmals ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum als die reichen Länder. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde der typische Einwohner eines Entwicklungslandes schneller reicher als ein entsprechender Einwohner Europas oder Nordamerikas.
Zum anderen begann die Ungleichheit in vielen hochentwickelten Volkswirtschaften zuzunehmen, insbesondere in denen mit weniger regulierten Arbeitsmärkten und einem schwachen sozialen Netz. Der Anstieg der Ungleichheit in den USA war derart steil, dass der Lebensstandard eines "armen" Amerikaners heute nicht mehr eindeutig höher ist als der eines "Reichen" in den ärmsten Ländern – wobei wir reich und arm wie oben definieren.
Diese beiden Trends entwickelten sich, was die weltweite Ungleichheit im Allgemeinen angeht, in gegenläufige Richtungen: Einer verringerte sie, der andere verstärkte sie. Beide jedoch erhöhten den Anteil der Ungleichheit innerhalb von Ländern insgesamt und kehrten damit einen seit dem 19. Jahrhundert andauernden Trend um.
Trotz allen Bemühens um Bildung und großen Investionen bleibt die Armut in Ländern wie Nigeria ein großes Problem. Der Abstand zum Westen wächst, was immer wieder junge, gut ausgebildete Menschen ihr Glück jenseits der Heimat suchen lässt. DGB/Feije Riemersma/123rf.com
Angesichts der lückenhaften Datenlage können wir uns der jeweiligen Anteile der Ungleichheit innerhalb von und zwischen Ländern in der heutigen Weltwirtschaft nicht sicher sein. Doch in einem bisher unveröffentlichten Aufsatz, der auf Daten aus der World Inequality Database beruht, schätzt Lucas Chancel von der Paris School of Economics: bis zu drei Viertel der aktuellen weltweiten Ungleichheit könnten auf die Ungleichheit innerhalb von Ländern entfallen. Historische Schätzungen zweier anderer französischer Ökonomen, François Bourguignon und Christian Morrison, legen nahe, dass die Ungleichheit innerhalb von Ländern heute so groß ist wie seit dem späten 19. Jahrhundert nicht mehr.
Falls das zutrifft, hat die Weltwirtschaft eine wichtige Schwelle überschritten, die uns über unsere politischen Prioritäten nachdenken lassen muss. Lange Zeit haben Ökonomen wie ich selbst der Welt erzählt, dass die wirksamste Methode zur Verringerung der weltweiten Einkommensunterschiede darin bestünde, das Wirtschaftswachstum in einkommensschwachen Ländern zu steigern. Wohlhabende, gut ausgebildete Kosmopoliten in reichen Ländern konnten für sich in Anspruch nehmen, moralisch im Recht zu sein, wenn sie die Sorgen derjenigen herunterspielten, die sich über die landesinterne Ungleichheit beschwerten.
Doch wurde der Anstieg des populistischen Nationalismus überall im Westen teilweise durch das Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der Gerechtigkeit in den reichen Ländern und dem Ziel höherer Lebensstandards in den armen Ländern angeheizt. Denn wenn der Handel der hochentwickelten Volkswirtschaften mit einkommensschwachen Ländern wächst, vergrößert das die Lohnungleichheit dort. Die vermutlich beste Methode zur Erhöhung der Einkommen in der übrigen Welt bestünde darin, einen massiven Zustrom aus armen Ländern auf die Arbeitsmärkte der reichen Länder zu gestatten. Für die weniger gebildeten, schlechter bezahlten Arbeitnehmer in den reichen Ländern wäre das jedoch keine gute Nachricht.
Doch muss eine die landesinterne Gerechtigkeit betonende Politik der hochentwickelten Volkswirtschaften den Armen der Welt selbst im internationalen Handel nicht schaden. Eine Wirtschaftspolitik, die die Einkommen am unteren Rand des Arbeitsmarktes erhöht und wirtschaftliche Unsicherheit abbaut, unterstützt sowohl die landesinterne Verteilungsgerechtigkeit als auch die Erhaltung einer gesunden Weltwirtschaft, die den armen Volkswirtschaften eine Entwicklungschance bietet.
Aus dem Englischen von Jan Doolan / © Project Syndicate, 2019
DGB/Heiko Sakurai
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