Deutscher Gewerkschaftsbund

05.06.2023

Prozess gegen die Täter der Köpenicker Blutwoche: Nichts ist vergessen

Im Juni 1933 ermordeten SA-Leute 24 Menschen im Berliner Stadtteil Köpenick. Mehr als 300 Gewerkschafter*innen, Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen wurden brutal verfolgt und gefoltert. Erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde einigen Tätern der Prozess gemacht, andere konnten unbehelligt in Westdeutschland leben, wie Gunter Lange zeigt.

Mahnmal Köpenicker Blutwoche

DGB

Zum Jahreswechsel 1932/33 war die deutsche Arbeiterbewegung angesichts von mehr als fünf Millionen Arbeitslosen in einer Krise, und Adolf Hitler mit seiner NSDAP stand vor der Tür zur Macht. Otto Suhr, seinerzeit Wirtschaftsexperte beim Allgemeinen freien Angestelltenbund (nach 1945 Berliner Parlamentspräsident und Regierender Bürgermeister) war in der Silvesterausgabe der Berliner Volkszeitung gefragt worden, wie lange eine mögliche NSDAP-Regierung im Amt bleiben könnte. Suhrs Antwort: Zwölf Jahre. Wochen später war Hitler an der Macht. Die Spitze des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) um Theodor Leipart versuchte um des Überlebens willen, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Vergeblich. Am 2. Mai kam das Aus für die deutsche Gewerkschaftsbewegung, und der Terror gegen deren Akteure, bereits im Februar 1933 begonnen, weitete sich aus. Ein Beispiel ist die „Köpenicker Blutwoche“ im Juni 1933 mit 24 Ermordeten und weit über 100 durch Misshandlung und Folter Verletzten, darunter auch Frauen. Suhr lag mit seiner Prognose richtig. Nach zwölf Jahren NS-Diktatur wurde Deutschland 1945 von einer alliierten Streitmacht befreit.

Gegenblende - Debatten in Ihr Postfach

Jetzt den Gegenblende-Newsletter abonnieren. Aktuelle Debatten über Arbeit, Wirtschaft, Gesellschaft in der Transformation.

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen.

Juristische Aufarbeitung in Köpenick und Berlin

Und Köpenick? Der NS-Terror vom Juni 1933 war nicht vergessen. Eine erste Gedenkfeier für die Opfer fand am 24. Juni 1945 im Lichtspielhaus „Forum“ in der Parrisiusstraße statt. Im Jahr darauf riefen SPD, KPD und CDU gemeinsam die Köpenicker Bürger auf, sich der Justiz als Augenzeugen der NS-Verbrechen zur Verfügung zu stellen. Mit Erfolg, denn die juristische Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen konnte beginnen. Im Juni 1947 mussten sich vier SA-Angehörige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (nach Kontrollratsgesetz) vor der 1. Großen Strafkammer in Berlin-Moabit verantworten. Die Richter verhängten gegen zwei Angeklagte eine Haftstrafe von acht Jahren beziehungsweise 18 Monaten, ein Angeklagte entzog sich dem Verfahren durch Flucht, und eine Angeklagte wurde freigesprochen. In einem weiteren Prozess wurden 1948 zwei SA-Leute zu einer Haftstrafe von 15 Jahren und ein SA-Mann zu sechs Monaten verurteilt. Dieser Prozess war bereits überschattet von den ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges, der insbesondere in der damaligen Viermächte-Stadt Berlin ausgetragen wurde, auch auf dem Parkett der Gewerkschaften. Der Berliner SPD-Vorsitzende Franz Neumann hatte vor dem Hintergrund propagandistischer Schauprozesse in Ostdeutschland verbal Zeitzeugen attackiert, und das „Neue Deutschland“ der SED keilte zurück. Uneinig war man sich über die Zahl der Todesopfer und deren politischer Verortung, unzutreffend war man in der DDR über Jahrzehnte hinweg von 91 Mordopfern ausgegangen.

Nach der Gründung der beiden deutschen Teilstaaten 1949 und der faktischen Teilung Berlins in einen West- und einen Ostsektor erhob das Landgericht Berlin (Ost) 1950 Anklage gegen die maßgeblichen Akteure der „Köpenicker Blutwoche“. Der Hauptverantwortliche, der SA-Sturmbannführer Herbert Gehrke, galt als verstorben. Die Anklageschrift von Staatsanwalt Max Berger umfasste 350 Seiten, spiegelte in Zeugenaussagen die unvorstellbare Brutalität der SA-Männer in der Köpenicker Blutwoche wider und dokumentierte die Einlassungen aller Beschuldigten, sie seien nur an den Verhaftungen, nicht aber an den Folterungen und Misshandlungen beteiligt gewesen. Die 61 Angeschuldigten wurden angeklagt, in Berlin-Köpenick in der Zeit vom 20. bis 26. Juni 1933 „fortgesetzt und mit wechselnder Beteiligung gemeinschaftlich im bewußten Zusammenwirken, (…) a) als Täter oder als b) Beihelfer bei der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Verfolgung aus politischen Gründen, Mord, Folterung und Freiheitsberaubung – mitgewirkt oder es befohlen oder angestiftet – c) durch Zustimmung daran teilgenommen und d) mit Verbrechensplanung oder Ausführung im Zusammenhang gestanden oder e) einer Organisation oder Vereinigung, die mit der Verbrechensausführung im Zusammenhang stand, angehört zu haben.“ Berger bezog sich dabei auf das Gesetz des Alliierten Kontrollrats vom 20.12.1945 sowie die Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom 12.10.1946.

Täter in Ost und West

Das Verfahren gegen „Plönzke und andere“ bei der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin (Ost) lag in den Händen von Landgerichtspräsident Dr. Hans Ranke, SED-Mitglied und von 1957 bis 1965 stellvertretender Justizminister in der DDR. Angeklagt waren 61 Personen, davon 47 SA-Angehörige. Allerdings war es Generalstaatsanwalt Max Berger nur gelungen, 32 Angeklagte vor das Gericht bringen, bei den anderen war der Aufenthalt unbekannt, zumeist waren diese im Westen untergetaucht. Wilhelm Brockmann war zwar im März 1948 in Niedersachsen festgenommen worden, aber die Staatsanwaltschaft hatte die Auslieferung abgelehnt und die Freilassung angeordnet. Aufgrund eines Haftbefehles aus Berlin war am 1. März 1948 Gustav Erpel in Glinde bei Hamburg verhaftet und von der Justiz mit Genehmigung der britischen Militärregierung an das Gericht in Ost-Berlin ausgeliefert worden. Die meisten Angeklagten waren zwischen Januar 1948 und Mai 1949 verhaftet worden, ein Großteil von ihnen lebte bis dahin in Köpenick.

Den „Plönzke-Prozess“ begleitete für die Ostberliner „Tägliche Rundschau“ Rudolf Hirsch, 1933 aus Deutschland geflohen und 1949 zurückgekehrt aus Schweden in die DDR. Vom 6. bis zum 15. Juli 1950 berichtete er aus dem Gerichtssaal, beschrieb die Täter, die ihr Handeln in der „Köpenicker Blutwoche“ bestritten, verharmlosten oder Befehle und Gedächtnislücken vorschoben. Der Angeklagte Werner Rothkegel gab gar an, er sei von seinem SA-Scharführer mit vorgehaltener Pistole zum Prügeln gezwungen worden. Die meisten Zeugen der Anklage waren noch von den schweren Misshandlungen körperlich gezeichnet, Karl Schöpper fast blind, Bernhard Klappert auch an Krücken kaum gehfähig. Ihre Aussagen vor Gericht beschreiben das Grauen des SA-Terrors jener Tage.

Die Verteidiger der Angeklagten verwiesen dagegen auf die Autorisierung der SA als Hilfspolizisten durch Hermann Göring, zogen die Zeugenaussagen der Misshandelten in Zweifel, sprachen von „Gedächtniskünstlern“. Der Anwalt eines der Hauptbeschuldigten Friedrich Plönzke zeichnete von seinem Mandanten ein Bild eines verführten Opfers der Zeit.

Todesurteile und lange Haftstrafen

Das Gericht verhandelte jeden Einzelfall der Angeklagten zum Schuldbeweis und folgte am 19. Juli 1950 weitgehend den Anträgen des Generalstaatsanwalts Berger, sprach 16 Todesurteile aus, verurteilte elf der Angeklagten zu lebenslanger Haft, sechs zu 25 Jahren, zwei zu 20, acht zu 15, drei zu 12, fünf zu 10 und vier zu fünf Jahren Zuchthaus. Von den verhängten Todesurteilen wurden nach Ablehnung der Gnadengesuche sechs (Friedrich Plönzke, Erich Haller, Wilhelm Beyer, Gustav Erpel, Fritz Letz und Paul Thermann) am 20. Februar 1951 in Frankfurt/Oder mit dem Fallbeil vollstreckt. Angehörige dieser Verurteilten betrieben 1992 eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Begründung, es habe sich um einen stalinistischen Schauprozess gehandelt. Ohne Erfolg. Seit der Gründung der DDR 1949 bis 1981 wurden in der DDR 231 Todesurteile verhängt. Davon wurden 160 vollstreckt, 64 wegen NS-Verbrechen.

Zum Gedenken an die Opfer der „Köpenicker Blutwoche“ wurde 1969 ein Denkmal am Platz des 23. April errichtet. Seit 1987 erinnert im Gefängnisgebäude des Amtsgerichts Berlin-Köpenick eine Gedenkstätte an die Ereignisse der „Köpenicker Blutwoche“, deren zeitgeschichtliche Einordnung und der juristischen Aufarbeitung. Gedenktafeln, Stolpersteinen und Straßennamen erinnern in Köpenick an den NS-Gewaltexzess gegen Akteure der Arbeiterbewegung.

Mehr zur Köpenicker Blutwoche gibt es als kostenlosen Download unter: Heinrich-Wilhelm Wörmann: Widerstand in Köpenick und Treptow, Berlin 2010, 2. Auflage


Nach oben

Kurzprofil

Gunter Lange
Gunter Lange war langjähriger Redakteur von Gewerkschaftspublikationen (Deutsche Angestellten Gewerkschaft und Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) und ist jetzt als freier Autor tätig.
» Zum Kurzprofil

Meistgelesene Beiträge

Axel Hon­net­h: Der ar­bei­ten­de Sou­ve­rän
von Rudolf Walther
Arbeitnehmende und Demokratie
Midjourney / DGB
Transparente und fair geregelte Arbeitsteilung ist Voraussetzung für die Teilhabe an der demokratischen Willensbildung. So lautet die These des Sozialphilosophen Axel Honneth in seinem neuen Buch „Der arbeitende Souverän“. Eine Rezension von Rudolf Walther.
weiterlesen …

Yanis Varoufakis
Das Ban­ken­sys­tem ist ir­re­pa­ra­bel be­schä­digt
von Yanis Varoufakis
Skyline des Frankfurter Bankenviertels
DGB/Simone M. Neumann
Die momentane Bankenkrise ist schlimmer als die der Jahre 2007/2008. Damals konnten für den reihenweisen Kollaps der Banken noch Betrug im großen Stil, räuberische Kreditvergabe, Absprachen zwischen Rating-Agenturen und zwielichtige Banker verantwortlich gemacht werden. Der heutige Bankenkollaps um die Silicon Valley Bank hat damit nichts zu tun, erklärt Yanis Varoufakis und stellt seine Vorstellung für eine neue, "wunderbare Alternative" vor.
weiterlesen …

KI-For­scher: Künst­li­che In­tel­li­genz ist kein Zau­ber­trick
von Julia Hoffmann
Mind Domination-Konzept in Form von Frauen Umrisskontur mit Leiterplatte und binärem Datenfluss auf blauem Hintergrund
DGB/ryzhi/123rf.com
In verschiedenen Bereichen der Arbeitswelt sind KI-Anwendungen im Einsatz. Florian Butollo forscht zu den Auswirkungen der Technologie auf Beschäftigte und Arbeitsbedingungen. Im Interview spricht er über das Risiko für verschiedene Berufsbilder, überflüssig zu werden und die Erleichterung sowie mögliche Abwertung von Arbeit.
weiterlesen …

Long Co­vid und die Fol­gen: Vor al­lem Frau­en auf dem Ab­stell­gleis
von Christine Wimbauer, Mona Motakef, Franziska Jahn
Frau
Pexels
Etwa jede 10. mit Corona infizierte Person leidet unter Long Covid - also unter Symptomen, die länger als 4 bzw. 12 Wochen anhalten. Viele klagen über eine umfassende chronische Erschöpfung, die eine Rückkehr in das vormalige Leben unmöglich macht. Frauen im erwerbsfähigen Alter sind doppelt so oft betroffen wie Männer. Es ist höchste Zeit, die Krankheit auf die politische Agenda zu setzen.
weiterlesen …

Die Wirt­schaft­se­li­te und der Auf­stieg der NS­D­AP
von Prof. Dr. Paul Windolf
 Berlin 1934 - Sitz der Reichsgruppe Industrie
gemeinfrei / wikimedia commons / CC BY-SA 3.0
Die NSDAP ist zwischen 1928 und 1932 von einem obskuren politischen Verein zur stärksten Fraktion im Reichstag aufgestiegen – der bisher spektakulärste Aufstieg einer politischen Partei in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Doch wer hat diesen Erfolg finanziert?
weiterlesen …

Tarifrunde Öffentlicher Dienst 2023
War­nung vor Lohn-­Preis-Spi­ra­le ist öko­no­mi­scher Un­fug
von Dierk Hirschel
Zwei Miniaturfiguren Bauarbeiter und mehrere Stapel Münzen
DGB/Hyejin Kang/123rf.com
Die Gewerkschaften fordern 10,5 Prozent mehr Gehalt, mindestens aber 500 Euro, für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Warum die Forderung berechtigt ist und die Warnung vor einer Lohn-Preis-Spirale ökonomischer Unfug ist, erklärt ver.di-Chefökonom Dierk Hirschel.
weiterlesen …

Oliver Nachtwey und Caroline Amlinger
Staats­kri­tik und die Pa­ra­do­xi­en des Fort­schritts
Studie über Querdenken
von Caroline Amlinger, Oliver Nachtwey
Corona-Testzentrum mit Querdenken-Sprayer
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/
Der Soziologe Oliver Nachtwey und die Literatursoziologin Caroline Amlinger untersuchen in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ das Milieu der Querdenker und dokumentieren die Drift von vormals gefestigten Demokraten ins Autoritäre. Der Text ist ein Kapitel aus ihrem Werk und fasst die Ergebnisse der Studie zusammen.
weiterlesen …

Tho­mas Pi­ket­ty: Die Ge­schich­te der Gleich­heit
von Peter Kern
Ein Arbeiter im Sägewerk auf einer historischen Aufnahme
Flickr / Biblioteca de Arte / Art Library Fundação Calouste Gulbenkian CC BY-NC-ND 2.0
Nach liberaler Sicht baut das freie Spiel der Kräfte den individuellen Wohlstand auf und die gesellschaftliche Ungleichheit ab. Wie von selbst nehme diese Entwicklung ihren Lauf, vorausgesetzt, der Mechanismus der Konkurrenz funktioniere ungestört. Der französische Wirtschaftshistoriker Thomas Piketty formuliert in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Gleichheit die Gegenthese.
weiterlesen …

Grundsteuer
In­fla­tion: Die zwei­te Mie­te
von Thomas Gesterkamp
Skyline Frankfurt am Main
DGB/Felix Pergande/123rf.com
In den kommenden Jahren dürften die Wohnnebenkosten deutlich steigen, wegen hoher Energiepreise und der Neufestsetzung der Grundsteuer. Gravierende sozialpolitische Probleme zeichnen sich ab.
weiterlesen …

Gegenblende Podcast

Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

DGB/Heiko Sakurai

Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.

Unsere Podcast-Reihen abonnieren und hören.