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Im Juni 1933 ermordeten SA-Leute 24 Menschen im Berliner Stadtteil Köpenick. Mehr als 300 Gewerkschafter*innen, Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen wurden brutal verfolgt und gefoltert. Erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde einigen Tätern der Prozess gemacht, andere konnten unbehelligt in Westdeutschland leben, wie Gunter Lange zeigt.
DGB
Zum Jahreswechsel 1932/33 war die deutsche Arbeiterbewegung angesichts von mehr als fünf Millionen Arbeitslosen in einer Krise, und Adolf Hitler mit seiner NSDAP stand vor der Tür zur Macht. Otto Suhr, seinerzeit Wirtschaftsexperte beim Allgemeinen freien Angestelltenbund (nach 1945 Berliner Parlamentspräsident und Regierender Bürgermeister) war in der Silvesterausgabe der Berliner Volkszeitung gefragt worden, wie lange eine mögliche NSDAP-Regierung im Amt bleiben könnte. Suhrs Antwort: Zwölf Jahre. Wochen später war Hitler an der Macht. Die Spitze des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) um Theodor Leipart versuchte um des Überlebens willen, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Vergeblich. Am 2. Mai kam das Aus für die deutsche Gewerkschaftsbewegung, und der Terror gegen deren Akteure, bereits im Februar 1933 begonnen, weitete sich aus. Ein Beispiel ist die „Köpenicker Blutwoche“ im Juni 1933 mit 24 Ermordeten und weit über 100 durch Misshandlung und Folter Verletzten, darunter auch Frauen. Suhr lag mit seiner Prognose richtig. Nach zwölf Jahren NS-Diktatur wurde Deutschland 1945 von einer alliierten Streitmacht befreit.
Und Köpenick? Der NS-Terror vom Juni 1933 war nicht vergessen. Eine erste Gedenkfeier für die Opfer fand am 24. Juni 1945 im Lichtspielhaus „Forum“ in der Parrisiusstraße statt. Im Jahr darauf riefen SPD, KPD und CDU gemeinsam die Köpenicker Bürger auf, sich der Justiz als Augenzeugen der NS-Verbrechen zur Verfügung zu stellen. Mit Erfolg, denn die juristische Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen konnte beginnen. Im Juni 1947 mussten sich vier SA-Angehörige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (nach Kontrollratsgesetz) vor der 1. Großen Strafkammer in Berlin-Moabit verantworten. Die Richter verhängten gegen zwei Angeklagte eine Haftstrafe von acht Jahren beziehungsweise 18 Monaten, ein Angeklagte entzog sich dem Verfahren durch Flucht, und eine Angeklagte wurde freigesprochen. In einem weiteren Prozess wurden 1948 zwei SA-Leute zu einer Haftstrafe von 15 Jahren und ein SA-Mann zu sechs Monaten verurteilt. Dieser Prozess war bereits überschattet von den ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges, der insbesondere in der damaligen Viermächte-Stadt Berlin ausgetragen wurde, auch auf dem Parkett der Gewerkschaften. Der Berliner SPD-Vorsitzende Franz Neumann hatte vor dem Hintergrund propagandistischer Schauprozesse in Ostdeutschland verbal Zeitzeugen attackiert, und das „Neue Deutschland“ der SED keilte zurück. Uneinig war man sich über die Zahl der Todesopfer und deren politischer Verortung, unzutreffend war man in der DDR über Jahrzehnte hinweg von 91 Mordopfern ausgegangen.
Nach der Gründung der beiden deutschen Teilstaaten 1949 und der faktischen Teilung Berlins in einen West- und einen Ostsektor erhob das Landgericht Berlin (Ost) 1950 Anklage gegen die maßgeblichen Akteure der „Köpenicker Blutwoche“. Der Hauptverantwortliche, der SA-Sturmbannführer Herbert Gehrke, galt als verstorben. Die Anklageschrift von Staatsanwalt Max Berger umfasste 350 Seiten, spiegelte in Zeugenaussagen die unvorstellbare Brutalität der SA-Männer in der Köpenicker Blutwoche wider und dokumentierte die Einlassungen aller Beschuldigten, sie seien nur an den Verhaftungen, nicht aber an den Folterungen und Misshandlungen beteiligt gewesen. Die 61 Angeschuldigten wurden angeklagt, in Berlin-Köpenick in der Zeit vom 20. bis 26. Juni 1933 „fortgesetzt und mit wechselnder Beteiligung gemeinschaftlich im bewußten Zusammenwirken, (…) a) als Täter oder als b) Beihelfer bei der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Verfolgung aus politischen Gründen, Mord, Folterung und Freiheitsberaubung – mitgewirkt oder es befohlen oder angestiftet – c) durch Zustimmung daran teilgenommen und d) mit Verbrechensplanung oder Ausführung im Zusammenhang gestanden oder e) einer Organisation oder Vereinigung, die mit der Verbrechensausführung im Zusammenhang stand, angehört zu haben.“ Berger bezog sich dabei auf das Gesetz des Alliierten Kontrollrats vom 20.12.1945 sowie die Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom 12.10.1946.
Das Verfahren gegen „Plönzke und andere“ bei der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin (Ost) lag in den Händen von Landgerichtspräsident Dr. Hans Ranke, SED-Mitglied und von 1957 bis 1965 stellvertretender Justizminister in der DDR. Angeklagt waren 61 Personen, davon 47 SA-Angehörige. Allerdings war es Generalstaatsanwalt Max Berger nur gelungen, 32 Angeklagte vor das Gericht bringen, bei den anderen war der Aufenthalt unbekannt, zumeist waren diese im Westen untergetaucht. Wilhelm Brockmann war zwar im März 1948 in Niedersachsen festgenommen worden, aber die Staatsanwaltschaft hatte die Auslieferung abgelehnt und die Freilassung angeordnet. Aufgrund eines Haftbefehles aus Berlin war am 1. März 1948 Gustav Erpel in Glinde bei Hamburg verhaftet und von der Justiz mit Genehmigung der britischen Militärregierung an das Gericht in Ost-Berlin ausgeliefert worden. Die meisten Angeklagten waren zwischen Januar 1948 und Mai 1949 verhaftet worden, ein Großteil von ihnen lebte bis dahin in Köpenick.
Den „Plönzke-Prozess“ begleitete für die Ostberliner „Tägliche Rundschau“ Rudolf Hirsch, 1933 aus Deutschland geflohen und 1949 zurückgekehrt aus Schweden in die DDR. Vom 6. bis zum 15. Juli 1950 berichtete er aus dem Gerichtssaal, beschrieb die Täter, die ihr Handeln in der „Köpenicker Blutwoche“ bestritten, verharmlosten oder Befehle und Gedächtnislücken vorschoben. Der Angeklagte Werner Rothkegel gab gar an, er sei von seinem SA-Scharführer mit vorgehaltener Pistole zum Prügeln gezwungen worden. Die meisten Zeugen der Anklage waren noch von den schweren Misshandlungen körperlich gezeichnet, Karl Schöpper fast blind, Bernhard Klappert auch an Krücken kaum gehfähig. Ihre Aussagen vor Gericht beschreiben das Grauen des SA-Terrors jener Tage.
Die Verteidiger der Angeklagten verwiesen dagegen auf die Autorisierung der SA als Hilfspolizisten durch Hermann Göring, zogen die Zeugenaussagen der Misshandelten in Zweifel, sprachen von „Gedächtniskünstlern“. Der Anwalt eines der Hauptbeschuldigten Friedrich Plönzke zeichnete von seinem Mandanten ein Bild eines verführten Opfers der Zeit.
Das Gericht verhandelte jeden Einzelfall der Angeklagten zum Schuldbeweis und folgte am 19. Juli 1950 weitgehend den Anträgen des Generalstaatsanwalts Berger, sprach 16 Todesurteile aus, verurteilte elf der Angeklagten zu lebenslanger Haft, sechs zu 25 Jahren, zwei zu 20, acht zu 15, drei zu 12, fünf zu 10 und vier zu fünf Jahren Zuchthaus. Von den verhängten Todesurteilen wurden nach Ablehnung der Gnadengesuche sechs (Friedrich Plönzke, Erich Haller, Wilhelm Beyer, Gustav Erpel, Fritz Letz und Paul Thermann) am 20. Februar 1951 in Frankfurt/Oder mit dem Fallbeil vollstreckt. Angehörige dieser Verurteilten betrieben 1992 eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Begründung, es habe sich um einen stalinistischen Schauprozess gehandelt. Ohne Erfolg. Seit der Gründung der DDR 1949 bis 1981 wurden in der DDR 231 Todesurteile verhängt. Davon wurden 160 vollstreckt, 64 wegen NS-Verbrechen.
Zum Gedenken an die Opfer der „Köpenicker Blutwoche“ wurde 1969 ein Denkmal am Platz des 23. April errichtet. Seit 1987 erinnert im Gefängnisgebäude des Amtsgerichts Berlin-Köpenick eine Gedenkstätte an die Ereignisse der „Köpenicker Blutwoche“, deren zeitgeschichtliche Einordnung und der juristischen Aufarbeitung. Gedenktafeln, Stolpersteinen und Straßennamen erinnern in Köpenick an den NS-Gewaltexzess gegen Akteure der Arbeiterbewegung.
Mehr zur Köpenicker Blutwoche gibt es als kostenlosen Download unter: Heinrich-Wilhelm Wörmann: Widerstand in Köpenick und Treptow, Berlin 2010, 2. Auflage
DGB/Heiko Sakurai
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