Deutscher Gewerkschaftsbund

01.12.2016

Grundsicherung nicht diskreditieren, sondern weiterentwickeln

Der Sozialstaat steht sich selbst im Weg, kritisiert der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes Georg Cremer. Das Hilfenetz des Sozialstaats sei nur ungenügend auf die Prävention sozialer Notlagen ausgerichtet. Er fordert eine Politik der Armutsprävention.

In der öffentlichen Debatte gilt die Zahl der Empfänger von Hartz IV und der Grundsicherung im Alter als wichtiger Armutsindikator. Es wird argumentiert: Je höher diese Zahl, desto schiefer die soziale Lage des Landes. Allerdings hängt dieser Indikator davon ab, wie gut oder knauserig unser Sicherungssystem ist. Daraus ergeben sich argumentative Fallstricke, die in der Debatte zu sozialer Sicherung und Armut sehr häufig nicht beachtet werden.

Frau hält Geldbeutel mit einer Münze in der Hand

DGB/Yulia Grogoryeva/123rf.com

Das zeigt sich beispielhaft an der Grundsicherung im Alter. Erinnern wir uns: Sie wurde 2003 von der Rot-Grünen Koalition eingeführt und hat die Hilfe für arme alte Menschen sehr verbessert. Denn der Rückgriff auf das Einkommen der Kinder, der bis dahin in der Sozialhilfe erfolgte, wurde faktisch aufgehoben. Sehr viele arme Alte hatten bis dahin keine ergänzende Sozialhilfe beantragt, um ihnen Kindern nicht zur Last zu fallen. Es gab also in weit höherem Maße als heute verdeckte Armut. Nach 2003 stieg die Zahl der Grundsicherungsempfänger im Alter deutlich an, die verdeckte Armut ging zurück. Doch genau dieser Anstieg wurde den Politikern als Versagen des Sozialstaats um die Ohren gehauen.

Gleiches würde passieren, wenn Hartz IV erhöht würde. So schlägt der Deutsche Caritasverband auf Grundlage seiner Berechnungen vor, den Regelbedarf um 60 bis 80 Euro zu erhöhen. In der Konsequenz würden erheblich mehr Beschäftigte in Teilzeit oder mit Niedriglöhnen ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten und damit als Hartz IV-Empfänger zählen. Es wäre falsch, dann aber wieder Skandal zu rufen. Für Politiker ist es extrem unattraktiv Hilfen auszubauen, wenn sie dann das Risiko tragen, mit geringer zeitlicher Verzögerung verbalen Angriffen ausgesetzt zu sein, die Zahl der Hartz-IV-Bezieher und damit die Armut habe in ihrer Regierungszeit zugenommen. Denn natürlich wäre eine Erhöhung der Hilfe nicht der Weg in die soziale Kälte, sondern ein sehr wichtiger Schritt dahin, dass die Grundsicherung Armut nicht nur bekämpft, sondern auch überwinden kann.

Es gibt weiterhin verdeckte Arme, Personen also, die Anspruch auf ergänzende Transferleistungen haben, diese aber nicht beantragen, sei es aus Scham oder Unwissenheit. Damit sollten wir uns nicht abfinden, der Sozialstaat muss in der gebotenen Weise über soziale Rechte informieren und aufklären.

Die Grundsicherung stellt das unterste soziale Netz dar. Wie oft es in Anspruch genommen werden muss, hängt auch davon ab, wie straff die vorgelagerten Sicherungsnetze gespannt sind. Wer im Niedriglohnsektor arbeitet und seinen eigenen Lebensunterhalt sichern kann, sollte nicht zum Jobcenter müssen, weil er Kinder hat. Um das zu verhindern, gibt es den Kinderzuschlag. Aber dieses sinnvolle Instrument hat Konstruktionsmängel. Er sollte zu einer verlässlichen einkommensabhängigen Kindergrundsicherung weiterentwickelt werden, die auch Alleinerziehende einbezieht.

Auch die Grundsicherung im Alter müssen wir weiterentwickeln. Derzeit beziehen etwas über 3 Prozent der Menschen im Rentenalter Grundsicherungsleistungen. Dieser Anteil wird sich möglicherweise bis 2030 verdoppeln. Er wird aber nicht die Dimensionen erreichen, die der WDR in einer methodisch irrwitzigen Bierdeckelrechnung vor kurzem verkündet hat. Wir sollten die Grundsicherung im Alter nicht diskreditieren, denn sie kann weit zielgerichteter Armut bekämpfen als Änderungen im Rentensystem. Aber niemand sollte der Dumme sein, wenn er für das Alter spart. Wer nur eine Rente unterhalb der Grundsicherung im Alter erwarten kann, hat unter den heutigen Bedingungen nichts davon, ergänzend privat für sein Alter vorgesorgt zu haben. Um das zu ändern, darf ihm nicht alles, was er sich mühsam erspart hat, durch die Anrechnung bei der Berechnung der Höhe der Grundsicherung wieder abgenommen werden. Abhilfe kann eine Freibetragsregelung schaffen, wie wir sie heute bereits bei Hartz IV kennen. Sonst hilft die staatliche Förderung genau denen nicht, die am dringendsten auf sie angewiesen sind.

"Ein Bildungssystem, das den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg nicht überwindet, ist nicht zukunftstauglich."

Aber Armutspolitik muss mehr sein als die faire und kluge Ausgestaltung von Transfersystemen (so unverzichtbar diese sind). Wir brauchen eine Politik der Armutsprävention. Es gibt in Deutschland einen starken Sozialstaat, ein ausgebautes Bildungssystem, vielfältige Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, differenzierte Beratungsdienste, ein gutes medizinisches System, eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Es gibt somit ein ausgebautes Netz, das Menschen dabei beisteht, wenn sie Unterstützung brauchen. Die größte Herausforderung für die Armutspolitik ist es, den Sozialstaat auf Befähigung auszurichten.

Ein Bildungssystem, das den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg nicht überwindet, ist nicht zukunftstauglich. Wieviel Potential hier verschenkt wird, zeigen die großen Unterschiede zwischen den Regionen. Eine deutliche Senkung der Zahl der Kinder, die in der Schule scheitern, ist keine Utopie. Sie wäre bereits erreicht, wenn in allen Städten und Kreisen in Deutschland das Maß an Bildungserfolgen gelänge, das sich anderenorts schon als machbar erwiesen hat. Auch müssen wir uns nicht damit abfinden, dass ein Fünftel der Jugendlichen die Schule mit nur sehr geringer Lesekompetenz verlässt. Dies ist ein Treibsatz für Armut und sozialen Ausschluss.

Das Hilfenetz des Sozialstaats ist nur ungenügend auf die Prävention sozialer Notlagen und die Befähigung der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet. Der Sozialstaat steht sich selbst im Weg. Hierzu ein Beispiel:

Für eine Jugendliche, die in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe aufwächst, ist die kommunale Kinder- und Jugendhilfe zuständig. Zieht sie dort mit der Volljährigkeit aus, erstmal ohne Perspektive auf Ausbildung oder Arbeit, wird sie vom Jobcenter unterstützt. Findet sie einen Ausbildungsplatz und ist sie dann auf Berufsausbildungsbeihilfe angewiesen, erhält sie diese von der Arbeitsagentur. Bekommt sie während der Ausbildung ein Kind, ist für die ergänzende Unterstützung für ihr Kind nun wieder das Jobcenter zuständig. Wenn sie wohngeldberechtigt ist, muss sie sich zudem an die kommunale Wohngeldbehörde wenden. In diesem eher alltäglichen Beispiel befassen sich Mitarbeitende von vier Behörden in wechselnden Zuständigkeiten mit der Jugendlichen und ihrer Lebenslage. Für ihre Entscheidungen sind sie häufig auf wechselseitige Informationen angewiesen. Was die junge Frau unseres Beispiels bräuchte, wäre ein Ansprechpartner, der ihre Situation kennt, zu dem sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann und der sie unabhängig von der wechselnden Rechtskreiszuordnung beim Prozess ihrer Verselbständigung unterstützt. Das Problem wurde mittlerweile von der Politik erkannt, die politischen Hürden zu einer Neuordnung der Zuständigkeiten sind allerdings extrem hoch. Konflikte über die Finanzierungsverantwortung verhindern auch neue Ansätze der Hilfe, auch wenn alle von ihrer Wirksamkeit überzeugt sind, die direkten Mehrkosten gering wären und sie mittelfristig sogar zu Einsparungen führten.

"Die stärker befähigende Ausrichtung unserer Bildungs- und Sozialpolitik muss Kern der Armutspolitik sein."

Die insgesamt erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik hat es bisher nicht vermocht, diejenigen zu erreichen, die den verfestigten Kern der Langzeitarbeitslosigkeit bilden. So wichtig die Qualifizierung und Vermittlung für den regulären Arbeitsmarkt ist, dies darf nicht die einzige Zielorientierung sein. Die Sicherung der Teilhabe muss als eigenständiges Ziel der Arbeitsmarktpolitik gesetzlich verankert werden. Denn wer viele Jahre außerhalb des Arbeitsmarktes stand, hat es auch mit bester Förderung schwer, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er braucht Angebote in einem sozialen Arbeitsmarkt, die sich an bescheideneren Zielen orientieren. Es muss verhindert werden, dass immer wieder zu dem verhärteten Kern der Langzeitarbeitslosigkeit hinzustoßen. Eine Bildungspolitik, die die Potentiale aller Kinder und Jugendlichen erschließt, eine bessere Kooperation zwischen Schule und Ausbildungssystem, und eine stärker präventive Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe können dem vorbeugen. Nur dann werden wir erreichen, dass bei einer guten Beschäftigungssituation alle gewinnen können.

Die stärker befähigende Ausrichtung unserer Bildungs- und Sozialpolitik muss Kern der Armutspolitik sein. Die Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen erhöht noch einmal die Dringlichkeit, mit der hier zu handeln ist.


Georg Cremer: Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln. Erschienen im September 2016. C.H. Beck (16,95 Euro)


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Kurzprofil

Georg Cremer
Professor Dr. Georg Cremer ist seit dem Jahr 2000 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Sozialpolitik, soziale Dienste, Arbeitsmarkt, Korruptionskontrolle und Entwicklungspolitik.
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