Mit dem Inflation Reduction Act (IRA) wollen die USA die Inflation bekämpfen. Doch das Vorhaben ist tückisch für Europa: Ausschließlich amerikanische Unternehmen sollen Vergünstigungen erhalten. Nun will die EU-Kommission zurück-subventionieren. Regina Viotto über Industriepolitik und die Untiefen des europäischen Beilhilferechts.
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Im August 2022 verabschiedete der US-Kongress ein gigantisches Investitions- und Subventionspaket namens Inflation Reduction Act. Im Zentrum der Initiative steht der Klimaschutz. Die amerikanische Regierung wendet Milliarden Dollar auf, um ihre Wirtschaft auf CO2-Neutralität umzustellen. Von den insgesamt ca. 430 Milliarden Dollar des Gesamtpakets sollen rund 370 Milliarden für den Klimaschutz ausgegeben werden, und zwar in Form von Subventionen, Steuersenkungen und Darlehen. In der EU ist man alarmiert angesichts des Vorhabens, obwohl das amerikanische Engagement zur Bekämpfung des Klimawandels an sich ein Grund zur Freude ist. Grund für die Besorgnis ist die protektionistische Ausgestaltung des Pakets. Ausschließlich amerikanische Unternehmen sollen die Vergünstigungen erhalten – die EU fürchtet um ihre Wettbewerbsfähigkeit, konkret darum, dass europäische Unternehmen in die USA abwandern. Die hohen Energiepreise sowie die Aussicht auf Vergünstigungen könnten zum Wegzug motivieren.
Die Reaktion soll nun darin bestehen, „zurückzusubventionieren.“ Die EU will eigene Branchen bzw. Unternehmen, die klimafreundliche Technologien bzw. Produkte herstellen, mehr als bisher staatlich unterstützen. „Wir müssen unsere Antwort geben, unseren europäischen IRA“, ließ sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dazu vernehmen.
Doch bei diesem Vorhaben gibt es ein nicht unwesentliches Problem: die Europäischen Grundlagenverträge verbieten Beihilfen für Unternehmen im Grundsatz. In der zentralen Vorschrift heißt es, dass staatliche Beihilfen verboten sind, die den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Diese Voraussetzungen wurden in der Vergangenheit von der Kommission und vom EuGH weit ausgelegt – es reichte in der Regel aus, dass ein Unternehmen vom Staat beispielsweise Zuschüsse oder Steuererleichterungen und dadurch einen wirtschaftlichen Vorteil erhält, den es unter normalen Marktbedingungen nicht bekommen hätte.
Eine Wettbewerbsverfälschung und eine Beeinträchtigung des Handels müssen nicht tatsächlich vorliegen, sondern nur dem Grunde nach denkbar sein. Allerdings existieren auch Ausnahmen vom Verbot. So sind bestimmte Beihilfen (immer) erlaubt, u. a. solche zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige „außergewöhnliche Ereignisse“ (z. B. die Coronapandemie) entstanden sind. Darüber hinaus können weitere Ausnahmen zugelassen werden, wenn die EU-Kommission es erlaubt, z. B. Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interessen (wie die Förderung von Wasserstofftechnologie) oder zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftslebens eines Mitgliedstaats.
Hier hat die EU einen Ermessensspielraum. Nationalstaatliche Beihilfen müssen grundsätzlich von der Kommission genehmigt und bei ihrem Veto zurückgenommen werden – auch dies bestimmen „die Verträge“, das sogenannte Europäische Primärrecht. Da dieses in der Praxis nicht alle Fälle regeln kann, gibt es darüber hinaus weitere Regelungen, wie Verordnungen, Richtlinien, Leitlinien etc. (Sekundärrecht). Hier hat die EU-Kommission das Beihilfeverbot immer weiter gelockert. Bestimmte Gruppen von Beihilfen wie z. B. geringfügige Zuwendungen (in der Regel unter 200.000 Euro über 3 Jahre), für KMU oder für Ausbildungsbelange werden als erlaubt angesehen, die Anmeldepflicht bei der Kommission entfällt.
Zudem hat die Kommission als Reaktion auf die diversen Krisen der letzten Jahre die Ausnahmen immer weiter ausgedehnt. Die Weichen für diese Wende wurden bereits in der Bankenkrise 2008 gestellt, in der massive staatliche Zuwendungen in Europa den Zusammenbruch des Bankensystems verhinderten. Die Bankenkrise weitete sich zur Finanz – und Eurokrise aus. Die nächste Krise folgte dann mit der Coronapandemie. Als Reaktion hierauf verabschiedete die Kommission einen „Befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19.“ Betroffene Unternehmen konnten bis 800.000 Euro Beihilfe bekommen. Der Krieg in der Ukraine ab Februar 2022 führte ebenfalls zu Änderungen, z. B. wurden Beihilferegelungen zur Beschleunigung des Ausbaus von erneuerbaren Energien ausgeweitet, um dem Ziel der Energieunabhängigkeit schneller näher zu kommen.
Angesichts dieser Entwicklungen kann man sich fragen, wieviel eigentlich vom ursprünglichen EU-Beihilfe-Verbot noch übrig ist. Die Ausnahmeregelungen haben in einem Maße zugenommen, dass sie faktisch schon eher die Normalität abbilden. Das rechtliche Verbot hat sich durch die (Krisen-)Wirklichkeit überholt. Die Menschheitsaufgabe „Bekämpfung des Klimawandels“ erfordert eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft und kann nur mit staatlicher Unterstützung gelingen. Dies hat sogar die marktaffine US-Regierung erkannt und den IRA erlassen.
Anfang Februar 2023 hat die Kommission den „Green Deal Industrial Plan“ (GDIP) vorgestellt – die europäische Antwort auf den amerikanischen IRA. Unter anderem sollen Investitionen in „grüne“ Technologien in dreistelliger Milliardenhöhe fließen, finanziert durch einen europäischen Souveränitätsfonds. Hierfür wird wahrscheinlich ein neues EU-Verschuldungs-Programm notwendig werden, was nach den EU-Verträgen ebenfalls nicht unproblematisch ist. Zudem sollen die Beihilferegelungen ein weiteres Mal gelockert und Genehmigungsverfahren gekürzt werden. Details werden im Sommer 2023 verkündet. Dies alles ist Teil des European Green Deals – ein Maßnahmenpaket, mit dem die EU Klimaneutralität bis 2050 erreichen will. Natürlich wird von konservativer Seite zum Teil die „Aufweichung des Beihilferechts“ beklagt und vor weiteren Schulden gewarnt, aber diese Stimmen sind leiser geworden. Durchgesetzt hat sich die Erkenntnis, dass die Mammutaufgabe, eine klimaneutrale Wirtschaft zu erreichen, nur durch eine starke Industriepolitik, zu der auch grüne Subventionen gehören, zu erreichen ist. Insofern ist die Ausweitung der Ausnahmen zum Beihilfeverbot zu begrüßen. Der Wortlaut der Europäischen Verträge lässt dies zu. So heißt es: „Die Union und die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Union gewährleistet sind.“ Anpassungen der Industrie an strukturelle Änderungen sollten erleichtert werden. Mit dem geplanten Programm ist die EU auf einem guten Weg dahin – Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit werden hier nicht gegeneinander ausgespielt, sondern gehen Hand in Hand.
Bei allem Zuspruch zu den Maßnahmen wäre es nichtsdestotrotz konsequent, die Europäischen Verträge einer Änderung zu unterziehen. Statt eines grundsätzlichen Verbots mit Ausnahmen wäre eine Umkehrung des Verhältnisses denkbar: Beihilfen wären im Grundsatz erlaubt, allerdings mit Ausnahmen bzw. Einschränkungen. Dies würde der Realität mehr entsprechen – ist allerdings aufgrund des Erfordernisses der Einstimmigkeit bei 27 EU-Staaten auch nicht besonders realistisch.
DGB/Heiko Sakurai
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