In Frankreich ziehen die Gewerkschaften geeint wie selten gegen die geplante Rentenreform auf die Straße. Rudolf Walther skizziert die Lage im Nachbarland.
Flickr / French Embassy in the U.S. (CC BY-NC 2.0)
Für sozialpolitische Reformen hat Präsident Emmanuel Macron definitiv kein politisches Gespür. Den ersten Versuch zu einer Rentenreform musste er nach Demonstrationen und Protesten im ganzen Land im Winter 2019/2020 abrupt absagen und in seine zweite Amtszeit verlegen.
Diese verknüpfte er 2022 schon in seiner Wahlkampagne damals mit dem Vorhaben einer Rentenreform im Dienst der Haushaltssanierung, was ihm letztlich den Wahlsieg gesichert hatte. Dem energischen Widerstand der „Gelbwesten“, die ihren Protest gegen Kaufkraftverluste ab dem Sommer 2022 u.a. durch die gestiegenen Benzinpreise im Sommer artikulierten, begegnete Macron mit dem Gesetz zur Kaufkraftsicherung, um den Militanten den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Das Gesetz sah Steuersenkungen vor, die sich schnell als Mogelpackungen herausstellten, um Reallohnsteigerungen oder Anpassungen an die 1982 unter Präsident Mitterrand abgeschaffte flexible Lohnskala zu vermeiden. Erhebliche Defizite im Bildungs- und Gesundheitswesen erklären sich auch aus der Schieflage dieser Reform und die dadurch mitverursachte Schrumpfung der Reallöhne beim Krankenhaus- und Lehrpersonal im öffentlichen Dienst in den letzten 10 Jahren um fast 20 Prozent.
Diese „Reform“ sah nämlich steuerfreie Prämien von 3000 Euro vor, deren Wert durch die Inflation geschmälert wurden und durch den Auszahlungsmodus über die Unternehmen obendrein nur etwas mehr als der Hälfte der knapp 30 Millionen Beschäftigten in vollem Umfang zugute kamen. Dem ohnehin hoch verschuldeten Staatshaushalt entgingen dadurch nebenher rund 8 Milliarden Euro an Steuern, die dann fehlten für eine angemessene Entlohnung der Staatsangestellten im Bildungs- und Gesundheitswesen. Dafür bemüht man sich jetzt, den katastrophalen Lehrermangel mit schlecht oder nur notdürftig dafür qualifizierten Quereinsteigern zu überbrücken – zum Nachteil von Kindern von Einwanderern.
Die Erhöhung der Mindestrente auf 1200 Euro und das Versprechen für körperliche Schwerstarbeiter eine frühere Verrentung vorzusehen, konnte die Wut über die Erhöhung des Rentenalters von 62 Jahren auf 64 Jahre nicht besänftigen, denn die frühe Rente gehört für den französischen Citoyen zu den ganz selbstverständlichen und unverrückbaren sozialstaatlichen Errungenschaften (Acquis) wie für den deutschen Beamten die faktisch lebenslängliche Beschäftigung, die Privilegierung als Privatpatient in der Krankenversicherung, die Besitzstandsgarantie und die beitragsfreie Pension statt der staatlich organisierten Rente.
Eine Änderung sozialstaatlicher Errungenschaften gilt in Frankreich als ein Frontalangriff auf den Sozialstaat wie er seit den Reformen Mitterrands von 1982 in Kraft ist. Das musste bereits der konservative Premier Alain Juppé 1995 erleben mit seiner gescheiterten Rentenreform, mit der 42 Teilsysteme in der Rentengesetzgebung zu einem homogenen System für alle vereinheitlicht werden sollten. Umfragen mit Zustimmungswerten für den französischen Sozialstaat um die 80 Prozent belegen das auch heute noch nachdrücklich. Gewerkschaften und die linke Opposition profitieren davon ebenso, wie die überaus populäre Zustimmung zu Streiks und gegen Angriffe auf den Sozialstaat. Dessen Verteidigung denunziert die konservative Presse hierzulande dagegen gerne als „Vollkaskopolitik“ und „Rentenparadies“ oder ganz pauschal als „Ausdruck einer verstörenden französischen Realitätsflucht“.
Macrons zweiter Anlauf für eine Rentenreform wird für den Präsidenten, der längst als „lame Duck“ gilt, zur ultimativen Prüfung seiner Glaubwürdigkeit in seiner zweiten Amtszeit, weil Mehrheiten in der Nationalversammlung unwahrscheinlich und in der Bevölkerung so aussichtslos geworden sind wie die Chancen für eine Wiederwahl im Jahr 2027. Für den ersten Aktionstag gegen die Rentenreform am 19. Januar warteten die zersplitterten Gewerkschaften mit einer seit Jahrzehnten nicht mehr für möglich gehaltenen Premiere auf und entschlossen sich zu einer Aktionseinheit von über 200 Gewerkschaftsverbänden von unterschiedlicher Größe und politischem Gewicht, darunter die acht größten und kampferprobtesten.
Zur Überraschung reihten sich auch der stärkste moderate, auf Dialog eingestellte Verband und eine als radikal geltende Gewerkschaft ein. Beide scheren sonst immer aus der Einheit aus: So traten die CFDT unter Laurent Berger und „Rail Sud“ mit Jacques Béraud an der Spitze – in die Einheitsfront mit der ehemals kommunistischen Gewerkschaft CGT ein – also trotz deren unverwüstlichen Generalsekretär Philippe Martinez. Von den Gewerkschaften angekündigt wurde ein „Erdbeben“ sowie ein zweiter Aktionstag für den 31. Januar. Besonders hart trifft die „Reform“ Beschäftigte in Schichtarbeit mit entsprechend unregelmäßigen Dienstzeiten, die bislang Sonderregelungen (régimes spéciaux) unterworfen waren. Diese sollen jetzt abgeschafft werden wie die für Pariser Métrofahrer, die mit 52 Jahren in Rente gingen, aber zukünftig bis 64 durchhalten müssen, trotz Sonderbelastungen wie der Arbeit im Dunkeln in engen Kabinen. Betroffen von dieser Änderung sind auch Pfleger und Krankenschwestern. An beiden Aktionstagen war die Mobilisierung von Aktivisten, nicht nur unter den bisher Sonderregelungen Unterworfenen, besonders hoch.
Die von Innenministerium, Polizei, Veranstaltern und Medien veröffentlichten Zahlen der insgesamt Demonstrierenden sind zwar notorisch unzuverlässig: Aber selbst die Frankreichkorrespondenten der FAZ – gewerkschaftlicher Sympathien gewiss eher unverdächtig – meldeten für den 31. Januar immerhin 1,27 Millionen Demonstrierende für ganz Frankreich bzw. 87.000 für Paris, mit allerdings steigender Tendenz des Widerstands sowie der Sympathien für die Streikenden in der Bevölkerung. Dies wird auch durch die Volksfeststimmung beim jüngsten Aktionstag in den urbanen Zentren belegt.
Nach dem Erfolg der beiden ersten Aktionstage kündigten die Gewerkschaften zwei neue an für den 7. und den 11. Februar. Jetzt läuft der Konflikt auf ein ultimatives Kräftemessen zwischen Gewerkschaften, Regierung und Präsident hinaus. Wobei Regierung und Präsident vor einer aussichtslosen Alternative stehen: einen Rekurs auf den Artikel 49/3 der Verfassung, die eine Entscheidung am Parlament vorbei zulässt, oder ein politisches Arrangement, mit dem der konservativen Opposition neue Konzessionen gemacht würden. Die Entscheidung für den Artikel 49/3 schwächte die Premierministerin Elisabeth Borne gegenüber dem Parlament, die zweite die Position des Präsidenten Macron, der die Reform zu seiner Sache gemacht hat. Die Lage spitzt sich noch zu, weil ein sozialstrukturelles Defizit diese verschärft: in Frankreich liegt die Quote der Beschäftigten zwischen 54 und 64 Jahren niedrig, womit erhebliche Teile der über 55-Jährigen nur von der Rente leben müssten: „Wenn man die Beschäftigungsquote für diese Altersgruppe spürbar erhöht, ist dieses Systemdefizit weg,“ erklärte Laurent Berger, der Generalsekretär der CFDT im Interview mit „Le Monde“ am 30.Januar.
Macron kündigte trotzdem schon seine neuen Baustellen an, nämlich Ökologie und Bildung. Er sieht sich mit seinem Sprecher Frédéric Michel zusammen schon als „Bauherren der Zukunft“ und die Premierministerin Elisabeth Borne erklärte jüngst stolz: „Es liegt in unserer Verantwortung, die Zukunft vorzubereiten.“
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.