Deutscher Gewerkschaftsbund

01.11.2022
Stadionbau Fussball WM 2022

Katar: Dribbeln für mehr Arbeitsrechte

Im Vorfeld der WM ist es internationalen Bau-Gewerkschaften gelungen, bessere Bedingungen für einen kleineren Teil der Wanderarbeiter in Katar durchzusetzen. Nun soll ein Arbeitszentrum helfen, dass neue Gesetze auch breiter umgesetzt werden.

Fussball WM in Katar: Mehrere Arbeiter machen Pause

Wikimedia Commons / Alex Sergeev / CC BY-SA 3

Aus der Fernsehsessel-Perspektive scheint ein Boykott der Fußball-WM in Katar angemessen: Korrupte Fifa, ein Land ohne Parlament und ausgebeutete Wanderarbeiter, die in Gluthitze Stadien bauen und dabei nicht selten sterben. Auch die Bau- und Holzarbeiter-Internationale (BHI) zeigte der Fifa die rote Karte, nachdem sie den Wüstenstaat zum Austragungsort des Mega-Sportevents erkoren hatte. Heute aber spricht sich BHI-Vize-Präsident Dietmar Schäfers ganz klar gegen einen Boykott aus: Das würde sämtliche Fortschritte gefährden und den Arbeitern in Katar die Möglichkeit rauben, zunehmend selbst für ihre Interessen zu kämpfen.

„Etwas verändern zu wollen ist manchmal wie ein Ritt auf der Rasierklinge“, bilanziert Schäfers den Prozess der vergangenen Jahre. Wo es keine Rechte gibt, gilt es Spielräume zu schaffen. Dafür bleibt nichts übrig, als die Anliegen und Wünsche einflussreicher Player zu kennen, sie geschickt zu nutzen und so die Situation Schritt für Schritt ein Stück in Richtung der eigenen Ziele zu verschieben.

Katar verletzte Übereinkommen gegen Zwangsarbeit

Drei Jahre nach der Fifa-Entscheidung plante eine BHI-Delegation erstmals eine Reise in den Wüstenstaat am Persischen Golf. Schäfers und einige Kollgeg*innen wollten sich selbst ein Bild machen von dem Land, das deutlich kleiner ist als Schleswig-Holstein und von einem absoluten Monarchen regiert wird. Der Emir protzt mit Glaspalästen, Kunsthallen und Sportstätten und lässt seine etwa 300.000 Landsleute am Reichtum aus den Öl- und Gasvorkommen teilhaben. Das Pro-Kopf-Einkommen in Katar liegt weltweit fast an der Spitze, die medizinische Versorgung ist exzellent, auch Hilfsbedürftige werden großzügig unterstützt. Die Arbeit verrichten fast ausschließlich 2,7 Millionen Menschen aus Nepal, Bangladesch, Indien und Pakistan. Sie rackern zu Niedriglöhnen auf gigantischen Baustellen, entladen Schiffe, putzen, servieren, fahren Taxi. Wie in anderen arabischen Ländern waren Migrant*innen auch in Katar dem Kafala-System unterworfen. Dabei kassiert der Arbeitgeber als „Sponsor“ die Pässe ein. Selbst wenn er seine Beschäftigten misshandelt kann er verhindern, dass sie sich andere Arbeitsplätze suchen oder ausreisen. Katar verletze das Übereinkommen gegen Zwangsarbeit, argumentierte die BHI und beklagte sich deshalb bei der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO).

WM Katar Stadionbau: Life-Pressekonferenz auf Al Jazeera

Arbeitsministerium und WM-Organisationskomitee SC in Doha wollten die Gewerkschafter*innen nun nicht mehr empfangen. Die aber flogen trotzdem hin – und bekamen dann doch ein staatliches Besuchsprogramm offeriert. „Sie haben uns gut gesicherte Baustellen und anständige Unterkünfte für die Bauarbeiter vorgeführt“, berichtet Schäfers. Nachts machten er und ein schwedischer Kollege sich selbständig und besichtigten eine andere Realität: Auf engstem Raum zusammengepfercht lebten Dutzende von Männern, für die es trotz brütender Hitze nur eine einzige schmutzige Dusche gab. „Wir haben Unterkünfte gesehen, wo ich keinen Hund unterbringen würde“, fasst der Gewerkschaftsfunktionär zusammen. Auch die Essensversorgung sei katastrophal gewesen. Und dann machte die Gruppe eine Erfahrung, mit der niemand gerechnet hatte. Einer rief beim staatlichen Nachrichtensender Al Jazeera an – und tatsächlich konnten die internationalen Gewerkschafter*innen ihre Beobachtungen und Forderungen vor der Abreise in einer Life-Pressekonferenz vortragen.

Gewerkschaften kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen beim Stadionbau

Was jetzt begann war ein langwieriger Prozess auf unterschiedlichen Ebenen. Ziel der BHI war und ist es, die Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten in Katar spürbar zu verbessern. Weil der Emir sein Land gerne als fortschrittlich darstellen will und außerdem weitere sportliche Großereignisse akquirieren möchte, erschien die Fokussierung auf die Stadionbauten als guter Hebel. Schließlich interessiert sich die ganze Welt dafür, wo am 4. Advent die erfolgreichste Fußballmannschaft aufs Treppchen steigt. Dabei arbeiten hier nur etwa 30.000 Menschen – während es in Katars gesamter Baubranche 900.000 Beschäftigte gibt.

Katar Stadionbau: Regelmäßige Inspektionen

Dass die Zuschauer*innen die WM nicht sofort mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung bringen, liegt im Interesse von Sponsoren wie Adidas und Coca Cola – und damit der Fifa. Schon wenige Monate nach dem Besuch der Gewerkschafter*innen veröffentlichte das SC einen Standard für das „Wohlergehen der Arbeiter“ beim Stadionbau. Seit 2016 finden regelmäßig Inspektionen statt, bei denen internationale Expert*innen für Gesundheits- und Arbeitsschutz dabei sind. Weil das Thermometer im Sommer oft über 45 Grad anzeigt, setzten sie die Einrichtung von Abkühlräumen durch. Zudem gibt es auf den Baustellen inzwischen gewählte Sprecher*innen, die direkt oder online kontaktiert werden können. „Die unmittelbaren WM-Baustellen haben einen hohen Standard“, sagt Schäfers, der alle paar Monate nach Katar reist. Auch bei einigen internationalen Baufirmen, die andere Gebäude oder Infrastrukturen errichten, gebe es wenig zu beanstanden. Das bestätigt Betriebsrat Michael Tomitz von Porr. Der Konzern baut eines der Stadien sowie eine 36 Kilometer lange U-Bahn-Linie. „Die Unterkünfte für die 3000 Arbeiter sind besser als das, was wir hier in Österreich haben,“ erzählt Tomitz. Es gäbe der jeweiligen Kultur entsprechendes Essen und regelmäßige Heimflüge. Allerdings verdienten die Arbeiter lediglich 400 Euro im Monat und hätten eine Sechs-Tage-Woche.

Bauarbeiter in Katar auf einer Baustelle

Rund 2,7 Millionen Menschen aus Nepal, Bangladesch, Indien und Pakistan arbeiten in Katar. flickr / ILO / Apex Image / by nc nd 2.0

Nach einer BHI-Klage bei der OECD nahm die Fifa Menschenrechtsschutz in ihre Statuten auf – wichtig für künftige WM-Vergaben. In Katar ist das Kafala-System seit 2017 offiziell abgeschafft, seit zwei Jahren können Wanderarbeiter den Arbeitgeber wechseln. Ein Fonds wurde eingerichtet, der bei Pleiten ausstehende Lohnzahlungen übernimmt und seit März 2021 gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Der beträgt 274 Dollar und wird oft durch 220 Dollar für Kost und Logis aufgestockt. „Ein extrem reiches Land wie Katar sollte sich für solche Beträge eigentlich schämen“, sagt Frank Zach vom DGB, der für internationale Gewerkschaftspolitik zuständig ist. Trotzdem sind all das Fortschritte: Kein anderes Land in der Region hat vergleichbare Regelungen – und sie gelten für sämtliche Beschäftigte in Katar inklusive der Hausangestellten.

Arbeitsbedingungen vor WM in Katar: In der Praxis wenig Verbesserungen

Allerdings sind Gesetze und ihre Umsetzung nicht dasselbe. „Der Wandel kam auf dem Papier, aber in der Praxis hat sich nichts geändert,“ äußerte ein Wachmann gegenüber Amnesty. Auch Vani Saraswathi von Mirgant-Rights.org schreibt: „Halten die Arbeitgeber die Mindeststandards nicht ein, werden sie dafür kaum oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen.“ Obwohl das Arbeitsministerium durchaus im Sinne der Beschäftigten agiert, fürchten viele Migrant*innen die Reaktionen ihrer Arbeitgeber. Ihre Familien sind dringend auf Überweisungen angewiesen; in Nepal beruht ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts auf im Ausland verdienten Löhnen.

WM Katar: Tote werden fast nie untersucht

Hinzu kommt, dass es für sämtliche Baustellen in Katar gerade einmal 200 staatliche Kontrolleure gibt – lächerlich wenig. So ist Lohndiebstahl weit verbreitet, Todesfälle werden fast nie untersucht. Viele Unternehmen führen die Kafala-Praxis einfach fort und setzen darauf, dass sich nach der WM alle Arbeitsrechte zurückdrehen lassen.

Genau das wollen internationale Gewerkschafter mit aller Kraft verhindern. „Die positiv eingeleiteten Reformen müssen einfach viel schärfer kontrolliert werden und nachhaltig wirken“, so Schäfers. Deshalb informiert die BHI die gewählten Beschäftigtenvertretungen über die Beschwerdeverfahren und organisiert Versammlungen, wo sich Bauarbeiter, Security-Beschäftigte und Hotel-Personal mit ihren jeweiligen Landsleuten austauschen. Wichtigstes Ziel bis zur WM ist ein von Migrant*innen geführtes Zentrum für Wanderarbeiter*innen – ein sicherer Ort, wo es Beratung, Bildung und Raum für Selbstorganisation gibt. Hierfür erwartet die BHI Unterstützung von der FIFA, ihren Sponsoren und auch vom DFB. Das langfristige Ziel ist klar: Echte Gewerkschaften in Katar.


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Kurzprofil

Annette Jensen
ist seit 1998 als freie Journalistin und Publizistin. Sie schreibt vor allem über ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit.
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