Deutscher Gewerkschaftsbund

22.02.2023
Ein Jahr Krieg in der Ukraine

Ein furchtbarer Jahrestag und kein Ende in Sicht

Vor einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen. Der Angriffskrieg hat unsagbares Leid über die Menschen gebracht. Frank Hoffer analysiert die aktuelle Situation und zeigt, warum die Gewerkschaften ihre Stimmen für globale Gerechtigkeit und Solidarität erheben sollten.

Friedenstaube auf farbigem Hintergrund

DGB via Canva

Tod, Zerstörung, Vergewaltigungen, Plünderungen – die russische Armee führt einen rücksichtslosen Krieg gegen die Ukraine. Die Führung im Kreml zögert nicht, ihre eigenen jungen Menschen, schlecht ausgerüstet und kaum ausgebildet, zu Hunderttausenden in den sicheren Tod zu schicken. Es ist nicht nur ein Verbrechen an der Ukraine und ihrer Bevölkerung, sondern auch an den jungen Menschen in Russland. Am Jahrestag dieses Krieges ist kein Ende der Zerstörungen, des Leids und der Verwüstungen in der Ukraine in Sicht. Das stattdessen jetzt Waffenlieferungen für 2024 und 2025 geplant werden müssen, damit die Ukraine sich gegen die russische Aggression wehren kann, ist gleichzeitig geboten und schrecklich.

Die Hilfe für Geflüchtete, die Sanktionen gegen Russland und die Wirtschafts- und Finanzhilfe für die Ukraine muss fortgesetzt werden, auch wenn sie viele Milliarden kosten. Doch das im Moment Entscheidende ist die militärische Unterstützung - so bitter es für alle ist, die wollen, dass die Waffen lieber heute als morgen schweigen. Russland muss auf dem Schlachtfeld gestoppt und zurückgedrängt werden.

Die Zeitenwende verlangt auch von einer Gewerkschaftsbewegung, zu deren DNA der Kampf gegen die Wiederbewaffnung, die Forderung nach Abrüstung und Entspannung und das Suchen nach Verhandlungslösungen gehört, eine Neubetrachtung festgefügter Gewissheiten. In einer Debatte, in der polemisch von Herrn „Nützenicht“ und „Frau Flak-Zimmermann“ gesprochen wird und Panzerlieferungen mit Leopard-Emojis begrüßt werden, können Gewerkschaften mit ihrer vielschichtigen Mitgliedschaft helfen, über Antworten auf die schwierige Lage ernsthaft zu debattieren.

Viel Solidarität, aber keine uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine

In der komplexen geopolitischen Lage gibt es keine einfachen Lösungen, selbst wenn es keine Frage ist, wer Aggressor und wer Opfer ist. Angesichts der Bedrohung und des ukrainischen Leids fordert die Ukraine verständlicherweise uneingeschränkte Solidarität als das moralische Gebot der Stunde. Jede Unterstützung unterhalb des militärisch maximal Möglichen wird aus dieser Perspektive als unzureichend kritisiert. Doch trotz aller moralischen Solidaritätsbekundungen gibt es in der harten Realität unterschiedliche Beurteilungen, welche Unterstützung sinnvoll und verantwortbar ist. Die Divergenz zwischen den Hilfsforderungen der Ukraine und der Hilfsbereitschaft des Westens zeigt, dass es viel Solidarität, aber keine uneingeschränkte Solidarität gibt.

In Deutschland mehren sich die Stimmen, dass sich unsere europäischen Partner eine stärkere deutsche Führungsrolle wünschen und wir diese Verantwortung trotz unserer Geschichte wahrnehmen müssen. So richtig mag man allerdings nicht glauben, dass im Lichte historischer Erfahrungen, aber auch der Antagonismen innerhalb der EU und der schrillen antideutschen Wahlkampfrhetorik in manchen Nachbarländern ernsthaft eine deutsche Führung gewollt wird. Vielmehr wünschen sich alle wohl eher, dass Deutschland sein Potential in den Dienst der jeweilig eigenen Zielvorstellungen stellt.

Im Rahmen der Zeitenwende braucht es daher dringend eine gesellschaftliche Diskussion über die politische Prioritäten Deutschlands im Spannungsverhältnis zwischen expansivem Autoritarismus, europäischer Geopolitik, sicherheitspolitischer Angewiesenheit auf die USA, wirtschaftlichen Interessen, gerechtem Völkerrecht und Menschenrechten. Sowohl für die Zukunft unserer Gesellschaft als auch für die Nachhaltigkeit der Solidarität mit der Ukraine wird es dabei entscheidend sein, dass die Kosten für die wohl unabweisbare Steigerung der Rüstungsausgaben und die gebotene Hilfe für die Ukraine überdurchschnittlich von denen getragen werden, die über die entsprechenden Einkommen und Vermögen verfügen. Die Gewerkschaften würden nicht nur die Interessen ihrer Mitglieder schützen, sondern auch einen wichtigen Beitrag für eine nachhaltige Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und den Ukrainier*innen, die bei uns Zuflucht gesucht haben, leisten, wenn eine soziale Schieflage bei den finanziellen Belastungen verhindert werden kann.

Die bedachten Töne des Bundeskanzlers man wolle „führen durch zusammenführen“ und seine Ablehnung, alleine vorweg zu marschieren, tragen dem in Deutschland selbst, aber auch in Europa tiefsitzendem Unbehagen an deutscher Führung Rechnung. Zusammenführen verlangt auch die Position potentieller Partner außerhalb des europäischen und nordamerikanischen Orbits zu verstehen, wenn Russland isoliert werden soll. Insbesondere da jedem bewusst ist, dass auch die westliche Führungsmacht und ihre Verbündeten nicht immer die eigenen Interessen dem Gebot des Völkerrechts und der Menschenrechte untergeordnet haben. Die bestenfalls zögerliche Unterstützung durch viele Länder des Südens erklärt sich auch daraus, dass der Irakkrieg, Guantanamo und Abu Ghraib völkerrechtswidrig waren. Menschenrechte fanden weder bei Russland- und Chinageschäften noch bei der Eingliederung von Ländern des Südens in globale Lieferketten über Jahrzehnte kaum Beachtung. Noch frisch und bitter ist vielen Regierungen auch die fehlende Impfstoffsolidarität der reichen Länder während der Covid-Krise im Gedächtnis.

Rüstungsgüter machen die Ukraine stärker

Kriege enden keineswegs immer am Verhandlungstisch. Historisch enden die meisten durch Sieg oder Niederlage. Wenn dieses Ergebnis dann noch am Verhandlungstisch bestätigt wird, waren es dennoch nicht friedensstiftende Überlegungen, sondern die Gewalt auf dem Schlachtfeld, die den Krieg beendete. Oft wurden allerdings längst verlorene Kriege noch jahrelang fortgesetzt, weil die verlierende Seite die Anerkennung der Niederlage mehr fürchtete als die Fortsetzung des Krieges und ein Verhandlungsausweg lange nicht gefunden wurde.

Gegen den Mut der Ukraine und die entschlossene Solidarität der Nato-Staaten kann der russische Präsident Wladimir Putin nach Expertenmeinung diesen Krieg nicht mehr gewinnen, aber er hat zweifelsfrei die Kraft den verlorenen Kampf fortzusetzen. Die westlichen Rüstungsgüter werden die Ukraine mit jedem Tag stärker machen. Die Sanktionen und die vielen Toten machen Russland schwächer. Diese Einsicht dürfte, wenn nicht Putin, so doch manch anderem im Kreml klar sein und möglicherweise auch die aus russischer Sicht bittere Erkenntnis, dass Russland nur über eine Niederlage den Weg zurück in die internationale Staatengemeinschaft finden kann.

Die putinsche Aggression darf keinen Erfolg haben. Aber gleichzeitig muss alles versucht werden, um zu einem schnellstmöglichen Frieden zu kommen. Der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte der Vereinigten Staaten Mark Milley sieht sowohl eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass Russland die Ukraine besetzen kann als auch, dass die Ukraine Russland vollständig aus ihrem Land vertreiben könnte. Soweit möglich, wäre es mit langen und sehr verlustreichen Kämpfen verbunden. Folgt man dieser Einschätzung würden Gespräche und Verhandlungen ohne den vorherigen vollständigen Abzug russischer Truppen beginnen müssen. Die umfassenden westlichen Sanktionen wären dann ein zentrales Instrument, damit bei einem Waffenstillstand der aktuelle Frontverlauf nicht der endgültige Grenzverlauf ist. Der massive, nicht militärische, Druck muss auch nach einem Waffenstillstand bestehen bleiben, um den Verhandlungsdruck auf Russland aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig benötigt die Ukraine jetzt und langfristig massive Aufbauhilfe damit sie sich als demokratischer, freier und sozialer Gegenentwurf erfolgreich von dem ökonomisch, kulturell und politisch gescheiterten Putinregime abheben kann.

Bittere Situation mit schlimmen Optionen

Ob allerdings auf dem Verhandlungsweg der sofortige russische Abzug erreicht werden kann, der militärisch nicht erreichbar scheint, ist fraglich. Manchmal stehen Regierungen vor der bitteren Situation, zwischen schlimmen Optionen wählen zu müssen. Das zentrale, und nicht von der Hand zu weisende Argument der Verhandlungsskeptiker, ist die fehlende Bereitschaft Putins über etwas unterhalb seiner Maximalforderungen, einschließlich der Annektierung der vier ukrainischen Oblaste zu verhandeln. In seiner Rede am 21. Februar hat er noch einmal betont, dass Russland bis zum Sieg weiter Tod und Vernichtung in die Ukraine bringen wird. Aber auch die moralische Unmöglichkeit mit jemanden, der wegen Kriegsverbrechen angeklagt gehört, am Verhandlungstisch zu sitzen und das fehlende Vertrauen, dass ein Vertrag mit Putin das Papier wert wäre, auf dem es stünde, stehen Verhandlungen entgegen.

Viele Menschen in der Ukraine sähen Putin sicherlich lieber verhaftet und bestraft, denn als Gegenüber am Verhandlungstisch. Aber für die Konfliktlösung ist, wenn die Kapitulation nicht erzwungen werden kann, das Verhandeln mit Schurken unvermeidlich. Das begründete fehlende Vertrauen kann nur durch Hochrüstung, Abschreckung und Sicherheitsgarantien für die Ukraine kompensiert werden. Solange – und das liegt aus heutiger Sicht in weiter Ferne – es keinen stabilen Frieden mit Russland gibt, bedarf ist, wo auch immer am Ende der Kriegshandlungen die Demarkationslinie verlaufen wird, einer hochgerüsteten ukrainischen Armee und klarer westlichen Sicherheitsgarantien.

Aber was und wer könnte Putin bewegen, überhaupt zu verhandeln? Fehlende Erfolge und hohe Verluste auf dem Schlachtfeld, die wirtschaftlichen und militärischen Folgen der Sanktionen, eine weitere internationale politische Isolierung und eine wachsende Unzufriedenheit gegen den Krieg und die vielen Toten im Russland selbst, sind komplementäre Faktoren die zusammenwirken müssen, um ein Umdenken bei Putin zu erzwingen. Unzufriedenheit und Widerstand in Russland zu unterstützen, sollte dabei nicht vernachlässigt werden. Über 200.000 junge Menschen haben das Land fluchtartig verlassen, weil sie in diesem Krieg nicht kämpfen wollen. Trotz aller Propaganda gibt es in Russland keinen massenhaften Hurrapatriotismus, sondern es herrscht wohl oft ein sich dem unvermeidlichen Schicksal ergebener Fatalismus. Und es gibt die wenigen Mutigen, die auch in diesen gefährlichen Zeiten nicht schweigen. Ziel muss es sein, Russland zu isolieren und gleichzeitig Russ*innen zu informieren und zu ermutigen, sich dem Krieg zu verweigern. Es gilt alle Wege der Kommunikation mit kritischen Menschen in Russland aufrechtzuerhalten, um ihnen zu helfen die Kraft zu entwickeln, sich von Putin zu befreien. Für Gewerkschaften heißt dies, die Solidarität und Zusammenarbeit insbesondere mit den unabhängigen Gewerkschaften aus Belarus und Russland, die Putin und den Krieg nicht unterstützen und deswegen zum Teil im Gefängnis sitzen, fortzusetzen und zu vertiefen.

Stimme für globale Gerechtigkeit und Solidarität: Die Rolle der Gewerkschaften

Wer könnte auf diplomatischer Ebene Putin an einen Verhandlungstisch bringen, wo über die Beendigung der Aggression verhandelt wird, anstatt einen aussichtlosen Krieg fortzusetzen? Aus dem westlichen pro-ukrainischen Lager hat, wenn überhaupt, nur die USA das notwendige Gewicht. Möglicherweise könnten die großen Länder des Südens hier eine Rolle spielen, wenn sie bereit wären, um des global dringend benötigen Friedens willen, Russland zu signalisieren, dass sie ihre faktisch eher prorussische Neutralität aufgeben werden, wenn Russland sich einer Verhandlung über die Beendigung der Aggression verweigert.

Will der Westen Länder wie Südafrika, Brasilen und Indien gewinnen, werden Appelle nicht reichen. Es geht darum das Völkerrecht und eine regelbasierte internationale Ordnung einzuhalten und Regeln zugunsten des strukturell benachteiligten Südens zu ändern. In der globalen Auseinandersetzung zwischen autoritären Gesellschaften und liberalen Demokratien wird der reiche Westen seine Politik gegenüber dem Süden ändern müssen, wenn er dem Osten Paroli bieten will.

Gewerkschaften können hier international als Stimme für globale Gerechtigkeit und Solidarität eine wichtige eigenständige Rolle spielen, damit es bei globalen Allianzen mehr um Freiheit, Gerechtigkeit und Werte und weniger um Macht und Interessen geht.


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Kurzprofil

Frank Hoffer
ist Associate Fellow der Global Labour University und lehrt an der Global Labour University Online Academy.
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Gegenblende Podcast

Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

DGB/Heiko Sakurai

Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.

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