Gegenblende - Debatten in Ihr Postfach
Jetzt den Gegenblende-Newsletter abonnieren. Aktuelle Debatten über Arbeit, Wirtschaft, Gesellschaft in der Transformation.
Längere Ladenöffnungszeiten, mehr Privatisierungen, niedrigere Arbeitskosten und geringere Sozialleistungen, der Katalog an wirtschaftsfreundlichen Forderungen aus liberal-konservativen Kreisen ist lang. Die Wissenschaftler Kai Eicker-Wolf und Patrick Schreiner haben in ihrem Buch 101 Wirtschaftsmärchen unter die Lupen genommen. Sie zeigen, wem die neoliberalen Legenden um Ökonomie, Arbeit und Soziales vor allem nützen.
DGB / midjourney
Von Kai Eicker-Wolf und Patrick Schreiner
Als Sozialminister Hubertus Heil im Spätsommer ankündigte, dass das so genannte Bürgergeld (Hartz IV) zum Jahresanfang 2024 um 12 Prozent ansteigen werde, war der Aufschrei groß. Das Lohnabstandsgebot sei so nicht mehr gewahrt, und der Sozialstaat dürfe Nichtarbeit nicht noch mehr alimentieren. Aussagen wie diese wabern regelmäßig durch die politische Debatte.
Es waren insbesondere Finanzminister Christian Lindner und CDU-Chef Friedrich Merz, die wieder einmal in die Kerbe vom notwendigen Lohnabstand schlugen. Was sie damit meinten: Sozialleistungen müssten ausreichend hinter den niedrigsten Löhnen zurückbleiben, sonst rechne sich Arbeit nicht mehr. Gegen derlei Behauptungen ließe sich einiges einwenden: Etwa, dass Bürgergeld keineswegs nur Erwerbslosen zusteht. Vielmehr können auch Niedriglohnbeschäftigte damit ihren Lohn aufstocken. Wenn das Bürgergeld steigt, gibt es daher mehr anspruchsberechtigte Beschäftigte. Oder dass Arbeitende mit geringen Einkommen weitere Leistungen erhalten können, beispielsweise das Wohngeld. Wer diese Leistungen ergänzend zur Erwerbsarbeit in Anspruch nimmt, hat fast immer ein höheres Einkommen als jemand, der nicht arbeitet. Vor allem aber blenden Lindner und Merz aus, dass sich der Lohnabstand schlicht durch höhere Löhne und einen höheren Mindestlohn vergrößern lässt. Ja mehr noch: Höhere Sozialleistungen für Erwerbslose sind ein Anreiz, schlecht bezahlte Arbeit nicht anzunehmen – und schaffen daher bei den Arbeitgebern einen Anreiz, niedrige Löhne anzuheben.
Insbesondere letzteres dürfte ein Grund dafür sein, dass Arbeitgeber und Unternehmen für niedrige Sozialleistungen für Erwerbslose plädieren. Und jene in Politik und Wissenschaft, die ihnen nahestehen, tun es ihnen gleich. Solche Positionen resultieren damit unmittelbar aus dem grundlegendsten Interessengegensatz in einer kapitalistischen Gesellschaft, dem zwischen Kapital und Arbeit. Wer Produktionsmittel besitzt und andere für sich arbeiten lässt, hat wenig gemein mit jemandem, der nur seine Arbeitskraft verkaufen kann. Dieser Interessengegensatz erklärt, weshalb Arbeitgeber & Co. eben jene Forderungen erheben, die sie erheben. Er erklärt die blinden Flecken in ihrer Darstellung (im genannten Beispiel etwa, dass sie nicht thematisieren, dass keineswegs nur Erwerbslose Bürgergeld erhalten.) Er erklärt aber auch, weshalb sie die Wirklichkeit so wahrnehmen, wie sie es eben tun.
Und nicht zuletzt erklärt er, weshalb es von Behauptungen wie der oben beschriebenen so viele gibt, die in den politischen Debatten zudem regelmäßig wiederkehren. Sei es die vorgebliche Überlegenheit von Märkten gegenüber politischer Festlegung, die angebliche Notwendigkeit flexibler Arbeitsmärkte, die vermeintliche Schädlichkeit staatlicher Verschuldung, der angebliche Segen freier Finanzmärkte oder der vorgebliche gesellschaftliche Nutzen des Egoismus: Die meisten solcher „Wirtschaftsmärchen“ lassen sich im Kern auf den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital zurückführen.
Häufig spielt dabei die betriebswirtschaftliche Sicht jener Kapital-nahen Akteurinnen und Akteure eine zentrale Rolle. Sie sehen die Welt, wenn man so möchte, aus einer Frosch- statt einer Vogelperspektive. Und sie tun sich entsprechend schwer damit, zwischen einer individuell-betrieblichen und einer gesellschaftlich-allgemeinen Ebene zu unterscheiden. Ein anderes Wirtschaftsmärchen mag dies verdeutlichen: Vor allem in den 1990er und 2000er Jahren forderten Unternehmensverbände regelmäßig (und letztlich leider mit Erfolg), die Ladenöffnungszeiten zu flexibilisieren und auszuweiten. Eines ihrer Argumente: Längere Öffnungszeiten sollten zu höheren Umsätzen und zu mehr Arbeitsplätzen führen. Aus einer individuell-betrieblichen Sicht erschien dies schlüssig. Denn die Kundinnen und Kunden haben dann mehr Gelegenheiten, Geld auszugeben. Aus einer gesellschaftlich-allgemeinen Perspektive aber war und ist dies Unfug. Schließlich haben die Menschen nicht mehr Geld zum Ausgeben, nur weil die Läden länger öffnen. Und so kam es auch. Zwar stieg die Zahl der Arbeitsplätze im Einzelhandel nach der Flexibilisierung der Öffnungszeiten an. Das war aber flächengetrieben – und ging mit einer steigenden Zahl prekärer, schlecht bezahlter Jobs einher.
Wirtschaftsmärchen, die auf einer solchen Verwechslung von individuell-betrieblicher und gesellschaftlich-allgemeiner Ebene beruhen, gibt es einige. Der Klassiker ist wohl die Annahme, niedrigere Arbeitskosten (Löhne und „Lohnnebenkosten“) seien wirtschaftlich sinnvoll. Auch das mag aus der Sicht eines einzelnen Unternehmens so erscheinen, führen niedrigere Löhne doch zu einer günstigeren Wettbewerbsposition gegenüber konkurrierenden Unternehmen. Allerdings hemmt ein Wettbewerb über die Löhne die technologische Entwicklung: Denn nun wird auf Basis von möglichst niedrigen Lohnkosten um Marktanteile konkurriert und nicht mehr auf Grundlage von technologischen Innovationen, die die Produktionsabläufe effizienter gestalten oder Produkte verbessern. Und wenn alle Unternehmen ihre Löhne im Zuge eines Lohnwettbewerbs senken, sind die Vorteile in Form von Extragewinnen auch für alle dahin – gesunken ist aber die Kaufkraft der abhängig Beschäftigten in der entsprechenden Branche.
Auch die generelle Neigung der Kapital-nahen Akteurinnen und Akteure, Märkten und marktähnlichen Prozessen gegenüber staatlicher Regulierung und öffentlicher Organisation den Vorrang zu geben, resultiert unter anderem aus einer solchen individuell-betrieblichen Perspektive. Schließlich sind Staat und Politik Institutionen, die unternehmerisches Handeln nicht nur ermöglichen, sondern zugleich auch (und aus ihrer Sicht wohl: vor allem) einschränken oder gar unmöglich machen. Hieraus resultiert eine tiefe Skepsis gegenüber öffentlicher Verwaltung, staatlichen Unternehmensbeteiligungen, Wohlfahrtsstaatlichkeit und öffentlicher oder öffentlich regulierter Daseinsvorsorge – mit den entsprechenden Wirtschaftsmärchen: Beispielsweise das von der Wachstumsbremse Bürokratie, dem Wachstumsbooster Privatisierung oder der stets angeblich zu hohen Staatsquote.
Solche – letztlich neoliberalen – Wirtschaftsmärchen fallen nicht einfach vom Himmel, sondern sie hängen eng mit den Interessen einer bestimmten, privilegierten gesellschaftlichen Klasse zusammen. Und sie entfalten eine beträchtliche politische Wirkung zu deren Gunsten. Das sollte Grund genug sein, derlei Behauptungen wieder und wieder zu hinterfragen und zu widerlegen, wann immer sie in der politischen Debatte auftauchen. Und zwar auch und gerade dann, wenn sie dies im vermeintlich objektiven Gewand hehrer Wissenschaft tun.
Dies ist Voraussetzung für eine demokratische und soziale Gesellschaft.
Die Autoren haben jüngst ein Buch veröffentlicht, in dem sie 101 solcher „Wirtschaftsmärchen“ kritisch unter die Lupe nehmen: Wirtschaftsmärchen. Einhundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales. PapyRossa-Verlag 2023, 270 Seiten, 19,90 Euro.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.