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Trotz Beschwichtigungen und momentaner Ruhe ist die schwerste Finanzkrise seit den 1930er Jahren nicht ausgestanden. Es wurde allein der Zusammenbruch maßgeblicher Finanzakteure (Banken, Versicherungen, Fonds) und damit des Rückgrats des globalen Wirtschafts- und Finanzsystems über massive Interventionen der Regierungen und Zentralbanken abgewendet. Laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich haben dafür bis Juni 2009 allein Australien, Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Spanien, die Schweiz, Großbritannien und die USA etwa 5 Billionen US-Dollar direkt oder indirekt in die Finanzmärkte gepumpt.
Addiert um deren Konjunkturpakete in Höhe von ca. 1,45 Billionen US-Dollar und massiven Revisionen der Bilanzierungsregeln konnte so die umfassende, rapide Entwertung der Finanzvermögen ausgesetzt werden. Allerdings ist die Entwertung ökonomisch überfällig, um die zurückliegende Preisinflation der finanziellen Vermögenswerte zurückzuführen, die Spekulation zu begrenzen und das Verhältnis zwischen dem Finanzsektor und den Ebenen der Produktion und Wertschöpfung neu auszutarieren. Diese rapide Entwertung wurde aus ebenso rationalen sozialen und politischen Gründen verhindert, womit sich die Gesellschaften etwas Stabilität und „Zeit“ erkauft haben. Zeit, um radikale Reformen durchzusetzen, um die wirtschafts- und sozialpolitischen Kardinalfehler der Vergangenheit aufzuarbeiten. Jedoch sind bis dato die strukturellen Ursachen der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise der Neuzeit nicht ausgeräumt und durch die Stabilisierungsmaßnahmen sind neue Probleme entstanden, so dass das Risiko einer neuerlichen Krise hoch ist.
Schweigen im Wald
Letztlich wird das in der jüngsten Krise manifeste Scheitern der neoliberalen Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Gesellschaften nicht ernsthaft reflektiert. Vielmehr wird alles versucht, die Finanzierung eines de facto in weiten Teilen insolventen Finanzsystems zu sichern und die anfallenden Kosten geräuschlos zu sozialisieren. Die Realitätsverweigerung erklärt auch, warum über die seit den 70er Jahren in allen Industrienationen zu beobachtende Abkehr von der umlagefinanzierten, staatlich organisierten Alterssicherung und alternative Auf-/Ausbau der privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge nicht hinterfragt wird.[1] Dabei liefert diese tektonische Verschiebung der Finanzierung und Organisation der Alterssicherung zentrale Ansätze zur Erklärung der zukünftig wachsenden Altersarmut und Polarisierung der Einkommen wie dem Renditedruck bei der Kapitalanlage, der inflationären Preisentwicklung auf den Finanzmärkten und deren seit den 80er Jahren gestiegene systemische Instabilität. Selbst wer diese Schlussfolgerung nicht teilt, muss dennoch zur Kenntnis nehmen, dass die institutionellen Akteure (Banken, Lebensversicherer, Pensions-/Investmentfonds) im Feld der kapitalgedeckten Altersvorsorge die Preise auf den Geld- und Kapitalmärkten entscheidend bestimmen. Allein die Höhe des von ihnen verwalteten Kapitalstocks und die freiwilligen wie gesetzlichen Vorschriften erklären die starke Konzentration auf bestimmte Anlageobjekte und Märkte und die daraus resultierenden Marktmacht: Vor Ausbruch der jüngsten Finanzkrise verwalteten allein die Pensions-/Investmentfonds und (Lebens-)Versicherer in der OECD einen finanziellen Kapitalstock von ca. 28 Billionen US-Dollar, was dem „Wert“ nach ca. 60 Prozent aller gehandelten konventionellen Aktien/Anleihen entsprach. Insgesamt wird deren Anlagevolumen global mit rund 31 Billionen US-Dollar beziffert – in Relation dazu betrug das Weltsozialprodukt rund 55,5 Billionen US-Dollar. Dieser finanzielle Kapitalstock büßte auf dem Höhepunkt der aktuellen Krise rund 5,4 Billionen US-Dollar ein, wobei die Verluste im Schnitt bei 20 Prozent lagen. Natürlich fallen die Verluste national, nach Organisationsform und Anlageportfolio unterschiedlich aus, aber eine „Insel der Glückseligkeit“ gibt es lange nicht mehr. Die Anlageformen (konventionelle Aktien, Staats- und Unternehmensanleihen, Pfandbriefe und Immobilien) über deren Rendite die Alterseinkommen finanziert werden sollen, die daraus konstruierten Vorsorgeprodukte und das Verhalten der Finanzdienstleister sind homogen und die Bedingungen auf den Geld- und Kapitalmärkten nahezu identisch. Zwar verweisen besonders deutsche Finanzdienstleister und von ihnen bestellte „Experten“ auf signifikante Unterschiede der kapitalgedeckten Altersvorsorge zu den angelsächsischen Verhältnissen. Was im Hinblick auf die ökonomische Größe, die Organisationsformen und Regularien korrekt ist, wird aber den Grundmechanismen, den Bedingungen der finanziellen Globalisierung und der komplexen Vernetzung der Marktteilnehmer in keiner Weise gerecht.
Auf Sand gebaute, teure Luftschlösser
In der Finanzkrise platzte eben nicht nur eine aus Dummheit, Gier und dem Versagen von Bankern, Managern und Politikern gespeiste Spekulationsblase, vielmehr hat die inflationäre Preisentwicklung an den Geld- und Kapitalmärkten seit Ende der 80er Jahre einen rationalen Kern: Je stärker nämlich die Alterssicherung über die Kapitalanlage finanziert werden soll, desto stärker muss die Rendite der Kapitalanlage und die Spekulation ausfallen, da die reale Wertschöpfung nicht Schritt hält mit dem Wachstum der verbrieften Ansprüche auf eben diese Wertschöpfung. Eine simple ökonomische Banalität, die sträflich ignoriert wurde und in der dominierenden wirtschaftswissenschaftlichen Funktionsbeschreibung der Finanzmärkte gar nicht vorkommt. Es wird hier unterstellt, dass (a) die Finanzmärkte effizient und endogen stabil sind und deshalb (b) die zum Zweck der Alterssicherung angelegten Gelder problemlos in reale Investitionen transformiert werden, woraus sich (c) ein hohes Wirtschaftswachstum einstellen würde aus dem (d) die verbrieften Ansprüche bedient werden könnten. Wie noch in jeder Finanzkrise hat sich diese Interpretation praktisch als falsch und gefährlich erwiesen, gleichfalls theoretisch unhaltbar ist jenseits akuter Finanzkrisen die darüber konstruierte These von der generellen Überlegenheit und hohen Rentabilität der privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge.[2] Letztlich ist die Idee von einer hohen, dauerhaft stabilen Finanzierung der Alterseinkommen über den Finanzmarkt für die Mehrheit der Beschäftigten stets auf Sand gebaut. Was im Einzelfall oder für eine kleine Gruppe unter besonderen Bedingungen zwar gelingen mag, ist in der bisherigen Geschichte für die Mehrheit unmöglich gewesen.
Deutschland: Trotz Differenzen identische Problematik
Bestimmt also das Glück der Performance der Finanzdienstleister zunehmend über die Höhe des Alterseinkommens, ist die Funktionalität des gesamten Alterssicherungssystems lange vor jeder Finanzkrise und jenseits einer totalen Umstellung auf das kapitalgedeckte Verfahren nachhaltig gestört. Seit den 70er Jahren hat sich über unzählige Reformen im Kernbereich der sozialen Sicherung eine Situation eingestellt, in der das modifizierte Regime der Finanzierung und Organisation der Alterssicherung permanent steigende Finanzressourcen beansprucht und sich überdies gravierende negative wirtschafts- und sozialpolitische Effekte einstellen. Politik und Gesellschaft stehen überall vor einem Dilemma: Während das stabile, kostengünstige und relativ gerechte Verfahren (umlagefinanzierte Alterssicherung) in der Funktionalität politisch zerstört und faktisch auf ein System der Grundsicherung gestutzt wird, ist ein strukturell teures, ineffizientes und riskantes Verfahren aus ebenso politischen Gründen etabliert worden.
In Deutschland hat sich diese neoliberale (Teil-)Privatisierung der Alterssicherung mit der Einführung der „Riester-Rente“ erst relativ spät dynamisiert, die Ergebnisse sind bzw. werden in Zukunft aber ähnlich ausfallen: Erstens wird trotz aller Subventionen für die privaten Altersvorsorge (Riester-/Rürup Rente, Entgeltumwandlung, Steuerersparnis etc.) für viele Personen bis weit in die „Mittelschicht“ gar nicht oder nicht hinreichend möglich sein und sich aufgrund der Kostenstruktur auch nicht rechnen. Einzig Finanzdienstleister profitieren klar von den Subventionen, die u.a. überproportional von den Beschäftigten und Steuerzahler über Abgaben, Steuern und den erzwungenen Verzicht auf soziale Leistungen finanziert werden, die ihrerseits nur eine gesetzliche Rente auf oder am Niveau der Grundsicherung erhalten werden. Zweitens werden Ressourcen mit unterschiedlichen Verteilungswirkungen mobilisiert, um stetig die Folgen des latenten Finanzmarktrisikos und vor allem von akuten Finanzkrisen aufzufangen. Folglich lässt sich die Stabilisierung des deutschen Finanzmarktes eben auch als Subvention der unterschiedlichen Zweige der kapitalgedeckten Altersvorsorge verstehen, was u.a. die „Rettung“ der Hypo-Real-Estate (HRE) klar belegt. Von dieser Aktion profitierten alle namhaften deutschen Versicherer, Pensionskassen und Versorgungswerke, denn sie waren stark auf dem deutschen Pfandbriefmarkt (Gesamtvolumen vor der Krise 842 Mrd. Euro) engagiert. Sie hielten davon rund 4/5 (ca. 673,6 Mrd. Euro) als „Pfandbriefe“ in ihren Bilanzen, so dass der mögliche Kollaps des Pfandbriefmarktes bzw. die Entwertung der Finanzaktiva den Zahlungsausfall für weite Teile der hierüber finanzierten Altersvorsorge bedeutet hätte. Parallel werden die Gelder der kapitalgedeckten Altersvorsorge in Deutschland stark in Anleihen von Unternehmen, Banken und Staaten mit hoher Bonität (AAA) geparkt. Diese Anlageobjekte galten landläufig als „bombensicher“, aber die jüngste Finanzkrise zeigte erneut schlagartig, dass die hohe Bonität oft nur durch Bilanztricks erreicht wurde und in der systemischen Krise eben kein Anlageobjekt von der Entwertung verschont bleibt. Der „Rettungsschirm für die deutschen Banken“ wie alle ähnlichen Konstruktionen und die noch anstehenden Interventionen der Regierungen und Zentralbanken haben die flächendeckende Insolvenz der Lebensversicherer, Pensionsfonds und andere Formen der kapitalgedeckten Altersvorsorge verhindert. Diese Stützung ist nicht zum Nulltarif zu haben, müsste seriöser Weise dem Ansatz als „Kosten“ zugeordnet werden und sie ist nicht unendlich auszudehnen.
Déjà-vu: Nach der Krise ist vor der Krise
Werden aus den skizzierten Entwicklung keine hinreichenden Konsequenzen gezogen, wird nach der akuten Finanzkrise erstens der Druck nach massiver finanzieller Intervention zur Garantie der seither angelaufenen Verbindlichkeiten gegenüber den Pensionären steigen. Bei Insolvenz eines Finanzdienstleisters wird dann – wie auch bisher – über die staatlichen sowie halbstaatlichen Sicherungsinstrumente und neue Auffanglösungen „einfach“ das Kollektiv der Steuerzahler belastet und die Kosten weiter sozialisiert. Zweitens wird sich die Privatisierung der Alterssicherung dynamisieren, da nur so neue Beitragszahler mobilisiert und mit ihnen frisches Kapital in das heute zunehmend dem „Kettenbriefschema“ ähnelnde kapitalgedeckte System integriert werden können. Drittens werden die Strategien der Banken, Versicherer und Pensions-/Investmentfonds aggressiver und riskanter ausfallen. Die nach dem Crash wortreich beklagte aberwitzige Renditejagd auf den Finanzmärkten und deren Auswüchse (Stichwort: Shareholder Value) wird unweigerlich steigen. Man braucht keine Phantasie, um Eckpunkte der Entwicklung zu erkennen: Radikale Deregulierung der Geld- und Kapitalmärkte und neue, strukturierte Anlageprodukte in rigider Kombination mit massiven Druck auf die Reallöhne, Reduktion aller Sozialabgaben und eine rigorose Arbeitsverdichtung.
Soll also eine systemische Ursache zukünftiger Finanzkrisen zumindest minimiert werden, steht ein radikaler Paradigmen- und Politikwechsel an, der jedoch auf breiten Widerstand stoßen wird. Widerstände aus der Finanzbranche, Wirtschaft und Politik, aber eben auch aus den Gewerkschaften, von Betriebsräten und unzähligen Beschäftigten, die unterschiedlich in das System der kapitalgedeckten Altersvorsorge integriert sind und von dessen Subvention kurzfristig profitieren. So verlockend die in Aussicht gestellten Renditen der kapitalgedeckten Vorsorge für diese Gruppen sind, für die Mehrheit der Beschäftigten und die Gesellschaft insgesamt bleibt dies mittel- und langfristig eine viel zu teure und hoch riskante Illusion. Schon im 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts sind weniger ambitionierte Versuche grandios gescheitert. Eine Antwort darauf war der Aus- und Aufbau der umlagefinanzierten, staatlich organisierten Systeme, die auf Dauer transparenter, kostengünstiger und makroökonomisch weit stabiler sind. Geändert hat sich im 21. Jahrhundert lediglich, dass die kapitalgedeckte Alterssicherung nun selber zum Risiko für die sozioökonomische Stabilität geworden ist. Der notwendige Kurswechsel mag utopisch klingen. Weitaus verrückter ist aber anzunehmen, der finanzielle Kapitalstock der Alterssicherung würde nicht langfristig inflationär oder in den künftigen Finanzkrisen in weiten Teilen schlagartig entwertet werden.
[1] vgl. Christen, Christian (2008): Marktgesteuerte Alterssicherung. Von der Entwicklung zur Implementierung eines neoliberalen Reformprojekts. In: Butterwegge/Lösch/Ptak: Neoliberalismus – Analysen und Alternativen, VS Verlag. Wiesbaden
[2] vgl. Christen, Christian (2010): Finanzmarktbasierte Alterssicherung: Sozialpolitische Diskursverschiebungen und makroökonomische Implikationen. Bremen (unveröffentl. Dissertation)
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.